NI vom 9. bis 14. November 2021
Statt „Parsifal“-Bett nun „Ring“-Klavier, oder:
Stefan Herheims Unterwäsche-Party im Koffer-Nirwana
Nun fand sie trotz aller Corona-Unsicherheit und -Verschiebungen doch endlich statt, die lang und mit Spannung erwartete zyklische Aufführung des neuen Berliner (DOB) „Ring des Nibelungen“ durch den norwegischen Regisseur Stefan Herheim, nachdem man noch 2019 den Vorabend, „Das Rheingold“, durchaus erfolgreich auf dem Parkdeck über die Bühne hatte gehen lassen. Damit ist nun die fast eine Ewigkeit gespielte und richtungweisende „Tunnel“-Produktion des „Ring“ von Götz Friedrich, die schon Kultstatus erreicht und verfestigt hatte, endgültig Vergangenheit – eine glorreiche für die DOB! Große Fußstapfen also, in die sich der Regisseur der neuen Produktion hineinwagen musste. Aber von Stefan Herheim, der sich mit dem Dramaturgen Alexander Meier-Dörzenbach auch als Wagner-Regisseur mit seinem beeindruckenden „Parsifal“ 2008 in Bayreuth und einem phantasievollen „Tannhäuser“-Potpourri in Oslo 2010 einen Namen machte, schienen diese nicht zu groß. Jörg Königsdorf kam an der Bismarck-Straße als weiterer Dramaturg hinzu. Was in dieser Neuproduktion zu sehen war, lässt allerdings keine große Hoffnung auf einen neuen Berliner „Ring“-Weitwurf von Friedrichschen Dimensionen zu.
Im „Rheingold“ sehen wir im Bühnenbild von Herheim und Silke Bauer und mit der Lichtregie von Ulrich Niepel eine Gruppe von Flüchtlingen mit ihren alten Koffern. Mann assoziiert mit den Koffern die Wagnersche Darstellung aller „nur denkbaren Realitäten und Wirklichkeiten … in gedrängter, deutlicher plastischer Gestaltung“. So hat also jedes Individuum bei Herheim einen Koffer. Es sind über 30 Statisten, die später immer wieder auch andere Rollen einnehmen, aber allesamt von Wagner nicht vorgesehen waren. In der Mitte der Bühne steht ein Konzertflügel, also ein Klavier, an dem der Flüchtlingsstrom zunächst anhält. Die, so möchte man in der Tat glauben, vor ihrer Vorgeschichte Flüchtenden, aber allein schon aufgrund der Optik schnell mit den vor dem Nazi-Regime flüchtenden Juden assoziiert werden können, halten hier inne und beginnen, so der Wunsch Herheims, nun ein Spiel, ein Spiel um den „Ring des Nibelungen“, in das auch die Protagonisten hineingezogen werden. Der Konzertflügel wird dabei als „musikalisch-optisches Tor zur Phantasie“ gesehen und ist alltägliches Instrument des Opernalltags zugleich. Allein, er wird nicht nur die Handlung des Vorabends der Tetralogie an sich ziehen sondern auch die der anderen drei Abende. Und da haben wir dann eine direkte Parallele zu dem Bett, das Herheim in seinem sehr beeindruckenden „Parsifal“ ins Zentrum der Bayreuther Bühne stellte. Aus ihm stiegen immer wieder Figuren empor oder sie verschwanden darin, genau wie nun immer wieder in diesem Klavier mit seinem perfekt mechanisch gesteuerten Deckel. Nur findet das in seinem Berliner „Ring“ alles viel spektakulärer und ein offensichtlich auf optische Wirkung und Sensation ausgerichtetes Unterfangen statt. Das in vier langen Gesprächen mit dem Dramaturgen Königsdorf in den Programmheften dargestellte Regiekonzept lässt sich da keineswegs klar erkennen oder gar nachvollziehen.
Der Klavier-Gedanke ist aber durchaus nicht uninteressant. Meier-Dörzenbach bezieht sich auf Wagners Formulierung des mystischen Bayreuther Grabens als des „technischen Herdes der Musik“ und seine Verkleinerung in Form des Klaviers, aus dem alles entsteht. Hier wird ein Stück zuerst gespielt, damit lernt der Sänger. Bekanntermaßen fand an ihm auch die Premiere des 1. Aufzugs der „Walküre“ 1856 im Genfer Hotel Baur au Lac statt, wo Wagner am Flügel saß, Siegmund und Hunding sang und Emilie Heim die Sieglinde. So sieht das Regieteam das Klavier als das Instrument, „aus dem alles tönt, Welten entstehen und die Kunst für ein Publikum herausgespielt wird …“. Möglicherweise ein Baustein für ein Regiekonzept, aber nach dem, was hier zu sehen war, nicht unbedingt ein tragfähiger, im wahrsten Sinne des Wortes dieser Produktion.
„Das Rheingold“ wirkt szenisch und dramaturgisch flach, ja bisweilen oberflächlich wie eine Kasperliade, gerade in der Figur des Alberich. In dieser Überziehung des von Herheim postulierten Spielcharakters, der sich in der Musik nicht offenbart oder darstellt, verliert die Inszenierung schnell an Glaubwürdigkeit und innerer Spannung. Szene und Musik fallen auseinander, und die Konzentration auf die Musik wird durch den Aktivismus auf der Bühne erschwert. Wie anders machte das doch noch Brigitte Fassbaender bei ihrem „Rheingold“ dieses Jahr in Erl bei der Tiroler Festspielen! Da stand die viel beschränktere aber umso aussagekräftigere Handlung bei stimmiger Personenregie in völliger Harmonie mit der musikalischen Aussage, und das ohne jeden Statisten… Mit den Kostümen von Uta Heiseke scheint Herheim zudem das Ziel zu verfolgen, stets immer wieder Zitate aus der Aufführungstradition des „Ring“ zu bringen, bis zurück zur Uraufführung. Ist das wirklich so eine große Idee, oder gar Kunst?! Ein Zitat ist immer eine Wiederholung, nie eine authentische Eigenleistung. Es entsteht dabei in der Oper immer eine Collage von lange Bekanntem. Mir ist das für einen „Ring“ in Berlin zu wenig. Im Übrigen ist es immer wieder schon woanders gemacht worden. Man denke nur an den Günter Krämer-„Ring“ im Jahre 2013 an der Opéra de Bastille von Paris.
Von der „Rheingold“-Sängergilde lässt sich hingegen Besseres berichten. Thomas Blondelle hauchte diesem Koffer-„Rheingold“ als die Strippen ziehender Loge durch sein intelligentes, hochkonzentriertes und mephistohaftes Spiel doch noch einige Dynamik ein. Dazu lieferte er auch eine gute gesangliche Leistung. Derek Welton gab einen „Rheingold“-Wotan mit eher leichterem bassbaritonalem Aplomb. Markus Brück war ein guter erprobter Alberich mit Clownsnase, immer und überall zu finden, wo er gar nicht hingehörte. Ya-Chung Huang sang einen engagierten Mime Andrew Harris als Fasolt sowie Tobias Kehrer als Fafner beeindruckten durch kraftvolle Bässe und einen Auftritt im Riesen-Kofferformat. Annika Schlicht war eine überzeugende Fricka mit gutem Mezzo, ebenfalls gut spielend und Flurina Stuck i eine ansprechende Freia. Joel Allison als Bettina Volle Stipendiat sang eine guten Donner im Finale und Attilio Glaser einen kraftvollen Froh. Einen Mezzo der Extraklasse führte Judit Kutasi als Erda vor. Die drei Rheintöchter, Valeriia Savinskaia als Woglinde, Arianna Manganello als Wellgunde und Karis Tucker als Flosshilde, ebenfalls Stipendiatinnen, sangen und agierten auf hohem Niveau.
Unzählige alte Koffer bevölkern auch die „Walküre“-Bühne, als Hundings Hütte noch an das freilich sängerfreundliche Halbrund der Böcklinschen Toteninsel in Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ erinnernd. Wieder einmal beginnt eine Oper erst mal ohne Musik, eine Unart, die sich immer mehr einzuschleichen scheint, wohl, um wieder mal etwas anders zu machen, als der Zuschauer und -hörer gewohnt ist. Neues um des Neuen willen… Aber davon kommt noch mehr an diesem Abend. Man sieht Sieglinde hektisch ihren Koffer packen, sie will wohl weg aus Hundings Zwang. Unter Blitz und Donner fährt der Konzertflügel auf einem (Tuch)-Feuerstrahl in die Höhe – die Bude spielt verrückt. Ein großer Schäferhund kommt aus dem Souffleurkasten! Er sieht wie einer der Wölfe Wotans aus und schnüffelt die ganze Hütte ab. Es wird bei aller Herheimscher Detailverliebtheit nicht klar, ob es Geri oder Freki ist.
Da ich „Die Walküre“-Premiere Ende September 2020 bereits gesehen und ausführlich besprochen habe, und die Rezension im Oktober-Merker 2020 zu sehen ist, möchte ich mich zu ihr relativ kurz fassen.
Nicht anfreunden konnte ich mich mit dem „Hundingling“, einem kleinen Burschen (Eric Naumann), der Sohn Hundings und Sieglindes (!). Seine ständige Bedrohung Siegmunds mit einem Messer wird schnell langweilig. Gewöhnungsbedürftig ist Herheims abstruse Begründung für diese völlig überflüssige stumme Rolle. Er fand die „Szene, in der eine mit Gewalt in die Ehe gezwungene Frau sich als Sünderin wider wahrer Liebe und Täterin selbst anklagt, immer höchst problematisch und in unserer Zeit nicht vertretbar.“ Mit der Hinzudichtung des Kindes von Hunding und ihr will er sie „psychologisch anders disponieren und ihr Trauma materialisieren.“ Um mit Siegmund neu beginnen zu können, meint Sieglinde nun, das Kind umbringen zu müssen, „denn erst mit der Schwangerschaft durch den Wälsen gewinnt sie neuen Lebenswillen, eine Art Medea.“ Übrigens taucht der Hundingling als gefallener Held später wieder bei den Walhall-Helden auf – auch nicht ganz einsichtig…
Das Hauptthema oder Regiekonzept des Herheim-„Ring“ ist also die Flucht, und um die geht es natürlich in der „Walküre“ in ganz exzessivem Ausmaß. Bis auf Hunding und Fricka sind hier ja alle auf der Flucht. Ein Besuch im Stelen-Wald des Jüdischen Denkmals in Berlin hat Herheim dazu animiert, ebenso wie die Rolle der Stadt in der Nazi-Zeit und alles, was mit der Verfolgung insbesondere der Juden sowie dem Holocaust zu tun hat. Aber ist das gerade aus der heutigen Perspektive nicht zu kurz gegriffen?! Es sind derzeit weltweit über 60 Millionen Menschen auf der Flucht, aus den unterschiedlichsten Gründen und den unterschiedlichsten Nationen und Regionen. Wäre da eine globalere Herangehensweise nicht angebrachter, wenn man schon auf das Thema Flucht abstellen will?! Kostümbildnerin Heiseke setzt bei Wotan und den hier äußerst aktiven Wahlhall-Helden auf den neuen stereotypischen Topos, weiße Unterwäsche – nun auch im Wagner-Theater und eben nicht mehr nur im dramatischen Theater präsent! Na bitte. So spielt Wotan in Unterhose wie ein Besessener zu Beginn des 2. Aufzugs neben Brünnhilde alle acht Walküren aus dem Klavier heraus…
Im 3. Aufzug konnte man langsam das Interesse an weiteren abstrusen Ideen und deren skurrilen optischen Umsetzungen auf der Bühne verlieren. Eine Überraschung gab es dann allerdings doch noch, als im Finale der Deckel des Flügels nochmal hochging und Sieglinde in den Wehen offenbarte, während sich Mime als Richard Wagner mit Barett, aber in KZ-Hemd, damit befasste, ihr das Baby Siegfried aus dem Bauch zu ziehen. Selbst Wotan schaute von seinem Gerüst oben perplex herunter… Kurz, was man so ganz anders von Stefan Herheim gewohnt war, eine genau durchdachte, konsequent in ein überzeugendes und tragfähiges Regiekonzept eingebaute, durchaus immer wieder unkonventionelle Dramaturgie mit oft faszinierenden, aber verständlichen Regieeinfällen, war an diesem Abend nicht zu erkennen. Seine „Walküre“ wirkt vielmehr wie ein Sammelsurium vieler, zum Teil absurder und vordergründiger Einzeleinfälle, die in ihrer Gesamtheit keine wirklich schlüssige Werkinterpretation ergeben.
Das „Walküre“-Sängerensemble hinterließ dagegen insgesamt einen sehr guten Eindruck, mit einigen Abstrichen. Natürlich brillierte die bewährte Nina Stemme mit der Brünnhilde, auch wenn es ein paar Probleme mit der Homogenität der vokalen Struktur gab. Iain Paterson war ein Wotan mit klangvollem und gut geführtem Bassbariton, der der Rolle auch starke Charakterzüge verlieh. Eine sehr gute Leistung brachte Brandon Jovanovich. Optisch ist er ein idealer kämpferischer Siegmund und stimmlich entsprach sein Vortrag mit heldentenoralem Aplomb genau diesem Bild. Elisabeth Teige sang und spielte eine einnehmende Sieglinde. Annika Schlicht war Wotan mit ihrem guten Mezzo eine kraftvolle Gegnerin. Darstellerisch musste sie wieder einmal die klassische Furie geben. Tobias Kehrer sang den Hunding mit einem guten und wortdeutlichen Bass. Das Walküren-Oktett sang bei den chaotischen und skurrilen Regieanweisungen weitgehend homogen. Flurina Stucki war Helmwige, Aile Asszonyi Gerhilde, Antonia Ahyoung Kim Ortlinde, Simone Schröder Waltraute, Ulrike Helzel Siegrune, Karis Tucker Roßweiße, Anna Lapovskaja Grimgerde und Beth Taylor Schwertleite.
Im „Siegfried“ ging es letztlich wenig überraschend mit einer Bild- und Statistenüberflutung weiter, dass die gute musikalische Leistung des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter der Wagner-erprobten Hand von GMD Sir Donald Runnicles gar nicht recht zur Wirkung kam, beziehungsweise wahrgenommen werden konnte. Es war wieder einmal mehr Theater als Musik, jedenfalls kein Musiktheater!
Es geht Herheim offenbar um die optisch so explizit wie mögliche Darstellung von Gefühlen und Situationen der Protagonisten durch über 30 Statisten. Diese bevölkern mehr oder weniger ständig inmitten von kaum noch übersehbaren Altkofferbergen die Bühne, beäugen die Sänger und kommentieren deren Verhalten und Gesang sogar untereinander, gestisch natürlich. Damit wird die auch durch die Musik – der in dieser Inszenierung offenbar kaum noch etwas geglaubt wird, ein ganz großer Schwachpunkt des Regiekonzepts! – von Wagner so wunderbar suggerierte Intimität zentraler Szenen und Momente verflacht, wenn nicht gar völlig aufgehoben. Das war schon bei Wotans Abschied in der „Walküre“ so und findet nun einen weiteren Höhepunkt, wenn etwa 15 binäre und diverse Pärchen, sorgsam alle mit weißer Unterwäsche bekleidet, sich genussvoll, allerdings sehr bemüht wirkenden Kopulationsszenen hingeben. Dem zugrunde liegt Herheims Auffassung, dass wir mit den (nach dem Rat für deutsche Rechtschreibung nicht-normgerechten Gender-Formulierungen) „das Geschlecht ebenso wenig binär betrachten, wie wir eine alltagstaugliche, emanzipierte, dialektische Synthese gefunden haben.“ So ist das Zusammenfinden Siegfrieds und Brünnhildes nicht „auf eine physische Mann-Frau-Zusammenführung zu begrenzen, sondern im Augenblick ‚höchster Lust‘ müssen heute sämtliche Grenzen transzendieren, auch die des Genders.“
Auf der Bühne sieht es dann allerdings ganz profan eher so aus, als müsse man dem nach Wagner noch binären Liebespaar zeigen, wie es geht oder eventuell gehen könnte. Ein noch platteres „Siegfried“-Finale habe ich in der visuellen Wirkung, und um die geht es bei allen (pseudo-)intellektuellen Deutungsversuchen am Ende immer noch, bisher nicht erlebt, und es erschien mir nie als Mangel. Richard Wagner ist hier sinnvoll zu zitieren: „Was vor aller Welt vorgeht, hat für mich keinen besonderen Reiz, das Intime, worauf es Menschen unserer Art einzig noch ankommt, verliert sich hier immer.“
Selbst Nina Stemme als Brünnhilde auf dem Zentrum allen Handelns dieser eigenartigen Produktion, dem Konzertflügel mit wundersamem Deckel, schaut verdattert drein… Das Schicksal, mehr oder weniger früh am Abend in weißer Unterwäsche dazustehen, ereilt übrigens auch viele Protagonisten dieser Inszenierung. Es drängt sich bisweilen der wohl unrichtige Eindruck auf, Stefan Herheim wolle in Konkurrenz mit den letzten Palmers-Kreationen treten, oder ist es – zumal mit den gezeigten sexuellen Handlungen – eine erotische Obsession?! Interessanterweise hat er in den seitenlangen Gesprächen mit Dramaturg Königsdorf nicht einmal Bezug auf die optische Dominanz der weißen Unterwäsche genommen oder sie gar erklärt. Hinzu kommt eine offenbare Verliebtheit in das durchaus antiquierte Bühnenbild-Stilmittel wallender weißer Tücher, die immer wieder im Klavier verschwinden oder aus ihm herauskommen, und an deren kleineren Ausgaben auch gern mal geschnüffelt wird. Bis auf einige in der Tat beachtliche Momente wuselt der Abend mit solchen Geschäftigkeiten im tristen und alles umfassenden Koffermilieu vor sich hin. Diese gehören sicher zu den Gepäckstücken, die man bei Verlust gar nicht mehr vermissen würde oder nochmals sehen will…
Gesungen wurde aber gut bis sehr gut. Der US-Amerikaner Clay Hilley stellte sich zum ersten Mal als Siegfried an der DOB vor und hat einen kräftigen Heldentenor, der meines Erachtens mehr Facettierung oder Nuancenreichtum und damit Ausdruckskraft haben könnte. Aber die großen Herausforderungen der Riesenpartie meisterte er ohne Probleme. Nina Stemme gab die gewohnt gute Brünnhilde im letzten Aufzug mit ihrer vollen und wohlklingenden Mittellage wieder beeindruckend, etwas an der Grenze der vokalen Möglichkeiten bei den Spitzentönen. Ob sie sich in dieser Rolleninterpretation wohl fühlte, möchte ich hier nicht unbedingt bestätigen. Iain Paterson sang nach dem „Walküre“-Wotan nun auch den Wanderer, der ihm ob seiner Lyrik noch besser zu liegen scheint. Er schafft mit seinem eher hell timbrierten Bassbariton natürlich beeindruckende Höhen.
Jordan Shanahan ist ein ungewöhnlich stimmstarker und prägnanter Alberich, der auch zu den unmöglichsten Momenten auf die Bühne kommen musste oder schon auf ihr war, bevor es überhaupt losging… Dass er wieder oder immer noch mit Clownsnase auftritt, ist der globalen Spiel-Idee Herheims geschuldet, die sich aber über die Länge dieses „Ring“ verwässert, sodass die rote Nase und die weißen Augendreiecke bei diesem Alberich auch schon wieder wie Zitate der Vorgeschichte wirken, jedoch dramaturgisch keinen nachvollziehbaren Sinn machen. Schon gar nicht, wenn wir in die Musik hineinhören. Aber Zitate hat der Regisseur ja gern, vielleicht auch welche von sich selbst… Der erst 32jährige taiwanische Tenor Ya-Chung Huang spielte und sang einen ungemein eindrucksvollen Mime, der hier wieder als Richard Wagner-Parodie mit KZ-Hemd gezeigt wurde, womit sich der Regisseur zwischen seiner imaginierten Spiel-Konzeption und der konkreten Judenverfolgung verhaspelte. So wirkte es jedenfalls, wenn man die Augen aufmachte. Tobias Kehrer war ein kraftvoll singender und sterbender Fafner und lag zum Schluss ebenfalls in seiner Unterwäsche und 30kg Übergewicht auf dem Souffleurkasten. Judit Kutasi war nach dem „Rheingold“ auch eine starke Erda im „Siegfried“ mit kraftvollem Mezzo und einem unmöglichen Kostüm, das etwa meine Oma vor dem Fernseher trug. Nun ist sie nach Herheim aber auch nur Souffleuse, und bei denen achtet man ja nicht auf die Kleidung, weil man sie gar nicht sieht. Immerhin blieb ihr die weiße Unterwäsche erspart. (Loriot hätte gesagt: „Schwein jehabbt“). Sebastian Scherer, Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund e.V., sang den „Waldvogel“ mit mannigfacher Bühnenaktion so falsch wie eben möglich. Dem Publikum gefiel‘s. Herheim meint in seinem Gespräch mit dem Dramaturgen, dass es ein Junge sein sollte, der „Siegfried in seinem unbewussten Initiationsprozess begleiteten sollte, zumal ihm erst in der allerletzten Szene eine Frau begegnet.“ Auch Wagner hatte ursprünglich an einen Jungen für den Waldvogel gedacht. Er wird schon gewusst haben, warum er sich schließlich anders entschieden hat – so, wie für eines von vier „Götterdämmerung“-Finalis. Aber das spielt für den Regisseur keine Rolle.
Nach der „Götterdämmerung“ wurde das leading team mit einer signifikanten Buh-Reaktion großer Teile des Publikums empfangen. Nur einmal zeigte sich Herheim mit Ko-Bühnenbildnerin Silke Bauer, Kostümbildnerin Uta Heiseke und (wahrscheinlich) Beleuchter Ulrich Niepel dem Publikum. Als der wohl nicht nur aus meiner Sicht zu Recht anhaltende Protest nicht enden wollte, vollzog Herheim einen wie eine Erlösung wirkenden Sprung auf der Bühne und dankte den Mitwirkenden überschwänglich, verständlich. Einige von ihnen hatten wirklich viel mehr zu leisten oder auszuhalten als selbst unter nur relativ normalen Bedingungen von einem Wagner-Sängerdarsteller im „Ring“ verlangt wird.
Wenn es alles einen durchgängigen oder wenigstens in großen Linien nachvollziehbaren Sinn ergeben hätte, wäre ja nicht einmal so viel dagegen einzuwenden gewesen. Aber allzu viele „Ideen“ und Einfälle, ja auch unzählige Gags, die sich immer wieder von der rein intellektuellen und kopfbetonten Regiekonzeption Herheims entfernten, beziehungsweise sie verwässerten oder gar nicht erst erkennen ließen, machten mit ihrer ständigen visuellen Reizüberflutung auch diese „Götterdämmerung“ ähnlich wie schon den „Siegfried“ zwei Tage zuvor zu einem Abend, der nahe an der Farce vorbeischrammte. Dazu trugen auch wieder die über Gebühr in der Szene wuselnden über 30 Statisten bei, die sich mehrmals bis auf ihre weiße Unterwäsche entkleiden mussten, aus welchen Gründen auch immer.
Der 1. Aufzug begann im großen Foyer der Deutschen Oper. Herheim wollte mit diesem realen Raum eine Ort der Gegenwart wählen, der „sowohl für die gesellschaftliche Institutionalisierung des Mythos als für seine Wandelbarkeit in der Rezeption steht.“ Das Publikum sollte sich hier das Spiel um den „Ring“ zu eigen machen! Damit wollte man, wie Wagner, sich dem Thema der gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit annähern. Ob das jeder verstanden hat, ohne sich ins Programmheft zu vertiefen?! Hagen stand in Spießerkleidung schon da und nahm sein Pausenbier – wie seine Betrachter es zwei Stunden später auch machen würden. (Die redeten dann aber sicher über etwas anderes…). Dabei schaute er – unpassend gerade bei d e r Figur, mit Clownsmalereien auf dem Gesicht, denn er ist ja der Sohn Alberichs (Hoihe! Das wissen wir!) – gelangweilt den Nornen zu. Kaum bot Siegfried Gunther die Blutsbrüderschaft an, mussten beide sich schnellstens bis auf die Unterwäsche ausziehen und in Fracks schmeißen, denn man wollte offenbar schon auf dem Brünnhilde-Felsen Eindruck machen… (Dabei hätte man sich ja erst zum 2. Aufzug standesgemäß anzuziehen brauchen). Hagen sang seine Wacht aus der ersten Reihe des Parketts mit Blick zu Alberich auf der Bühne, nicht ganz Corona-sicher. Bei vermeintlich oder tatsächlich wichtigen Momenten ging störenderweise – wie schon an den Vorabenden – immer wieder das Saallicht an, ähnlich schreckhaft wie jenes bei Tristan und Isolde am Ende des 2. Aufzugs. Also der bekannte Wink mit dem Zaunpfahl: Es geht Euch alle an! Wie schon im Foyer zu Beginn, eine gewisse Oberlehrerart. Ich denke, man kann sich auch im Dunkel des „Ring“ seinen Teil denken. Das hat jedenfalls bei vielen bisher immer gut funktioniert. Torge Møller steuerte einige weniger stark als sonst auffallende Videos bei, vor allem auf die unseligen weißen Tücher.
Aber sowohl der Musik wie dem Verständnispotenzial des Publikums wird von Herheim nicht allzu sehr vertraut. So muss Siegfried nach Hagens Todesstoß mit Wotans Speeres-Stück hinter der Szene auch noch der Kopf abgeschnitten werden, mit dem Gutrune dann wie Salome entgeistert über die Bühne wandelt. So etwas Geschmackloses und auch Unrichtiges hätte ich mir bis dahin nicht vorstellen können. Die bis zum Abwinken hereinflatternden, -gezogenen und wieder umständlich zu entsorgenden Tücher, unter denen oft alberne Versteckspiele stattfinden, und das nahezu besinnungslose Pseudo-Klavierspiel fast aller Protagonisten, wenn ein anderer, ob Feind oder Freund, singt, mögen zwei weitere Beispiele eines großen Kataloges von teilweise heftig nervenden Entbehrlichkeiten und sinnfreien Aktionen der Spiel-Regie sein. Dazu gehört auch das ständige Nachsehen der Sänger in der jeweiligen Partitur des Abends, wie es denn nun sängerisch weiterginge.
Einige wenige starke Bilder, so die Sammlung der Altgermanen auf den Kofferbergen um Alt-Wotan herum, können für das allgemeine szenische und optische Versagen dieser Produktion nicht entschädigen. Während des herrlichen und unmissverständlichen Mutterliebe-Motivs der Sieglinde aus dem 3. Aufzug der „Walküre“ steht am Ende das nun verstaubte Klavier auf der leeren Bühne, und eine Putzfrau zieht mit stoischer Ruhe langsam fegend über diese. Es wirkte wie ein Schlag ins Gesicht angesichts der Musik, die da zu hören ist, aber man konnte es fast erwarten. (Ein ganz alter Hut sind die Putzfrauen im „Ring“ oder generell bei Wagner ohnehin schon seit Jahren). Herheim möchte die werkimmanente Bedeutung des Mutterliebe-Motivs aus der „Walküre“ letztlich offen lassen, „da sich unsere Erlösung nicht in hehrer Kunst auf großer Bühne materialisieren lässt.“ Aber war da nicht ständig die Rede davon, dass Kunst eben alles kann, vieles jedenfalls, was in der Realität nicht möglich ist?! Dann hätte man sich zu den großartigen finalen Takten der „Götterdämmerung“ sicher etwas Inspirierenderes einfallen lassen können als eine über die Bühne wischende und ein altes Klavier abstaubende Putzfrau! Man könnte so etwas auch eine szenische und dramaturgische Bankrotterklärung nennen.
Clay Hilley bestätigte seine gute stimmliche Leistung als Siegfried. Er müsste die Rolle aber noch differenzierter spielen und sich auch um eine stärkere vokale Facettierung mit dunklerer Tongebung kümmern, um situationsgerechten Ausdruck besser treffen zu können. Beachtlich sein genüsslich in den Raum geschmettertes Hohes C zu Beginn des 3. Aufzugs! Nina Stemme gab wieder alles als Brünnhilde und überzeugte vor allem mit ihrer klangvollen und ausdrucksstarken Mittellage und ihrer guten Mimik. Die Spitzentöne der 4. Szene des 1. Aufzugs und des 2. Aufzugs wirkten allerdings oft aufgesetzt, leicht schrill. Das wohl brachte ihr am Ende auch einige Buh-Rufe ein. Jordan Shanahan war wieder ein eindrucksvoller Alberich, sowohl darstellerisch als auch vokal. Er war immer wieder auf der Bühne, wenn er dort nicht hingehörte, hätte aber viel besser als die Putzfrau an das Ende gepasst, wie es einst Ulrich Melchinger in Kassel und Harry Kupfer in Bayreuth machten. Albert Pesendorfer sang einen exzellenten Hagen mit profundem und ausdrucksvollem Bass, ein absoluter Kenner der Partie, leider als Clown veralbert! Thomas Lehman war ein als totaler Spießer gestylter Gunther mit gutem Bariton und Aile Asszonyi eine ebenso gute Gutrune. Okka von der Damerau bestach einmal mehr mit ihrer großen Gesangskultur als Waltraute. Ich bin gespannt auf ihre Stuttgarter Brünnhilde, möglicherweise ein Wagnis. Die Nebenrollen waren ebenfalls gut besetzt.
Sir Donald Runnicles suchte sich mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin bei diesem „Theaterstück“ musikalisches Gehör zu verschaffen, und das gelang ihm auch weitgehend aufgrund seiner nicht zuletzt mit dem „Ring“ in Bayreuth, den vielen in Berlin und jenem in San Francisco gewonnenen Erfahrung. In einem Gespräch mit Dramaturg Königsdorf meint Runnicles, es sei für ihn „sehr inspirierend, die Regie von Stefan Herheim in ihrem Detailreichtum mitzuerleben – ich sauge das geradezu auf.“ Dann sagt er aber auch, „für mich geht es sozusagen darum, einen organischen Bezug von Ein- und Ausatmen zu erreichen, um eine großräumige Spannung und Sogwirkung stehen zu lassen, die Wagner auf orchestraler Ebene anstrebte.“ Hier scheint mir jedenfalls nicht die allergrößte Kongruenz zu liegen. Man hätte sicher mehr der hörenswerten Einzelheiten und Momente der Wagner-erfahrenen Musiker im Graben genießen können, wäre man nicht dauernd dermaßen von der interpretationsheischenden Hyperaktivität auf der Bühne abgelenkt worden. Dass Gute war jedoch, das man sich bei Runnicles trotz allen Gewusels auf der Bühne musikalisch stets in sicheren Händen fühlen konnte, wie immer in den Berliner „Ring“-Aufführungen. Und das spricht musikalisch sicher für die DOB. Der Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin, einstudiert von Jeremy Bines, sang bei guter choreografischer Intensität stimmstark und mit großer Transparenz der einzelnen Gruppen, war also ein belebendes Kollektiv in der „Götterdämmerung“.
Stefan Herheim hat der Landeshauptstadt einen „Ring“ beschert, bei dem einmal wieder Theorie, also ein allzu intellektuell ausgeklügeltes Regiekonzept, mit der Wirklichkeit, also der szenischen und dramaturgischen Umsetzung, auseinanderklaffen. Kann Wagners Tetralogie wirklich im Sinne Herheims als Spiel verstanden und so inszeniert werden?! Dieser „Ring“ ist szenisch überladen, dramaturgisch übertrieben und zeitweise irritierend – und er hört nicht wirklich auf Wagners Musik. Und damit auch nicht auf sein Konzept des Gesamtkunstwerkes. Nach dem Kult-„Tunnel-Ring“ von Götz Friedrich müssen zumindest die DOB-Berliner nun eine Zeitlang mit diesem „Ring“ leben. Möglicherweise sehr lange. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich das entwickelt. „Weißt du, wie das wird?“ fragt bekanntlich die Norn. Ich bin jedenfalls skeptisch. Ich würde sagen, dass die Staatsoper unter den Linden nun den besseren „Ring“-Zyklus hat und frage mich, warum sie nun auch einen neuen – mit übrigens ausschließlich eigenen Sängern – machen will. Klar erscheint mir allerdings schon jetzt zu sein, dass Stefan Herheim mit seiner Unterwäsche-Ästhetik als Intendant des Theaters an der Wien und Regisseur an diesem Hause nicht weit kommen wird…
Fotos: Bernd Uhlig/Letztes: K. Billand
Klaus Billand/07.12.21