Premieren: 12.6., 27.9. und 12.11.2021
Besuchte Vorstellungen: 16., 17. und 19.11.2021
Reden wir zuerst von der Musik – denn es ist zu allererst die Musik, die den Ring bis heute am Leben erhielt. Wenn das Orchester der Deutschen Oper Berlin und sein Leiter Donald Runnicles nach und vor den Anfängen der Walküre-Akte und dann, verstärkt, in den Siegfried-Vorstellungen bejubelt werden, wird klar, auf wessen Seite die größten Sympathien des Publikums liegen, das gerade den zweiten kompletten Ring-Zyklus in der Inszenierung Stefan Herheim s besucht. Das musikalische Ensemble produziert ja auch meistens Kostbares. Selten hat man die aufkeimenden und dann aufbrechenden Liebesgefühle Siegmunds und Sieglindes so deliziös vernommen. Gewiss: Es ist keine Kunst, ein Solocello und einige wenige Streicher oder Holzbläser apart spielen zu lassen, aber eine gesamte zweite Hälfte des ersten Walküre-Akts quasi impressionistisch, bei allen Exaltationen zart und luftleicht zu bringen: das ist wirklich eine hohe Kunst. „Rheingold“, so befand 1876 Camille Saint-Saens bei den Bayreuther Festspielen, „ist eine Goldschmiedearbeit“ – in Berlin hören wir eben diese Preziose, ohne das Gefühl zu haben, dass Runnicles und seine Musiker das Drama und das Konversationsstück zugunsten eines akustischen Glasperlenspiels vernachlässigen. Hört man den wunderbaren Iain Paterson im zartesten und intimsten Wotansabschied, den zumindest ich (und vermutlich nicht allein ich) im persönlichen Ring-Leben gehört habe, und lauscht man mit Clay Hilley einem ungewöhnlich sanften und leisen Siegfried in den schönsten Passagen des zweiten Siegfried-Akts, begreift man von Neuem, dass Wagner ein nach wie vor unausgeschrittener Kosmos ist; dass man selbst nach vielen Live-Ringen immer noch „neue“ Passagen hört – hier eine Klarinettenmelodie, dort ein Hornquartett, schließlich ein paar rhythmisch attraktive Bewegungen der Streicher -, zeigt einem, wieso es sich immer lohnt, einen Ring zu besuchen: weil es unmöglich ist, mit einem Mal alle Stimmen, von denen keine eine sog. Nebenstimme ist, zu erfassen. Musikalisch gesehen ist diese zweite Ring-Serie eine große Freude – sehen wir einmal davon ab, dass Nina Stemme mit den beiden ersten Brünnhilden, die ich hören konnte, am insgesamt noblen Ende ihrer Brünnhilden-Laufbahn angekommen ist. Sie bewältigt die Partien, aber sie gestaltet sie mit einer Stimme, die klangfarblich eher für die reifere Siegfried-Brünnhilde als für die junge Walküre geeignet ist. Dagegen überrascht Clay Hilley mit einer Mischung aus heldischer Dramatik, Ausdruckskraft und einem bemerkenswerten Sinn für das doppelte piano. Mit dem jungen Ya-Chung Huang (Jahrgang 1989) steht ihm der perfekte Partner zur Seite. Einen sympathischeren und liebenswürdigeren Mime habe ich in 38 Jahren und 15 Live-Ringen nicht erlebt. Kommt hinzu, dass Huang – wie fast alle Sänger dieser Tetralogie – durchwegs klar artikuliert und damit der Figur eine auch stimmliche Kontur schenkt, die zwischen Wagners radikalen Vokal-Anweisungen und unserem Ideal eines zwar charakteristischen, aber „ausgewogen“ singenden Mime vermittelt. Schade also, dass der kleine Kerl schon im 2. Akt das Zeitliche segnen muss (und, aber dazu später, sich noch kurz vor Schluss ebenso ausziehen muss wie seine bemitleidenswerten Kollegen). Gebührt einem der Solisten der ersten drei Teile die Goldene Palme? Vielleicht müssten sie sich neben Paterson der glänzende Loge Thomas Blondelles – ein agiler Mephisto von Gustav Gründgens‘ Gnaden, eine Stimme von äußerster Klarheit und Prägnanz – und Fricka – die stimmlich dunkelgefärbte und szenisch herausragende Annika Schlicht – teilen. Wie sie die Göttergattin gibt, deren Gefühle in der Walküre zwischen Zorn und Spott changieren, ist schlichtweg grandios. Und gesungen wird, wie gesagt: meist erstklassig; den Fasolt möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich ausnehmen.
Der Ring, der – das ist banal, muss aber offensichtlich gelegentlich gesagt werden – muss optisch und szenisch gedeutet werden, um ihn wenigstens in Teilen sichtbar zu machen. Als Götz Friedrich, der Generalintendant der Deutschen Oper, an der er einen Ring mit Kultstatus inszenierte, einmal gefragt wurde, wo der Ring denn eigentlich spiele, gab er die einzige mögliche richtige Antwort: „Auf dem Theater.“ Inzwischen hat sich sein Grundsatz, der beim Publikum der frühen 80er Jahre noch nicht zum Gemeingut gehörte und mit dem man noch heute Opernbesucher überraschen kann, in die Praxis vieler Ring-Inszenierungen geflüchtet. Bei Stefan Herheim wird, das ist nicht neu, Theater auf dem Theater gespielt. Um es geradeheraus zu sagen: das Problem dieses Ring besteht darin, dass Vieles nicht neu ist. Zugegeben: Kein Regisseur kann mit dem Ring das Rad neu erfinden, aber allzuviele Referenzen – seien sie bewusst oder unbewusst – hinterlassen zumindest bei Ring– und Opernkennern den Eindruck, dass das bereits Bekannte zumindest so gut sein sollte, dass sich das wiederholte Zuschauen lohnt. Dass sich aus einem Heer von koffertragenden Statisten (als „Flüchtlinge“) ein paar Gestalten lösen, um den Ring an dem zentralen Objekt aller vier Abende, einem Flügel, beginnen zu lassen und zu spielen, ist zwar, rein theoretisch argumentiert, nicht falsch, indem es den Ring als Geschichte in einem scheinbar ewigen Zeit-Reise-Kontinuum behauptet („dass die von ihrer Vorgeschichte Flüchtenden sich der Musik bemächtigen und ihre Geschichte neu gestalten“, wie Herheim sagte) – aber die Umsetzung wird spätestens dann problematisch, wenn sich die stummen Gestalten immer wieder ins Spiel drängen: in Feinripp-Unterwäsche, am Beginn des Rheingold und am Ende des Siegfried lächerliche Kopulations-Bewegungen (wie gesagt: im Feinripp) ausführend. Ich erinnere an den aktuellen Kasseler Ring und seine Statisten, die Bürger der Stadt Kassel. Alle haben Sex, nur Alberich nicht: die Setzung ist, mit diesem äußerst verbrauchten szenischen und höchst selten gestisch überzeugenden Mittel, eines Herheim nicht würdig. Man könnte lange darüber streiten, ob der ubiquitäre Einsatz eines großen Tuchs, auf dem diverse Lichtspiele projiziert werden, und das zu Walhalls Gebirge wie zu einem Schutztuch werden kann (im Siegfried tanzen sie in der Darstellung Fafners unter den Tüchern wie zu einem Reigen unseliger Geister), schon dadurch legitimiert werden kann, weil es 1. ein Mittel eines „armen“ (dabei technisch aufwendigen) Theaters und 2. ein Zitat jenes „gezogenen Segeltuchs“ ist, das ein Kritiker im Bayreuth des Jahres 1876 bemäkelte. Eine befreundete Opernkennerin fühlte sich an billiges Schultheater erinnert – mit dem Tuch lassen sich allerdings, wovon nicht allein Wotan weiß, in Kürze große Bilder bauen. Richtig groß aber wird es im Siegfried, wenn aus einem der zentralen Bildelemente dieses Ring, den Koffern, ein prachtvolles Koffergebirge erwächst; in der Walküre diente eine prachtvolle, gegossene Kofferkonstruktion als Hundings Hütte. Das Herheim, die Bühnenbildnerin Silke Bauer und die Techniker die Kofferberge zum Tanzen bringen, versteht sich von selbst, der Drache, der immer ein Problem ist, wird im zweiten Siegfried-Akt aus dem Gebirge gebaut, während die Zähne aus riesigen goldglänzenden Schalltrichtern bestehen – so wie das Rheingold die Trompete Alberichs „ist“: das Instrument einer Zirkusgestalt, die sich nach der Zurückweisung und Demütigung durch die aus dem Flüchtlingsvolk auftauchenden Rheintöchter in einen Horrorclown verwandelt.
Man sieht: in Herheims Inszenierung geht es bildmäßig nicht um irgendeinen Realismus. Er aber herrscht dort, wo Herheim, dem das Dreamteam seiner einstigen Bühnenbildnerin und Kostümgestalterin abhanden kam, am stärksten ist: in der Darstellung menschlicher Beziehungen. Siegmunds Annäherung an die Schwester, ihr leidenschaftlicher Kuss noch vor Hundings Auftritt, die Auseinandersetzung mit dem Hundingling, also Sieglindes und Hundings behindertem Sohn: diese Szenen gehören zu den Höhepunkten dieser Tetralogie, die immer wieder zu berührenden Momenten findet. War Wagner in Herheims Rigaer Inszenierung des Rheingold noch Alberich und Wotan, so hat er hier die Gestalt Mimes angenommen. Wir sehen tatsächlich, die Maske und der humpelnde Gang machen es möglich, einen Zwerg bei der Werkarbeit – und nicht allein dann, wenn er des Wanderers majestätischen Auftritt herbeidirigiert. Es wird überhaupt viel in Musikproduktion gemacht. Wir kennen das schon aus Herheims Dresdner Manon Lescaut: dass der Meister selbst seine Opernfiguren dirigiert und damit quasi im Moment schöpft. Immer wieder setzen sich die Figuren an den Flügel, um, musikalisch durchaus passend, aber szenisch zunehmend langweilend, die Partner wie in einer Konzertsituation zu begleiten. Dem Spiel im Spiel haftet bei aller Konsequenz dort etwas extrem Künstliches an, wo ansonsten so agiert wird wie in jedem normalen, guten Opern-Theater – dass Siegfried wie ein Heldentenor von Anno Dutt aufzutreten hat, kann mit dem Pasticcio-Charakter dieser Inszenierung erklärt, aber kaum entschuldigt werden. Denn die Peinlichkeit eines wenn auch parodierten „werktreuen“ Theaters ist größer als irgendein szenischer Erkenntniswert.
Herheim kommt (auch) vom Puppenspiel, seine Liebe für die großen und kleinen Zauberkünste ist unübersehbar. Am Ende retten sie, wie die Erscheinung der Riesen als wirklich riesige Kofferköpfe und die unmerkliche Umwandlung des lächelnden und weinenden Schild-Gesichts der Brünnhilde, und die Genauigkeit der Menschen-Interpretationen die ersten drei Abende (über die ich hier berichten kann) über manch Primitivität; der Satz „Ich kann kein Feinripp mehr sehen!“ dürfte vielen Zuschauern leicht vom Mund gegangen sein, während er sich auf die nächste Szene freute. In der Ringzeitreise, die Götz Friedrich in einem „Zeittunnel“, der präzisen, gleichfalls auf den Krieg bezogenen Entsprechung für Herheims Kofferberge, spielen ließ, in diesem Durchgang durch Makro- und Mikrogeschichten sind es immer wieder die Begegnungen, die den Rang dieser Arbeit verbürgen: das letzte Treffen Wotans mit Brünnhilde und sein mildmelancholischer Abschiedsgesang, sitzend, die Tochter zu seinen Füßen, die Begegnung Sieglindes mit der Erscheinung ihres toten, von ihr im Liebesrausch getöteten Sohns auf dem Walkürefelsen des dritten Akts, das Duell zwischen Alberich, der sich als „Riesenwurm“ in ein Heer von gespenstisch maskierten Wehrmachtssoldaten verwandelt, mit Loge und Wotan in Nibelheim, die Interaktion zwischen dem Waldvogel, einem Knaben, der sich, als unschuldiges Naturwesen, nach der Ermordung Fafners durch Siegfried vor dem Drachentöter fürchtet, schliesslich Sieglindes traurige Anrede an dem am Klavier sitzenden Wotan: „Kehrte der Vater nun heim…“: diese Szenen werden im Gedächtnis bleiben, wenn das Kopfschütteln und Lachen über die Unterhosenträger (einschließlich Siegmunds und Wotans) längst verweht sind. Natürlich ist es eine reine Geschmacksfrage, ob die Traumerscheinung der toten Eltern im Waldweben als geflügelte Genien (die sich während Siegfrieds schrecklichen Blasversuchen lustig die Ohren zuhalten, was die gefürchtete Szene vor aller Peinlichkeit bewahrt) geschmackvoll oder sog. Kitsch ist – wenn sie als schwarzbeflügelte Engel in der Auseinandersetzung Wotans mit Siegfried als Stellvertreter der Raben fungieren, bekommt die erste, reinweiße Erscheinung einen Hintersinn, dem man sich kaum entziehen kann. Nicht zauberhaft, sondern bewusst nüchtern mutet dagegen Erda an. Als Souffleuse dieses Ring wird sie, man hat das beispielsweise in Weimar gesehen, von Wotan zur ewigen Ruhe gebracht, indem er ihr buchstäblich den Hals umdreht. Brutal, aber die glänzende Judit Kutasi wäre bekanntlich sowieso nicht mehr aus ihrer Versenkung aufgetaucht.
Was bleibt sonst noch haften: Freias goldene Apfelbommelbrüste? Der echte Wolf, der wähend des Walküre-Vorspiels über die Bühne streicht? Die Schlüsse, mit denen zum nächsten Werkteil übergeleitet wird: der aus den Tüchern gestaltete Baum, in dem die Zwillingsföten Siegmunds und Sieglindes in der Krone erscheinen, die Geburt Siegfrieds und sein Raub durch Mime am Ende der Walküre (natürlich im Flügel)? Ein Hunding, der zunächst auch konziliante Seiten hat? Das schlagartige Licht, mit dem sich Wotan im Zuschauerraum „das Ende“ herbeiwünscht? Oder die Todverkündigung, die – das macht das allgegenwärtige Tuch – allzu sehr an Chéreaus Interpretation dieser Szene erinnert? Oder der Furor, mit dem immer wieder die Textbücher der Stücke in die Hände genommen werden – dass einige Seiten des Siegfried im Feuer der Schmiede tanzen, hat die reizende Anmutung eines Kindertheaters. Die Auftritte Wotans und Alberichs, mit denen sie die Szene schon zu Beginn des Siegfried umlauern? Das Erwachen Fafners nach seinem Tod (alles nur Theater)? Die szenisch primitive Vergewaltigung der acht Walküren durch die acht toten Krieger? (Ich wiederhole: Auch das ist Herheims unwürdig). Mime am Ende, in dem er sich demaskiert, wobei er leider, wie Wotan in der Walküre, in der Unterhose dasteht, um seine letzten Zeilen zu singen? Als ein „Mensch wie alle“, wie Gurnemanz sagen würde? Oder die an einen KZ-Anzug erinnernde Arbeitskleidung Mimes, womit auf die antisemitisch gemeinten Elemente der Figur hingewiesen wird? Was man als geschmacklos abtun könnte, wenn nicht klar wäre, dass im Durchgang durch den „Ring“, wie ihn Herheim vorgelegt hat, in der Erinnerung an Wagner auch, wenn auch eher zart, die dunklen Seiten des Genies beleuchtet werden. Denn schließlich besitzt Mime ja, wenn nicht alles täuscht, in dieser Deutung viel mehr unsere Zuneigung als unsere Abscheu.
So machen am Ende vor allem die Sänger die Abende. Habe ich wen vergessen? Markus Brück spielt, zunächst stimmlich eher klein (er findet sich herein in die Partie) einen intensiven Alberich, Elisabeth Teige eine berührende, stimmlich kostbare Sieglinde, Brandon Jovanovich einen lyrisch wie heldisch höchst nuancierenden Siegmund. Tobias Kehrer ist ein erstrangiger Hunding, der als Fafner seinen Bruder in Sachen Stimmschönheit, dramatischer Präzision und ausgewogener Wucht wesentlich überflügelt. Derek Welton singt den jungen Wotan ohne Makel, doch wenig beeindruckend. Joel Allisons Donner, Attilio Glasers Froh (ein Figur in weissem Gay-Kostüm) und Flurina Stucki als komische Freia ergänzen das Götterensemble, wobei Glasers Froh sich im schönsten Schöngesang auf die lyrische Brücke begibt. Im Terzettzusammenklang schlichtweg vollkommen: die Woglinde der Valeriia Savinskaia, die Wellgunde der Arianna Manganello und die Flosshilde der Karis Tucker. Nicht zu vergessen: der Knabensopran Sebastian Scherer als Waldvogel, einer Mischung aus Siegfrieds jugendlichem alter ego und einer Seelenerscheinung der Mutter (wie Wagner den Vogel sich vorstellte) und der Hundingling Eric Naumann, der im ersten Walküre-Akt eine Haupt- und im dritten Aufzug eine wichtige Nebenrolle spielt: das schlechte Gewissen Sieglindes, so Herheim, kann sich heute nicht mehr aus einem Ehebruch, sondern muss sich aus einer gravierenderen Tat ergeben: wie der der Tötung des eigenen Kindes. Kein Einspruch, Euer Ehren – es funktioniert ja auch szenisch, weil der „Fremdkörper“ des Sohns, der zunächst den Eindringling töten will und sich dann auf seine Seite schlägt, für eine ganz eigene Spannung sorgt.
Und die Walküren? Ich nenne nur eine, stellvertretend: Ulrike Helzel. Wie sie, einst in Bayreuth als Rheintochter, Knappe und Blumenmädchen zu erleben, die Siegrune spielt, zunächst als „normale Frau“, mit einem Lover zugange, der gleich als toter Krieger auftreten wird, und dann singt: dies anzuschauen und zu -hören macht einfach Spaß. So wie vieles in diesem Ring, der, rein szenisch beurteilt, zwischen Banalität und Großartigkeit, Holzhammerpädagogik und genauester Psychologie changiert – so dass man zuletzt wieder von der Musik zu reden beginnt.
Frank Piontek, 21.11. 2021