Berlin: „War Requiem“, Benjamin Britten

Einmalige Aufführung am 10. September 2021

Kein Zufall sollte es sein, dass der Beitrag der Deutschen Oper Berlin innerhalb der Berliner Festspiele genau auf den Vorabend des 20. Jahrestages der Terroranschläge am 11.9. 2001 gefallen ist, denn welches Musikstück drückt besser als Benjamin Brittens War Requiem den Zustand zwischen wenn auch säkularisierter Glaubensgewissheit und Zweifel aus, in dem sich die westliche Welt seitdem befindet. Und wenn am Schluss des Requiems, das zur Einweihung der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry 1962 uraufgeführt wurde, die bisherigen Feinde in einem Duett ihre Stimmen miteinander vereinen, dann dürfte der Zweifel vorherrschen, dass jemals eine Versöhnung und Verständigung zwischen den heute sich feindselig gegenüberstehenden Lagern möglich sein wird. Ein Requiem, in dem ein amerikanischer Tenor und ein islamistischer Bariton ihre Stimmen miteinander vereinen wie bei der Uraufführung Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau, dürfte es wohl nie geben, eine Einsicht, die ihren Schatten auch auf den wunderbaren Abend in der Berliner Philharmonie wirft. So dürfte der Vorspruch des Dichters Wilfred Owens zu seinen Gedichten, die von Britten mit der lateinischen Liturgie verflochten wurden, zur traurigen Gewissheit werden: Der Dichter kann nichts ändern, er kann nur warnen.

Das ändert natürlich nichts daran, dass dem die Philharmonie fast bis auf den letzten Platz füllenden Publikum ein erlesener Kunstgenuss geboten wurde, schließlich ist der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper, Sir Donald Runnicles, der wohl beste Kenner und zugleich auch Anwalt des britischen Komponisten, und es ist kein Zufall, dass auf dem Spielplan des Hauses Billy Budd, Ein Sommernachtstraum (gerade wieder zu erleben), Der Tod in Venedig und Peter Grimes stehen. War Fischer-Dieskau nach eigener Aussage „innerlich völlig aufgelöst“ nach der Aufführung des Requiems, so verhalf der Dirigent dem Werk zu langen Augenblicken der absoluten Stille, indem er die Arme nach dem Verklingen des letzten Tons gar nichtmehr sinken lassen wollte. Danach aber entlud sich die Begeisterung des Publikums in schier endlosem Applaus für eine Aufführung, an der Chor und Kinderchor, großes Orchester wie Kammerorchester und die drei Gesangssolisten gleichermaßen ihren Anteil hatten.

D

er Sopran von Flurina Stucki, die am Haus bereits u.a. Konstanze und Erste Dame sang, klang frisch, rund und wunderschön aufblühend in der Höhe für die liturgischen Teile bis hin zum und einschließlich des Libera me. Tenor Matthew Newlin Hatte die Peter-Pears-Partie übernommen und erfüllte sie mit einer schlanken, klaren, eindringlich beschwörenden Stimme. Bariton Markus Brück glänzte wie gewohnt durch ein besonders schönes Timbre, durch eine hervorragende Diktion, durch Facettenreichtum und Eindringlichkeit. Der Kinderchor (kein Knabenchor) unter Christian Lindhorst hatte sogar eine Art Choreographie einstudiert, wahrscheinlich weil seine Mitglieder nicht geimpft sein konnten, hielt aber stets eine räumliche Trennung der einzelnen Mitglieder ein und sang ein besonders eindringliches Domine. Der Chor der Deutschen Oper unter Jeremy Bines machte auch an diesem Abend seinem Ruf alle Ehre, so durch ein wunderbares Crescendo im Sanctus, mit einer Steigerung ins fast Unerträgliche im Libera me. Extrem weit war die die Spanne, die das Orchester zwischen dem filigranhaften Zusammenspiel mit dem Bariton und dem gewaltigen Einsatz von Bläser und Schlagzeug im Dies irae durchmaß, das Engagement seines Dirigenten für das Werk hatte sich hörbar auf das Orchester übertragen und beflügelte es zu einer mitreißenden Aufführung. So ging der Besucher tief aufgewühlt und beglückt zugleich, aber nicht wie der Konzertgänger des Jahres 1962 in der freudigen Hoffnung auf Versöhnung in die Berliner Nacht hinaus.

11. September 2021, Ingrid Wanja

Bilder (c) Marcus Lieberenz