Berlin: „Lakmé“, Léo Delibes

Einmalige konzertante Aufführung in der Philharmonie am 27. September 2022

Mit jeder Menge Fettnäpfchen, Stolpersteinen und Fallstricken gepflastert sein dürfte und ist in Zeiten von Cancel Culture der Weg zu einer szenischen Realisierung von Opern wie Delibes‘ Lakmé, wie Madama Butterfly, Thais, Turandot oder Die Afrikanerin mit dem Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Kulturen und der bedingungslosen Unterwerfung eines weiblichen Wesens unter die Forderungen eines männlichen. Deshalb ist es allemal besser, ein Werk konzertant aufzuführen als gar nicht oder es bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Lange Zeit waren gerade diese Opern besonders beliebt, entsprachen in den Zeiten des Kolonialismus, der Weltausstellungen und Überseehäfen dem Verlangen auch nach kultureller Aneignung des Fremden eine bedeutende Rolle. Inwiefern man dabei von völlig falschen Vorstellungen ausging, ist eine andere Frage. Und auch die Adaption von Klängen aus der fremden Welt war eine recht bescheidene, noch bescheidener in der Fassung der Deutschen Oper, die ohne das in Paris unverzichtbare Ballett auskommt.

Thais und Lakmé verschwanden dann aus dem Repertoire zumindest der deutschen Bühnen weitgehend, in Wunschkonzerten und in der Werbung sowie im Film überlebten immerhin die Glöckchenarie aus Lakmé und das Duett Lakmés mit ihrer Gefährtin Mallika. Weder La Stupenda noch Nathalie Dessay wollten auf die Bravourarie, die Delibes für die Primadonna Marie van Zandt, gefeierte Manon, Mignon und Dinorah, komponiert hatte und die in der Ossia-Fassung ein dreifaches hohes E aufweist, verzichten. Im Moment scheint es auf eine Art Mini-Renaissance des Werkes, das konzertant auch in Lüttich, szenisch in Paris an den Champs-Élysées und 2023 in Zürich gegeben wird, hinauszulaufen.

Kein Regisseur und auch keine Regisseurin ist im Programmheft verzeichnet, und doch wurde an diesem Abend in der Philharmonie durchaus „gespielt“, nahmen die Personen Bezug aufeinander, bewegten sich, wenn auch auf engem Raum vor dem Orchester, und am Schluss ließ sich die sterbende Lakmé sogar von ihrem Gérald in die Arme nehmen und auf einen bereitstehenden Stuhl betten. Die Hauptaufmerksamkeit aber galt natürlich den sängerischen Leistungen, und da hatte das Besetzungsbüro gute Arbeit geleistet und ein Ensemble zwar nicht mit bekannten Stars, aber mit vorzüglichen und dazu noch auch optisch ihren Rollen entsprechenden jungen Kräften zusammengestellt. Phänomenal war die Lakmé der tatarischen Sängerin Aigul Khismatullina, die souverän alle Tücken der Glöckchenarie meisterte, deren Extremhöhe nie angestrengt oder scharf klang und die sich auch nicht durch den vorzeitigen Applaus mitten in ihre Arie hinein irritieren ließ. Facetten- und nuancenreich gestaltete der Sopran die schwierige Partie, die sie nie als farblose Produzentin von Koloraturen erscheinen ließ, sondern der sie viel bezaubernde Persönlichkeit verlieh. Das Duett mit der Gefährtin Mallika litt ein wenig darunter, dass die Stimme des Soprans relativ und angenehm dunkel timbriert ist, während der Mezzo von Mireille Lebel ein recht heller ist, so dass man sich den Kontrast zwischen beiden Stimmen bedeutender gewünscht hätte.

Einen angenehmen lyrischen Tenor setzte der Kanadier Josh Lovell für den Gérald ein, ließ im 3. Akt fein ätherische Klänge, durchweg Idiomatisches und ein farbiges Piano hören. Seinen Freund Frédéric, eine Art besorgt warnender Sharpless, beide Stoffe stammen von Loti, sang Dean Murphy mit warmem, fein konturiertem Bariton. Aus dem Ensemble hatte Thomas Lehman sich aus Bariton- in Bassgefilde begeben und verlieh dem hasserfüllten Nilakantha imponierende Töne. Sehr berührend gestaltete Thomas Cilluffo die Arie des treuen Hadji, einen frischen Sopran hatte Hye-Young Moon für die Ellen, auch Arianna Manganello als Rose und Sylvie Brunet-Grupposo als Mistress Benson erfüllten ihre Partien mit Wohlklang. So präzise wie klanggewaltig konnte der Chor (Jeremy Bines) besonders zu Beginn des 2. Akts überzeugen, Daniela Candillari bewies am Dirigentenpult, dass Lakmé überhaupt nicht kitschig erscheinen muss, sondern einfach nur schön klingen kann.

Noch wird im Orchestergraben in der Bismarckstraße renoviert, und deshalb gibt es am 20. und 22. Oktober im Haus der Berliner Festspiele Semiramide, sogar mit einer „Szenischen Einrichtung“. Man kann gespannt sein, von welchen Sängerleistungen man dann überrascht wird.

Übrigens wurde die Aufführung von Lakmé leicht zeitversetzt von RBB Kultur übertragen und ist noch 30 Tage lang abrufbar.

28. September 2022 / Ingrid Wanja

Fotos Marcus Lieberenz