Essen: „Pagliacci“

Premiere: 03.06.2021, besuchte Vorstellung: 13.06.2021

Ein Alptraum

Lieber Opernfreund-Freund,

auch das Aalto-Theater Essen nutzt die gelockerten Coronaschutzmaßnahmen, um dem Publikum das eine oder andere Liveerlebnis zu präsentieren, bevor es in die Spielzeitpause geht; dafür trennt man die sonst als fast siamesisch wahrgenommenen Opernzwillinge Cavalleria rusticana und Pagliacci und zeigt den zweiten in einer düsteren Inszenierung von Roland Schwab, die die Grenze zwischen Realität und Wirklichkeit, die im Stück ja angelegt ist, gleich mehrfach bricht.

Zu Beginn des Abends ist Nedda schon tot. Sie hat ihre Liebe zu Silvio und die versuchte Flucht mit dem Leben bezahlt. Dahingemeuchelt hat sie ihr Ehemann Canio, besessen von ihr und von der Kunst. Demonstrativ trägt er immer wieder ein Schild um den Hals, das die Aufschrift Theater muss sein trägt – vielleicht eine nicht ganz versteckte Botschaft an die Politik die im vergangenen Jahr alles Mögliche für systemrelevant erklärte, Kunst und Theater jedoch nicht. Während des Vorspiels zeigt ein Film die vollendete Bluttat, die Handlung der Oper wird also zur Erinnerung, zum Trauma, zum erneuten Erleben des Vergangenen. Doch in wessen Kopf spielt sich das ab? In Canios? In Tonios? In unserem?

Roland Schwab präsentiert seine alptraumhaften Bilder wie eine fratzenhaft verzerrte Realität, mit den Zerrspiegeln in einem Spielkabinett vergleichbar. Die Beweggründe der Protagonisten bleiben schemenhaft, nur Tonios Rolle ist von seinem ersten Auftritt an klar. Er ist der Strippenzieher – nicht nur, weil er während des Prologs Canio an einer Kette auf die Bühne zerrt und ihn zum Spielen animiert, sondern auch weil er durch sein Tun die Handlung vorantreibt. Seine eigene gekränkte Eifersucht macht ihn zum eigentlichen Mörder Neddas. Leider gibt der Besetzungszettel keine Auskunft darüber, wer für Maske und Ausstattung verantwortlich zeichnet, sonst könnte ich jetzt über die Maßen loben – u.a. für das an Assoziationen reiche Bild, Tonio eine entstellte Wange zu verpassen, die an das Phantom der Oper erinnert, dem man die Maske vom Gesicht gerissen hat. Oder für die düsteren Requisiten mit Anleihen in der Fetischszene, lackrote Pumps oder Neddas Flügel, die sie sich vom Rücken reißt und Canio vor die Füße schleudert – sein Engel will sie nicht mehr sein. Bildgewaltig ist das zweifelsohne, Erklärungen liefert es nicht.

Auch die Erinnerungsebene als zusätzliche Dimension neben Realität und Theater auf der Bühne geht nicht ganz auf. Zu wenig abgegrenzt ist der zweite Akt vom ersten, das Theater im Theater wird nicht als solches wahrgenommen, sondern als allenfalls besonders bizarr-skurriles Zwischenspiel. So lässt mich die szenische Interpretation, die man schon Ende 2020 einstudiert hatte, dann aber pandemiebedingt doch nicht zur Aufführung bringen konnte, teilweise ratlos zurück. Auch akustisch habe ich Schwierigkeiten: die Sänger kommen teilweise kaum über den Graben. Das mag an fehlenden Bühnenaufbauten liegen, die den Schall in diese Richtung lenken könnten – nach hinten ist alles offen, lianenartig von der Decke hängende Lichterketten und die Lichter eines angedeuteten Zirkuszelts sind die einzigen Kulissen (Bühne: Piero Vinciguerra). Gespielt wird coronagerecht eine Fassung für reduziertes Orchester von Francis Griffin, was aber wegen der ausgezeichneten Arbeit von Robert Jindra nicht weiter auffällt. Voller Verve entfacht der aus Prag stammende Dirigent die volle Klangfülle von Leoncavallos Partitur, findet dabei aber immer wieder den Schwenk hinüber zu schwelgerisch-romantischen Passagen oder purer Lebensfreude und zeigt so eine facettenreich schimmernde Interpretation voller Italianità.

Das Sängerensemble zeigt sich durchweg solide. Sergey Polyakov ist ein höhensicher auftrumpfender, intensiv spielender Canio voll mitreißender Mimik; die Nedda der Niederländerin Gabrielle Mouhlen, bis vergangenes Jahr Ensemblemitglied am Aalto, besticht mit warmem Timbre und immensem Ausdruck; Seth Carico gibt mit eindrucksvollem Bariton den Canio, auch wenn ich mir von dem von Schwab besonders fies gezeichneten Fiesling ein wenig mehr Schwärze in der Stimme erwartet hätte. Der Beppo von Carlos Cardoso erfreut mich mit seinem Harlekinständchen und zeigt dabei neben komödiantischem Gespür auch seinen klangschönen Tenor; dagegen bleibt Tobias Greenhalgh als Neddas Liebhaber Silvio vergleichsweise blass. Der Chor, von Jens Bingert betreut, ist glänzend disponiert, singt aus dem Zuschauerraum und befeuert so noch die Verschmelzung von Realität und Theater.

Das Publikum ist begeistert, strömt aber gewohnt zügig Richtung Ausgang. Doch da hat man die Rechnung ohne die Saalordner gemacht, die die Zuschauer teils rüde auf ihre Plätze verweisen. Dort wartet man, bis ein geordnetes Abrufen der einzelnen Reihen ein pandemiegerecht geordnetes Verlassen des Saales ermöglicht. Eine entsprechende Ansage VOR der Vorstellung hätte da vielleicht geholfen, die allgemeine Verwirrung zu verhindern – es reicht doch, wenn einen die Inszenierung verwirrt.

Ihr
Jochen Rüth

14.06.2021

Die Fotos stammen von Matthias Jung.