Buchkritik: „Richard Wagner – sämtliche Briefe“

Ihr ganz und gariger Richard Wagner

Einmal unterschreibt er mit „RWagner (Canzelist)“. Kein Wunder: Wir befinden uns im Januar des Jahres 1875, und der Briefeschreiber hat bereits (mindestens, denn so genau weiß man das ja bei Wagner nie) 46 Briefe in die Welt geschickt, in denen es weniger um die Kunst als um die Kunst-Organisation geht.

Nicht weniger als knapp 400 Schreiben konnte Martin Dürrer, der Herausgeber des 27. Bandes „sämtlicher“ Briefe Richard Wagners, in der neuen, wie üblich mit wertvollen „Nebentexten“ glänzend kommentierten und mit mehreren Registern (auch Wagners Hunde haben ihre Auftritte) erschließbaren Sammlung diesmal vereinigen, womit das Jahr 1874 erst einmal übersprungen wurde. Immerhin 372 Texte sind in corpore edierbar gewesen, wobei nicht weniger als 98 Nummern hier erstmals zusammen mit drei Zeichnungen des Nicht-Zeichners im Druck erscheinen und weitere 23 zum ersten Mal vollständig präsentiert werden. Es versteht sich, dass auch die verschollenen Briefe in den Kommentaren so genau kommentiert werden, dass der Verlust gelegentlich verschmerzbar ist. 24 dieser Briefe und Brieflein, langen Schreiben und kurzen Telegramme wurden zudem noch nicht im Wagner-Briefe-Verzeichnis gelistet. Mit anderen Worten: Wir haben es wieder mit einem Wagner zu tun, in dessen tägliche Arbeit wir, zusätzlich zu den Einträgen im Tagebuch Cosima Wagners, so detailliert hineinschauen können, dass die Kenntnis dessen, wer Wagner war, durch den neuen Band zwar nicht neu justiert, aber auf eine quellenmäßig erweiterte Basis gestellt werden kann – völlig abgesehen davon, dass Wagner selbst dann, wenn es um die Mühen der Ebenen, das Kleinklein der täglichen Sekretärsarbeiten ging, ein meist amüsanter und bärbeißiger, literarisch gebildeter und herzhaft persönlicher Belletrist war.

Ging es im letzten publizierten Briefband, also dem Jahr 1873, bereits um die Finanzen des gerade gegründeten Festspielunternehmens, so sind sie auch 1875 ein Dauerthema, denn man kämpft in Bayreuth immer noch um jene Gelder, die die Vorproben und schließlich die Festspiele des Folgejahres möglich machen sollen; nichts ist in trockenen Tüchern. Nicht zuletzt mancher der vielen, zum größten Teil bis dato unveröffentlichten Briefe an den Freund und Bankier Friedrich Feustel sprechen von nichts Anderem. Ein zweites, von heute aus gesehen erstaunliches Problem kommt hinzu. Noch kurz vor der Beginn der Vorproben, die im Sommer beginnen, steht noch längst nicht fest, wer die meisten kleinen und manch große Rolle singen wird; die Entscheidung für den eher gut aussehenden als stimmstarken Georg Unger, der 1876 als Siegfried auf der Bühne stehen wird, gerät kompliziert, gewunden und qualvoll, ein sicherer Sänger wie Emil Scaria fällt schließlich aus, weil er aus finanzieller Verzweiflung auf einem für Wagner maßlosen Honorar besteht. „Sie können sich denken, wie schwierig mir alles von Meinem, allerdings gut gelegenen, aber doch sehr verbindungslosen Mittelpunkte aus, fällt“, schreibt er am 4. Januar an August Wilhelmj, der 1876 als Konzertmeister am Pult der ersten Geigen sitzen wird; beim Vater bestellt er den Wein, den er braucht, um die Sorgen herunterzuschlucken, die ihm das schreckliche Agentenpaar Voltz & Batz in diesem Jahr in extremer Weise bereitet. Hat Wagner nicht schon mit dem Ärger genug zu tun, den ihm die zweifelhaften Interessenvertreter bereiten, kommt im selben Jahr eine weitere juristische Auseinandersetzung auf ihn zu: etliche Briefe – es sind nicht die charmantesten – drehen sich um die Rechtewahrnehmung an der sog. „Pariser“ Fassung des Tannhäuser (sie ist eine Wiener Version), um die er sich bis zum Silvestertag mit dem Verleger Adolph Fürstner regelrecht – und zeitaufwendig – streiten muss. Dafür feiert er mit seinen Wiener und Budapester Engagements, mit Konzerten an der Donau und den beiden Musteraufführungen von Tannhäuser und Lohengrin, Triumphe, auf denen er – das ist der Zweck – Gelder für das Festspielunternehmen einnimmt; der gute Bekannte und Arzt, Josef Standhartner, empfängt einige freundschaftliche Briefe. „Wir reisen heute und melden uns morgen als Stadtkranke“, so geht ein (bislang unpubliziertes) Telegramm in die „Standhartnerei“: als Beitrag zum Thema „Wagner als Freund“. Ihm kann ein vergleichsweise langer, warmherziger Brief an die Wiener Freunde vom 20. März an die Seite gestellt werden, und auch er war bislang unveröffentlicht. Die künstlerischen Unternehmen werden von einer Unzahl von Briefen und Telegrammen vorbereitet; Drucke (von Programmzetteln und den üblichen Wagnerschen Erläuterungstexten), Bestellungen (von Instrumenten, wobei die Tuben besondere Probleme bereiten) und Engagements (der Sänger wie Amalie Materna) geraten in den intensiven Blick, Theorie und Praxis verschränken sich in jenen Momenten, wo das Kunstwerk realisiert und erklärt werden soll. Im Briefwerk wird lebendig, was in den Musikgeschichten ansonsten nur Name und Zahl ist.

Gleichzeitig bewirbt sich Wagner um Orchestermusiker für die Festspiele, nicht allein Bratschisten scheinen Mangelware zu sein; auch hier ist er sich nicht zu schade, sich persönlich um die Besetzungen der einzelnen Instrumentengruppen zu kümmern (was dort ärgerlich ist, wo die angefragten Musiker auf einem normalen Honorar bestehen). „Schöne“ Briefe wie noch in den 50er Jahren werden 1875 so gut wie nicht geschrieben – selten genug, dass Wagner sich in einem Schreiben an Liszt wendet und eine Dankbarkeit bekundet, die so poetisch wie ehrlich klingt: „Dafür werde ich dich stets mehr lieben, als du mich lieben kannst…“ Und auch dies ist einer der Funde des Bandes, denn just dieser Brief aus einer Zeit, in der keine Briefe mehr zwischen Wagner und seinem Schwiegervater hin- und hergingen, war bislang nur in einer ungarischen Ausgabe des Jahres 1916, aber nicht im Wagner-Liszt-Briefwechsel ediert worden. Der Band enthält auch, dank des ausgiebigen Kommentars, den kleinen, aber kompletten Briefwechsel zwischen Wagner und Brahms, der um die Rückgabe der Pariser Tannhäuser-Blätter herum entsteht, während ein langer, antisemitisch akzentuierter Brief („trotz jüdischer Finanz“) an Bismarck, eine mögliche Finanzierung der Festspiele durch den Kaiser anmahnend, tatsächlich bislang ungedruckt war; dass die populäre Formel, dass von Wagner „alles bekannt“ sei, eine Binsenweisheit ist, kann schon durch die Publikation eines solchen Schreibens widerlegt werden. Dass Wagner schwere Auseinandersetzungen mit dem Dirigenten Hans Richter hatte, in denen es um eine Untreuevermutung und Cosima Wagners öffentlich kritisierte Rolle als Künstlerfeindin ging, war zwar bislang bekannt, aber durch die breiten Zitate aus zeitgenössischen Zeitungen und aus Hans Richters Tagebüchern erhalten die Briefe an Richter einen Sitz im Leben, wie sie sie trotz Manfred Egers Richter-Biographie noch nicht besaßen. Den wütenden Erpressungsbrief, in dem Wagner ankündigt, den saumseligen Musiker bei dessen Intendanten so schlecht zu machen, dass er mutmaßlich entlassen worden wäre, hat Richter mit einem diplomatischen Brief beantwortet: auch dies ist ein unschätzbarer Mehrwert dieser Brief- und Kommentarausgabe.

Das Thema dieses Jahres ist, wenn es sich nicht gerade in seltenen Glücksmomenten, also diversen Stoffbestellungen, äußert, der Ärger; nicht zuletzt die Briefe an den kgl. Hofrat Düfflipp, von denen zwei noch nicht bekannt waren, zeugen von der Frustration, die Wagner befallen haben muss, als er erfuhr, dass sein größter Mäzen durchaus nicht gewillt war, in Sachen Patronatschein den Festspielen wirklich entgegenzukommen. Der Kommentar macht allerdings auch klar, dass dahinter wohl weniger der königliche Ärger über den einstigen Betrug als die Tatsache stand, dass er selbst kaum das Geld für seine Schlossbauten zusammenbekam. Dass Wagner München hasste und den Intendanten Karl von Perfall als Grund allen Übels ansah, wurde auch in diesem Jahr ersichtlich, als Wagner darauf hoffte, mehr als acht Münchner Hofmusiker zu bekommen. Wesentlich besser waren, obwohl Wagner sich zunächst weigerte, den Tristan für Wien freizugeben, die finanziellen Verhandlungen mit dem Direktor der Wiener Hofoper, Franz Jauner, die sich, auch als Beitrag zur Geschichte der Tantiemen, in vielen Briefen äußerten. Zu den Schätzen des neuen Bandes zählt zweifellos der ungewöhnlich lange Brief vom 28. Juni, der das letzte Mal 1950 an relativ „entlegener Stelle“ gedruckt wurde: wie so viele Texte dieses Buchs, in denen es um den Bau eines Gasthofs für die zukünftigen Festspielbesucher, um die Normierung von Harfenstimmen, das Englischhorn, familiäre Auseinandersetzungen mit den Brockhausens, die Arbeit mit den unverschämterweise in den Urlaub fahrenden Bühnenbildnern Brückner, die Wahnfried-Büste des Königs, die Tannhäuser-Choreographie, die Korrektur der Siegfried-Partitur, den in Arbeit befindlichen Klavierauszugsdruck der Götterdämmerung, Besetzungen, wieder Besetzungen und noch einmal Besetzungen – aber kaum um die Kunst selbst geht. Denn Wagner schrieb in diesem Jahr lediglich ein knapp fünf Minuten dauerndes Albumblatt für die Verlegerin Betty Schott (dass sie in diesem Jahr stirbt, macht Wagner zusätzliche Sorgen) – und kein Orchesterstück „von dem Umfange einer Ouvertüre“, das Wagner für den Verlag Peters komponieren wollte.

Und auch dieser kleine, aber charakteristische Brief, der das kuriose Angebot an den Verlag enthält, war bislang nur durch einen Auszug in einem Auktionskatalog „bekannt“.

Frank Piontek, 4. Juni 2023


Richard Wagner: Sämtliche Briefe.

Band 27. Briefe des Jahres 1875.

728 Seiten, 6 Abbildungen.

Hrg. von Martin Dürrer. Breitkopf & Härtel, 2021. 74 Euro.