Premiere am 27.1.2018
Eine Love-Affair, die durch Rotbart zerstört wird
Im Jahr 2018 feiern wir den 200 Geburtstag des großen Choreographen Marius Petipa. Nicht nur deshalb, sondern auch weil "SCHWANENSEE einfach in jedes Repertoire gehört" (so Ballettdirektor Ben Van Cauwenbergh), war eine neue Produktion fürs Aalto Theater überfällig. Immerhin stammte die letzte Version des wunderbaren Werkes noch aus der Vor-Cauwenbergh-Zeit. Stephan Toss hatte das Ballett 2006, meiner damaligen Meinung nach, ausgesprochen verhunzt. ("Verdrießliches zwischen Mitternacht und Morgen")
Modernisierungen von Schwanensee gelingen selten. Ich kenne eigentlich nur eine richtig tolle, nämliche die legendäre von Matthew Bourne mit seiner grandiosen West-End-Produktion (London 1996) – immerhin noch auf DVD erhältlich.
So ist es richtig, was Cauwenbergh stets in Gesprächen betont, nämlich, daß ihm als gesamtverantwortlichem Ballettchef ein volles Haus immer wichtiges Primärziel sei: "Ich bin hier angestellt, um mein Publikum zu pflegen – dabei muss ich das Gleichgewicht halten und es in viele Richtungen bedienen – zeitgenössisch und auch klassisch". Genau! Ist das etwas ein Memento Mori an die Nachbarn in der NRW-Landeshauptstadt – Stichwort "Martin Schläpfer"? Wenn ja, würde ich dem hundertprozentig zustimmen.
Heuer in Essen nun geht es sehr publikumsfreundlich zu. Überhaupt erscheint dieser SCHWANENSEE als eine Produktion, mit der man nicht unbedingt die teilweise schwermütig depressiven Ballett-Kritiker des modernen Tanzes begeistern will, sondern eher das normale Volk der Abos, Volksbühnen und Theatergemeinden unterhalten. Das sollte gelingen, denn spätestens alle fünf Minuten im Schnitt wird den Zuschauern ausgiebig Zeit und Raum für herzliche Akklamationen gegeben. Nicht nur die großen Solisten genießen das stetige Baden im Beifall vorne an der Rampe. Entsprechend verlängert sich natürlich die Aufführungsdauer auf über drei Stunden.
Ben Van Cauwenbergh orientiert sich an der Choreographie Petipas, entwickelt aber seine eigene Interpretation. Durch den Einbau von Traumbildern (tolle Videos von Valeria Lampadova) wird der Geschichte etwas mehr Realismus verliehen.
Der Prinz schläft ein und träumt eigentlich die ganze Story. Zwar geht er am Ende in den Fluten des Sees unter, während die 18 Schwäne im Hintergrund kühn in die Obermaschinerie hochgefahren werden – das tollste Bild des Abends ! – aber Cauwenbergh liebt das Happy End und so erscheint dann wieder das Ambiente des Parks am See und erlöst uns Trauernde. Fazit: alles ist nur geträumt. Das Leben kann doch soooo (!) schön sein ;-)… im Märchen.
Die Kostüme von Dorin Gal sind prachtvoll. Die Teller-Tutus der 18 Schwäne sind ein weißer Traum! Wie verlautet, benötigte allein das Outfit Rotbarts, wo nicht nur echte Hahnenfedern verwendet wurden, sondern auch unzählige Schwanenfedern aus Stoff nachgefertigt wurden, über 100 Stunden Handarbeit; für jedes Tutu brauchte man mindestens 40. Was für ein gigantischer Aufwand. Großes Lob an die fleißigen Schneiderwerkstätten.
Ein Fest für die Sinne ist auch das Bühnenbild – ebenfalls Dorin Gal. In den Akten zwei und vier arbeitet man mit viel kontrolliertem Nebel. Die riesigen, mit Luft bewegten Stoffbahnen des Sees sind ein augenzwinkerndes Apercu an die Entstehungszeit. Herrlich…
Aus dem insgesamt künstlerisch passabel lobenswerten Ensemble seien die überragenden Solisten benannt und besonders hervorgehoben, auch weil sie ästhetisch so wunderbar zusammenpassten: Odette / Odile (Mika Yoneyama) mit ihrem Traumprinzen Siegfried (Liam Blair) tanzen wie aus einer anderen Welt kommend. Pas de Deuxs von hinreißender Schönheit, Hebefiguren von schwerkraftloser Eleganz und Pirouetten von unglaublicher Präsenz – da jubelt das Publikum. Das möchte man sehen.
Besonders erwähnen möchte ich Moisés León Noriega (Rotbart). Mit ihm hat man in Essen einen Tänzer von absolutem Weltklasseformat. Er fiel mir schon als der überragende Tänzer im NUSSKNACKER auf. Er wird sicherlich seinen Weg in die ganz großen Balletthäuser dieser Welt finden. Was für ein überragender Künstler!
Last but not least gibt es ein Sonderlob des Kritikers (welches am Ende auch durch schlagartige Standings Ovations des Publikums bestätigt wurde) für den hochtalentierten Mann am Pult der Essener Philharmoniker, nämlich Johannes Witt, der uns wie schon im "Nussknacker", mit bestens schwelgendem und rubatoreichen Tschaikowsky superb unterhielt. Ein Ausnahmedirigent, den man im Auge behalten sollte, denn es ist ja gerade die Livemusik, die einen traumschönen Ballettabend so zum großen Erlebnis macht.
Alviano Salvago 28.2.2018
Wunderbare Bilder von Bettina Stöss
* Zitat im Subtitle von Ballettchef Cauwenbergh
Credits
Musikalische Leitung: Johannes Witt
Choreographie: Ben Van Cauwenbergh
Bühnenbild und Kostüme: Dorin Gal
Videoprojektion: Valeria Lampadova
Licht: Bernd Hagemeyer
Dramaturgie: Svenja Gottsmann
Essener Philharmoniker/Solovioline: Florian Geldsetzer
Odette / Odile – Mika Yoneyama
Siegfried – Liam Blair
Benno – Davit Jeyranyan
Rotbart – Moisés León Noriega
Königin -Annette El-Leisy
Diener / Hofmeister – Harry Simmons / Raphael Baronner
Pas de trois – Yanelis Rodriguez, Yurie Matsuura, Davit Jeyranyan
Walzer – Carla Colonna, Yuki Kishimoto, Ekaterina Mamrenko, Julia Schalitz, Yulia Tikka, Ana Carolina Reis, Ige Cornelis, Nwarin Gad, Yehor Hordiyenko, Qingbin Meng, Take Okuda, Alexander Saveliev
Damen -Vivian de Britto Schiller, Larissa Machado, Anna Maria Papaiacovou, Amari Saotome, Sena Shirae, Arina Varentseva
Große Schwäne -Maria Lucia Segalin, Mariya Tyurina
Kleine Schwäne – Yusleimy Herrera León, Yuki Kishimoto, Yurie Matsuura, Yulia Tikka
Schwäne – Corps de ballet
Ungarischer Tanz – Maria Lucia Segalin, Yehor Hordiyenko, Vivian de Britto Schiller, Larissa Machado, Anna Maria Papaiacovou, Amari Saotome, Sena Shirae, Arina Varentseva
Spanischer Tanz – Adeline Pastor, Aidos Zakan
Italienischer Tanz -Yuki Kishimoto, Yulia Tikka, Denis Untila
Polnischer Tanz – Yurie Matsuura, Alexander Saveliev, Carla Colonna, Julia Schalitz, Ige Cornelis
Russischer Tanz – Yanelis Rodriguez, Armen Hakoby