Baden-Baden: „Berliner Philharmoniker“, Mahler und Schönberg

Richard Strauss, dessen Werke einen Programmschwerpunkt der diesjährigen Osterfestspiele Baden-Baden bilden – hatte es in seiner Position als Generalmusikdirektor der Berliner Philharmoniker noch abgelehnt, Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke uraufzuführen. Unterdessen ist dieses Werk zum Glück längst im erweiterten Repertoire des Orchesters angekommen und wurde gestern Abend dem Publikum im Festspielhaus als Eröffnung Stück von eben diesen Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Daniel Harding präsentiert. Schönbergs atonales Werk gehört ganz eindeutig in den Konzertsaal, das hat die Aufführung gestern Abend mit aller Deutlichkeit bewiesen. Nur in einem Live-Erlebnis erschließt sich den Hörer diese absolute Musik. Das spürte man unmittelbar, denn im riesigen Saal des Festspielhauses herrschte eine beinahe atemlose, gespannte und konzentrierte Stille.

(c) Osterfestspiele Baden-Baden

Schönberg hatte die fünf Stücke sehr kurz gehalten, je drei bis vier Minuten dauern sie nur. Die fünf „Sätze“ faszinieren durch Rhythmen, Klangfarbe und ziehen nicht zuletzt dank den fantastischen Leistungen der Musiker in ihren Bann. Feine Zwischentöne werden im ersten Stück in die kontrastreiche Dynamik eingebettet, zarte Melancholie herrscht im zweiten Satz (Vergangenes) vor – Schönberg zum Liebgewinnen, verblüffend. Genuin die Solobratsche, spätromantisch wehen Celestaklänge herein ein Hauch von Klangmagie. Daniel Harding hält die Fäden mit ruhiger, souveräner Hand zusammen. Im dritten Stück (Farben) wird der Klang flächig, hypnotisierend. Irre gut! „Peripetie“ nannte Schönberg das vierte Stück (notgedrungen, weil der Verleger Titel wollte und das Publikum sich nicht zuletzt wegen Strauss‘ Tondichtungen anscheinend an Programmmusik gewöhnt hatte). Hier nun wird die Musik schneller, auch grell, aber nie hysterisch. Das wird von Harding geschmackvoll austariert, genauso wie im letzten Satz (Das obligate Rezitativ), das mit einem musikalischen Fragezeichen endet und uns verblüfft, amüsiert und bereichert in die Pause entlässt.

Nach der Pause dann der brutale Wurf in den Trauermarsch von Mahlers fünfter Sinfonie. Die Trompetenfanfare von einer Sauberkeit der Intonation, die nicht von dieser Welt zu stammen scheint. Überhaupt befindet sich die Qualität des Orchesters auf allerhöchstem Niveau. War man schon am Abend zuvor von diesem Orchester geflasht, so steigerte sich die Begeisterung über das exzeptionelle Können der Musiker nun noch, da man sie auf der Bühne erleben durfte, die Musik noch unmittelbarer aufs aufnahmebereite Ohr traf. Daniel Harding ließ den Trauermarsch nie allzu schwer oder gar rührselig werden, suchte und fand immer die großen Bögen, ließ das Orchester in langen, runden Phrasen atmen und auch den Ländler prominent in den Trauerzug hereinwehen. Der zweite Satz wurde über lange Strecken von den ergreifend „singenden“ Celli geprägt, farbig unterstützt mit präzisen Einwürfen der Holzblasinstrumente. Klangliche Klarheit herrschte auch in den nun aufkommenden stürmischen Passagen, meisterhaft organisch wurden die Übergänge vom Piano zu vollem Streicherrausch gemeistert, glorios die Kulminationen erreicht. Auf eine schon apotheotische Verklärung folgte ein Zurückfallen in Schmerz. Das ausladende Scherzo steht als singuläres Zentrum der Sinfonie da. Bewegt, locker und präzise (die Hörner!) wurde in den Tanzstrudel eingestiegen, schöne Echowirkungen erzielt, herrlich tragfähige Piani ließen aufhorchen.

Die Pizzicato-Passagen wurden zu einem Erlebnis an Akkuratesse. Fulminant ging’s weiter, hereinwehende Tänze explodierten lustvoll im Tuttiklang des vollen Orchesters, bevor erneut die Reminiszenz des Trauermarsches dem Spuk ein Ende bereitete. Doch nach kurzer stiller Reflexion bäumte sich ein exaltierter Schluss auf – und mündete in das weltberühmte Adagietto (spätestens seit Viscontis Film Inbegriff von Wehmut und Abschied). Doch das Adagietto war schon zu Lebzeiten Mahlers der populärste Satz seiner Sinfonie. Richard Strauss, der Mahler eigentlich bewunderte, befand ihn aber als den schwächsten Satz der Fünften. Wie dem auch sei, auch unter den Bogenstrichen der wunderbar spielenden Streicher der Berliner Philharmoniker mit der Harfenbegleitung und der einfühlsamen Lenkung durch Daniel Harding verfehlte das Stück seine direkt zu Herzen gehende Wirkung nicht. Im Rondo des Schlusssatzes folgte nach dieser ergreifenden Liebeserklärung, die wie ein Intermezzo sinfonico in einer veristischen Oper da steht, das brillante und fulminante Einschwenken auf die Zielgerade, mit orgiastischen Klangkulminationen; rasende und mit ultraschneller Präzision gespielte Begleitfiguren der Streicher trugen das Blech zu gleißend strahlenden Gipfeln – und zu tosendem Applaus des für dieses Klangerlebnis dankbaren Publikums. Im leider nicht restlos ausverkauften Festspielhaus, verbreitet der Name „Schönberg“ etwa immer noch Angst, Schrecken, Abneigung? Das wäre zu bedauern.

Kaspar Sannemann, 4. April 2023


Baden-Baden

Osterfestspiele

2. April 2023

Gustav Mahler: 5. Symphonie

Arnold Schönberg: Fünf Orchesterstücke. op. 16

Dirigat: Daniel Harding

Berliner Philharmoniker