Hamburg, Konzert: „Mahler 2.“, unter Klaus Mäkelä

Gustav Mahler hing ein bißchen fest. Gerade arbeitete er an der Komposition eines Werks, das in seiner Erhabenheit alles übersteigen sollte, was die Welt bislang an Symphonik erlebt hatte. Nur zum Finalsatz seiner 2. Symphonie fehlte ihm noch der richtige Einfall. Am 29. März 1894 saß der junge Mahler, seit drei Jahren Erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater, im Trauergottesdienst für den großen Dirigenten Hans von Bülow in der Hauptkirche St. Michaelis und hörte Klopstocks „Auferstehn“, intoniert von einem Knabenchor. „Wie ein Blitz traf mich dies, und alles stand ganz klar und deutlich vor meiner Seele! Auf diesen Blitz wartet der Schaffende, dieß ist »die heilige Empfängnis«!“ In diesem Moment war ihm klar, wie er die Symphonie, an der er seit 1888 arbeitete, beenden würde. Klopstocks Text aus seinem „Messias“ wurde zum Zündfunken, Mahler arbeitete den Text um und beendete den letzten Satz des kolossalen Werkes.

Vor einigen Jahren, als der Rezensent an der Ausstellung unter Hamburgs Wahrzeichen zum Thema „Musik im Michel“ arbeitete, kam die Frage auf, welche Vertonung Mahler bei der Trauerfeier gehört haben mochte. In seinen Briefen steht nichts darüber, aber es deutet alles darauf hin, daß es sich um einen Choral von Carl Philipp Emanuel Bach handeln muß, der damals im „Michel“ erklang. Gute 800 Meter Luftlinie davon entfernt, war Mahlers „2.“ am 19. März in der Elbphilharmonie zu erleben und wer dieses Konzert genießen durfte, wird es so schnell nicht vergessen.

Unter dem jungen finnischen Dirigenten Klaus Mäkelä, designierter Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw Orkest, spielte das Orchestre de Paris zuvor als deutsche Uraufführung das nur 10-minütige Stück „Im Entschwinden“ des deutsch-französischen Komponisten Mark Andre. In der Retrospektive nach dem Konzertabend war es tatsächlich fast entschwunden, wurde es doch in seiner fragilen Zartheit beinahe von der Mahler´schen Wucht erschlagen. Diese Komposition thematisiert die Auferstehung bzw. die Nicht-Faßbarkeit des auferstandenen Jesus am Ostermorgen. Musikalisch geht der Komponist dabei an die Grenzen und übersteigt die instrumentale Wiedergabe von Tönen durch beispielsweise Rascheln mit den Notenblättern, Händereiben, Kratzen und Scharren der Streicherbögen oder das Zupfen der Klaviersaiten im offenen Flügel mit den bloßen Fingern. Zwischen diesen sanft-schroffen Lauten erklingt immer wieder ein Streichergrollen mit harten Akzenten durch tiefe Blechbläser und Schlagwerk, Donnerbleche lassen an die finstere, angstvolle Unruhe auf Golgatha unter einem wolkenverhangenen Himmel denken. Rhythmisches Pochen wirkt wie ein Herzschlag, von Mäkeläs Armen wie mit den Bewegungen eines Uhrpendels vorgegeben. Der Dirigent ist hochkonzentriert und wechselt vom breitbeinigen ruhigen Stand schnell in gebeugte, in das Orchester dringende Haltungen; mit raschen Handbewegungen hebt er oszillierendes Violinen-Flirren hervor.Zwei in der Luft geschwungene Plastikrohre ergeben ein archaisches Schwirren, das unterschwellig die anderen Klänge begleitet. Fast möchte man die schabenden Geräusche der hohen Streicher mit dem sich in der Grabkammer erhebenden Jesus assoziieren, der innen am Stein kratzt, um mit dem Engel in Verbindung zu treten, der den schweren Block dann vom Eingang wälzen wird.Das nicht ganz bequeme, aber ungemein reizvolle und feinnervige Stück wird vom Publikum mit ausgesprochen herzlichem Beifall bedacht, einzelne „Bravo!“-Rufe sind zu hören. Zum Applaus winkt der sympathische Dirigent den bescheidenen, fast unsicher wirkenden Komponisten nach vorne.

Und dann Mahler. Klaus Mäkelä war zuvor mit seiner Interpretation der 2. Symphonie in manchen Kritiken fast durchgefallen. „Zu wenig Tiefe“ wurde ihm attestiert, aber was gestern in der „Elphi“ unter seiner engagierten Leitung zu hören war, überstieg alle Erwartungen. Den ersten Satz, die „Todtenfeier“, geben er und das phantastische Orchestre de Paris weit weniger düster und durch die unglaubliche, mitunter dissonante Tutti-Gewalt niederdrückend, als er oft erklingt. Die sonnigen Blumenwiesen und die liebevollen Erinnerungen an ein reiches Leben in diesem Satz, der schon fast Symphonie-Dauer hat, beleuchtet Mäkelä stärker als viele andere Dirigenten. So läßt er gar nicht zu, daß falsches Pathos entsteht, der Satz erhält etwas Leuchtendes trotz der schwärzesten Trauer. „Allegro maestoso“ ist er überschrieben und das Majestätische daran hat Mäkelä klar erkannt. Trotz des Ernstes lächelt er fast durchgehend; er hat sichtbar Freude an dieser großartigen Musik und die überträgt er mit bubenhaftem Charme auf das Orchester. Aber klar und hart schlägt er mit waagerecht ausgreifenden Armbewegungen nach außen, wenn es gilt, den entsetzlichen Schmerz, der diesen Satz eben auch durchzieht, fühlbar zu machen. Der anmutige zweite Satz mit seiner hinreißenden, leichten Menuett-Melodie, die so mühelos ihre lieblichen Schleifen schwingt, steht in krassem Gegensatz zum Eingangssatz. Mäkelä gibt der Unbeschwertheit dieses musikalischen Kleinods mit tänzerischen Bewegungen hingebungsvoll Ausdruck.

Das Lied „Des Hl. Antonius von Padua Fischpredigt“ in leichtfüßigem Dreivierteltakt dominiert den dritten Satz und damit zieht der für Mahlers erste vier Symphonien so typische Wunderhorn-Ton ein. Die Satire auf die Menschen, die wie die tumben Fische die Predigt zwar hören, ihren Inhalt aber ignorieren, bildet ein liebenswertes Gegengewicht zu dem, was noch alles folgt. Auch der vierte Satz, das berühmte „Urlicht“, nimmt ein „Wunderhorn“-Lied auf. In „O Röschen rot“ erzählt in kindlicher Naivität eine zarte Seele von ihrem Weg zu Gott und hin zum ewigen, seligen Leben. Wiebke Lehmkuhl singt dieses zarte Lied mit berückender Innigkeit und ohne jegliche Prätention. Ebenso wie der Dirigent setzt sie sich in den Dienst des Werks; ihre volle, aber sanfte Alt-Stimme erhebt sich ohne Mühe über das Orchester und fügt sich darin ein.

Der fünfte Satz ist wie ein Klang-Gebirge mit hochaufragenden Felsmassiven und einer ehrfurchtgebietenden Größe. Daß man sich diesem Heiligtum nur mit Demut und zugleich vollem Einsatz nähern darf, hat Mäkelä im Tiefsten begriffen und das ist bei allen anderen Mitwirkenden ebenso zu vernehmen. „Wild ausbrechend“, hat es sich Mahler vorgestellt und diesen Ausbrüchen stehen die aus der Ferne rufenden Horntöne entgegen, in denen Mahler die typischen Quint-Sprünge des Schofar-Horns aufnimmt, das bei wichtigen jüdischen Feiertagen geblasen wird. An „die Stimme, die in der Wüste ruft“ dachte Mahler dabei und letztlich werden hier die Posaunen des Jüngsten Gerichts angedeutet.

Das zentrale Thema der Auferstehung erscheint im Sopran-Solo von Mari Eriksmoen, die in den tieferen Passagen etwas hohl klingt, in den Höhen aber gewinnt. Zusammen mit der Altistin schwingt sie sich in der Folge zu einer hymnischen Beschwörung des Glaubens an das ewige Leben auf. Der von Alice Meregaglia einstudierte Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor sucht nur im ersten Ton nach seinem Zusammenhalt, faßt sich aber sofort und entläßt die Botschaft von der Vergänglichkeit und der Hoffnung auf die Auferstehung mit größter Kraft in den Saal. Das „Bereite dich“ ist ein Weckruf mit der Kraft eines beseelten Propheten, dann verschlingen sich die Stimmen von Alt und Sopran ineinander, bevor der fast hundertköpfige Chor zum triumphierenden, überragenden Bekenntnis des Glaubens an das Übersteigen der irdischen Existenz ansetzt.

(c) Andreas Ströbl

Trotz der mehrfachen Fortissimo-Stellen im riesigen Orchester dringen Stimmen und Instrumente alle klar durch und erheben sich zum Finale – etwas, das mit Worten nur dürftig umrissen werden kann, weil es an erhabener Großartigkeit alles Sagbare übersteigt. Wenn es einen Gott gibt, dann spricht er durch Gustav Mahler. Nach dem gewaltigen Tutti der letzten Klänge verschafft sich ein begeistertes Publikum durch tosenden, kaum enden wollenden Beifall Erleichterung, viele haben Tränen in den Augen.

Klaus Mäkelä nimmt den Applaus bescheiden und immer als Teil der Gesamtheit entgegen, er hat, wie alle Beteiligten, wirklich alles gegeben. Mit diesem Ensemble hat ein musikalisches Heiligtum die Wiedergabe bekommen, das es verdient – glücklicherweise auch ein Publikum, das durchweg diszipliniert gelauscht hat. Was für ein Erlebnis!

Andreas Ströbl, 21. März 2023


Mark Andre „Im Entschwinden

Gustav Mahler „Symphonie Nr. 2 c-moll

19. März 2023

Hamburg, Großer Saal der Elbphilharmonie

Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg

Alt: Wiebke Lehmkuhl

Sopran: Mari Eriksmoen

Musikalische Leitung: Klaus Mäkelä

Orchestre de Paris