Halle: „Der geduldige Sokrates“, Georg Philipp Telemann

Gehobene Unterhaltung mit Moral

Die von dem Gelehrten, Philosophen, Kunst- und Musikgelehrten, Buchhändler und Bach-Schüler Lorenz Christoph Mizler gegründete „Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften“ veröffentlichte nach Bachs Tod 1751 eine Bewertungsliste der deutschen Komponisten. Nach dieser Societät, in der Händel, Telemann und Bach Mitglieder waren, gebührte dem „Königlich Polnischen und Kurfürstlich Sächsischen Kapellmeister“ Hasse der erste, Telemann der zweite und Händel der dritte Platz. (Der provinzielle J. S. Bach kam nur auf Platz sieben!) Heute zeigen die Charts die Beliebtheit dieser Komponisten in genau umgekehrter Reihenfolge an. Während die Händelrenaissance immer neue Blüten treibt, sind Hasses Opern absolute Raritäten geworden und die von Telemann wurden erst seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum wieder häufiger zur Aufführung gebracht. Immerhin gelangt(e) der „Geduldige Sokrates“ an so prominenten Plätzen wie Staatsoper Berlin (Koproduktion mit den Innsbrucker Festwochen Wochen für Alte Musik), Münchner Gärtnerplatztheater, Studiobühne Zürich und nun Halle zur Aufführung. Gerade in Halle kann man es als Kontrast zu den Seria-Opern von Händel sehen, wenn ausgerechnet zum 20-jährigen Jubiläum des Händel Festspielorchesters der künstlerische Direktor der Oper Halle Axel Köhler seine Inszenierung vom Gärtnerplatztheater München (2011) an seinem eigenen Hause neu herausbringt.

1721 wurde Telemanns Sokrates am Gänsemarkttheater der Freien und Hansestadt Hamburg uraufgeführt, an dem Theater, an welchem Telemann später selber Direktor werden sollte. Dort knüpfte er mit seinem Werk an die Tradition von Keiser, Mattheson, Graupner und auch Händel an, die Jahre zuvor an diesem ersten bürgerlich städtischen Theater in Deutschland ihre Werke aufführten. Das Hamburger Publikum wollte sich in diesem riesigen, 2000 Zuschauer fassenden Haus amüsieren, der Magistrat der Hansestadtwollte die Institution aber auch als Vermittlungsstätte von Moral und staatstragenden Ideen sehen. Schon aus diesem Grunde mussten die Opern in deutscher Sprache (zumindest mit deutschen Rezitativen) gegeben werden, Arien konnten hingegen der vorherrschenden Mode wegen auf Italienisch gesungen werden. Die italienischen Arien und Duette des geduldigen Sokrates hat der Librettist Johann Ulrich von König unmittelbar aus der 40 Jahre älteren Textvorlage „La pazienza di Socrate con due moglie“ von Nicolò Minato für die Oper von Antonio Draghi übernommen, 1680 in Prag uraufgeführt. Die Morallehre der vorliegenden Oper ist einfach: man soll sich in den Dienst der Obrigkeit stellen, sich gebührlich benehmen, besser nur eine einzige Frau haben und sich klar zu ihr bekennen.

Anke Berndt (Xanthippe), Ki-Hyun Park (Sokrates), Melanie Hirsch (Amitta)

Der Unterhaltungswert des Werks, das sich „Musikalisches Lustspiel“ nennt, liegt in dem parodistischen Ulk, der da auf die Bühne kommt. Auf Beschluss des Athener Magistrats hat wegen der Bevölkerungsverluste aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Sparta verordnet, dass jeder Athener (auch ältere wie Sokrates) zwei Frauen nehmen müsse, damit wieder mehr Nachwuchs entstehe. So hatte der arme Philosoph neben seiner Xanthippe noch eine zweite Frau, die Amitta, heiraten müssen. Da diese beiden sich dauernd in die Haare gerieten und Xanthippe bekanntlich auch ihren Mann psychisch misshandelte (sie zerriss ihm sogar seine Bücher), wurde dem in dieser Situation wirklich viel Geduld abverlangt. Die Oper enthält noch ein weiteres Dreiecksverhältnis, da der Prinz Melito sich nicht zwischen den beiden Prinzessinnen Rodisette und Edronica entscheiden kann, denen ihrerseits auch noch von dem Prinzen Antippo der Hof gemacht wird; letzterer würde gern mindestens eine von den beiden haben. Dann ist da noch der Fürst Nicia, der die Staatsgewalt vertritt und sich gerne vom herbei zitierten Sokrates beraten lässt, wodurch die Verbindung der beiden Personengruppen entsteht. Vier Schüler von Sokrates komplettieren das recht umfangreiche Personal der Oper. Die Geschichte wogt ohne wirkliche Handlung und echte Verwicklungen hin und her. Es versteht sich, dass nach etlichen heiteren und tragikomischen Komplizierungen jeder ein Weibchen hat – und zum Glück für Sokrates hat dabei die Xanthippe, die immer am lautesten gekrischen hatte, die Scheidung eingereicht. Großer Jubel- und Moralgesang am Ende.

Christopher O’Connor (Pitho), Andreas Guhlmann (Alcibiades), Kristian Giesecke (Xenophon), Ki-Hyun Park (Socrates), Ásgeir Páll Ágústsson (Fürst Nicia), Marie Friederike Schöder (Edronica), Michael Smallwood (Melito), Ines Lex (Rodisette)

Vertiefender Psychologie bedarf es bei diesem Werk nicht. Der Regisseur belämmert sein Publikum auch nicht mit zu vielen Moralpredigten, sondern unterhält es mit einer situativ geprägten, bunten, lebhaften Inszenierung im Stil einer Vorstadtkomödie mit feinem Humor und auch derberen Einfällen. Frank Schlößmann hat das Bühnenbild aus Schäfchenwolken vor hellblauem Himmel und einer Bücherregalwand kombiniert, die Sokrates‘ Arbeitszimmer darstellt. Das Ganze ist drehbar, so dass dahinter weitere Spielflächen erschlossen werden. Natürlich ist in der Bücherwand auch eine Hausbar so gut „versteckt“, dass auch Sokrates‘ Schüler sich dort bedienen, während sie statt Hausaufgaben zu machen, sich auf dem Boden fläzen und Würfelspiele betreiben. Dieses Quartett von Sokrates‘ Jüngern besteht aus so berühmten Namen wie Plato, Xenophon, Alkibiades und dem etwas dämlichen Pitho, die zusammen als eine Riege von Hanswursten auftreten. Die zeitliche Verortung des Stücks reicht in den schönen Kostümen von Katharina Weißenborn von antikisierenden Gewändern im Haus des Sokrates über das barocke Prachtkostüm des Fürsten Nicia immer in der Pose eines absolutistischen "Herrschers" bis zu den langen Goldglanzkleidern der Prinzessinnen und den clownesken Verkleidungen der Schüler. Wer sich an einem gut gemachten Schauspiel ohne tieferen Sinn gehoben ergötzen will, ist man bei dieser gelungenen und in sich geschlossenen Produktion gut aufgehoben.

Marie Friederike Schöder (Edronica), Michael Smallwood (Melito), Ines Lex (Rodisette), Ásgeir Páll Ágústsson (Fürst Nicia)

Dazu kommt dann noch die anregend wirkende Telemann-Musik. Im etwas hochgefahrenen Graben dirigierte der inzwischen sehr gefragte Barock-Spezialist Wolfgang Katschner (Berliner Lautten Compagney) das Händelfestspielorchester Halle, das sich aus der Staatskapelle rekrutiert und mit Spezialisten historischer Musikinstrumente komplettiert wurde. Die virtuos durchaus anspruchsvolle Musik wurde konzentriert, präzise und inspiriert umgesetzt. Von etlichen Soli durchsetzt klang die Musik süffig und durchaus farbenreich. Insgesamt ist sie mit meistens als accompagnati angelegten Rezitativen und vielen Ensembles insgesamt lebendiger als eine lange Reihe von da-capo-Arien, wozu auch parodistische Elemente der Begleitung und die beiden Chorszenen beitrugen. Der Chor war der Ausgangsthematik des Stückes und dem Privatleben des Philosophen entsprechend mit doppelt so vielen Damen wie Herren besetzt.

Anke Berndt (Xantippe), Ki-Hyun Park (Socrates), Melanie Hirsch (Amitta)

Die solistische Besetzung konnte sich auch sehen und hören lassen. In der Titelrolle gab die koreanische „Allzweckwaffe“ des Halleschen Ensembles, Ki-hyun Park mit voluminös strömendem Bass und komödiantischem Spiel die Pantalone-Figur des Socrates. Unter seinen Schülern, die als tunichtgute Sprösslinge reicher Familien aufgefasst werden konnten, tat sich lediglich Christopher O’Connor als Pitho mit sauber geführtem Tenor solistisch hervor. Die anderen drei (Andreas Guhlmann als Alcibiades, Kristian Giesecke als Xenophon und Till Voß als Plato) sangen ihre schauspielerisch burlesken Einsätze im Ensemble. Gleich zwei Paare guter Sopranistinnen werden im geduldigen Sokrates benötigt, einmal in den komischen Rollen von Xantippe und Amitta; dann in den lyrischen Rollen der Prinzessinnen Rodisette und Edronica. In beiden Fällen hoben sich die Sängerinnen durch ein jeweils etwas helleres und dunkleres Timbre voneinander ab. Das komische Paar kam naturgemäß erst einmal spitz zankend und kreischend auf die Bühne. Die gingen sich sehr naturalistisch an die Wolle. Die Xantippe der Anke Berndt behielt einen etwas spitzen Nebenton in ihrem kräftigen Sopran bei. Als Amitta kehrte das frühere Ensemble-Mitglied Melanie Hirsch nach Halle zurück; ihren etwas dunkleren Sopran brachte sie virtuos, beweglich, frisch und klar zur Geltung.

Die beiden Prinzessinnen ließen sich zur Unterstützung beim Buhlen um den unentschlossenen Prinzen Melito von darstellenden Künstlern konterfeien, einem Maler und einem Bildhauer. Dabei schummelte die Rodisette etwas mit ihrer Oberweite. Um die Spannung aufrechtzuerhalten wurden die beiden „Kunstwerke“ den Zuschauern erst zum Schluss ersichtlich gemacht: da hatte dann Edronica mit ihrem Oberkörper noch mehr übertrieben. Stimmlich konnten beide mit klaren, schlanken Höhen und beweglichen Koloraturen aufwarten; mit der leichten Eindunkelung wirkte Frau Schröder etwas erotischer. Den unentschlossenen Liebhaber beider, den Prinzen Melito sang der australische Tenor Michael Smallwood mit beweglichem, sauber geführtem Tenor von schöner Leuchtkraft und spielte ihn überzeugend. Der zuerst verschmähten Liebhaber, der Prinz Antippo war als Hosenrolle mit der Altistin Julia Böhme (Es gibt zwei Sängerinnen dieses Namens; diese ist die Richtige: http://juliaboehme.de/ ) idealtypisch besetzt. Mit knabenhaft schlankem Körper und ebenso schlankem und klarem Alt bietet sie sich geradezu für Hosenrollen in Barockopern an. Ásgeir Páll Ágústsson gab den Fürsten Nicia schön komödiantisch aufgedreht mit wohltönendem Bass. — Aus Anlass der Befreiung des schönen Jünglings aus dem Schoße der Proserpina wurde als kleine Einlage das Adonisfest aufgeführt, zu welchem selbiger in Kurzeinlagen von Jonathan dos Santos getanzt wurde. Paul Eisenmann mit Knabensopran piekte zum Schluss als Cupido die Szene auf, damit nur ja keiner unverliebt bleibe.

Teile des Publikums waren so gut unterhalten, dass sie schon während der laufenden Vorführung wie in einem Vorstadtkino dauernd ihre Kommentare abgeben zu müssen glaubten. Ganz ausverkauft war die Premiere nicht; der Beifall war sehr herzlich. Die nächsten Aufführungen finden am 30. Januar und am 22. März statt. Bei harmonia mundi soll dieses Jahr eine CD-Aufnahme der Oper mit René Jacobs erscheinen.

Manfred Langer, 29.01.2013
Fotos: Gert Kiermeyer

Die Besprechungen aller Opern de Gemeinschaftsproduktion des Rings Halle/Ludwigshafen befinden sich auf unserer Seite Ludwigshafen