Hamburg: Mahler | Schostakowitsch

PARALLELEN UND BERÜHRUNGSPUNKTE

Dimitrij Schostakowitsch war ein großer Bewunderer der Werke von Gustav Mahler. Beide haben in ihrem großen sinfonischen Œuvre persönliche, schmerzhafte Erfahrungen und Empfindungen verarbeitet. Im Programmheft zu diesem Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters, das aus Werken der beiden Komponisten bestand, wird darauf verwiesen, dass beide Meister auch dem Spott nicht abgeneigt waren. So erklären sich manche zum Grotesken neigende Passagen in ihren Werken. Es scheint kein Zufall gewesen zu sein, dass sich Schostakowitsch im Kopfsatz seiner fünften Sinfonie in einer Tonfolge genau auf DES ANTONIUS VON PADUA FISCHPREDIGT aus Mahlers Wunderhorn- Liedern bezogen habe, wie der Musikwissenschaftler Jakob Knaus analysierte.

DIKTIONSPROBLEME

Die so vielschichtige Partitur Mahlers in seinen WUNDERHORN-LIEDERN, die vom NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada mit tiefgründiger Subtilität die unterschiedlichsten Stimmungen erfassend interpretiert wurde, fand im Solisten, dem Bariton Matthias Goerne einen nicht restlos adäquaten Partner. Seine Diktion klang verquollen, Konsonanten wurden dem runden Klang geopfert und so verstand man kaum ein Wort. Der Schönklang seines angenehmen Timbres war durchaus zu erleben, leider ist das für Lieder zu wenig. Fast alle im Publikum lasen die Texte im Programmheft mit, kaum einer guckte auf das Orchesterpodium. So hörte man zwar schön gesungene Vokalisen, wunderbar eingebettet in den Orchesterklang, aber ohne Mitlesen des Textes offenbarten sich diese exquisiten Kunstlieder nicht in ihrer Gänze.

Gewaltige Orchesterexplosionen, groteske Märsche (REVELGE), Tragik (DER TAMBOURSG’SELL), exzellentes Blech (Hörner, Trompete im URLICHT), zart hingetupfte Wellen und ironische Wendungen (FISCHPREDIGT) und wiegender Duktus (RHEINLEGENDCHEN) machten diese sieben Lieder aber zu einem zumindest orchestralen Erlebnis.

IDIOTEN UND TROTTEL

Über das effekthascherische, stampfende Marsch-Finale in Schostakowitschs Fünfter ist viel geschrieben worden. War das nun Anpassung an den Stalinschen Musikgeschmack oder subtile Hinterfragung und Sarkasmus? Mstislav Rostropovich z.B. sagte: "Wer das Finale als Glorifikation empfindet, ist ein Idiot – ja, es ist ein Triumph für Idioten." Der Komponist selber schrieb in seinen Memoiren: "Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen … Man muss ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören." Nun, das Publikum gestern Abend in der Elbphilharmonie legte noch, ehe der Schlusston ganz verklungen war, mit lautstarkem Applaus und Jubel los, kein Moment der Reflexion, des Wirken lassens des Gehörten auf die Seele. Natürlich kann man sich der Faszination der martialisch stampfenden Marschrhythmen nur schwerlich entziehen, wenn man die Hintergründe der Entstehung der Sinfonie nicht kennt, nicht weiss, dass Schostakowitsch kurz vor dem Suizid stand aufgrund seiner kurz vorher erfolgten Ächtung durch das stalinistische Regime.

Der erste Satz ging bei dieser Aufführung unter die Haut, die Schmerzensschreie der Violinen waren kaum auszuhalten. Exzellent intonierten erneut die Hörner des NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTERS. Andrés Orozco-Estrada lotete die mystischen Stellen des Satzes wunderbar aus. Trotz des aufgeregten Duktus dieser Passagen, wirkte das alles nicht nervös. Transparent klangen die wuchtigen Aufschwünge, die stürmischen Tutti – die Akustik der Elbphilharmonie hält das bis zur Schmerzgrenze aus, ohne den Klang breiig und lärmig zu machen. Betörend schön und ergreifend verklingt der Satz mit Flöte und Celesta. Im Allegretto bewunderte man die genau und perfekt artikulierenden Holzbläser, die wunderschön gespielten Passagen der Solovioline des Konzertmeisters, denen die Flöte antwortete, Freude, Volkstümlichkeit und trotzige Wucht im Wechsel mit Innerlichkeit – das Vorbild "Mahler" schimmert auch hier durch. Schostakowitsch braucht vier Töne und stellt den Hörer mitten hinein in den tragischen dritten Satz, ein überwältigendes Largo mit geradezu äolischen Stimmungen (Harfenklänge, Soloflöte – traumhaft, Flageolet der Violinen, eine Innigkeit, die nicht von dieser Welt schien). Insgesamt schuf Orozco-Estrada hier einen hypnotischen Sound, der einmalig zart verklang und dann eben zum bitterbösen, brachialen Finalsatz führte.

Immer mal wieder klingelte ein Smartphone (die haben wohl einen Chip eingebaut, der das Klingelzeichen genau dann aussendet, wenn die Musik sich im Pianissimobereich befindet). Hinweis an alle Nichtwissenden: Jedes Handy verfügt über eine Flugmodus Funktion, die Anrufe und Benachrichtigungstöne unterbindet. Ist in der Kopfleiste im Scroll down ganz einfach zu aktivieren. Ach ja – und bei einem Liedzyklus kann man getrost auf Zwischenapplaus verzichten, die Ausführenden sind nicht beleidigt, wenn nicht nach jedem Lied applaudiert wird – im Gegenteil. Vielleicht hatten ja Rostropovich und Schostakowitsch doch Recht: Idioten und Trottel … .