Genf: „Götterdämmerung“

Vorstellung am 17.03.2019

Das Schicksalsseil der Nornen ist gerissen, sie wissen nicht, was sein wird. Doch wir Zuschauer wissen nach 5 Stunden und 15 Minuten zumindest, was war: Wir haben an einer exzeptionellen Aufführungsserie von Wagners Tetralogie DER RING DES NIBELUNGEN teilnehmen dürfen! Der Abschluss mit der GÖTTERDÄMMERUNG hätte nicht überwältigender ausfallen können, das Publikum ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, der Applaus hätte bestimmt noch weiter angedauert, hätten die Verantwortlichen nicht das Licht im Saal angehen lassen. Gefeiert wurden natürlich die Sängerinnen und Sänger, der Choeur du Grand Théâtre (Einstudierung: Alan Woodbridge), die vielen Statisten, aber vor allem auch das Orchestre de la Suisse Romande, welches der Dirigent Georg Fritzsch zum Schlussapplaus auf die Bühne holte. Die Bravi für die Leistung des Orchesters wollten kein Ende nehmen – zu Recht, denn was dieser Klangkörper gerade auch in der GÖTTERDÄMMERUNG wieder leistete, war zu tiefst Respekt gebietend. Nur schon wie sich nach dem dissonanten Eröffnungsakkord dieser in den Streichern dann weich entfaltete und auflöste, war einfach wunderschön. Dann natürlich all die bekannten grossen Passagen, in denen das Orchester so richtig brillieren und aus dem Vollen schöpfen konnte: Morgendämmerung, Siegfrieds Rheinfahrt, Siegfrieds Tod, das traumhaft schön gespielte Orchesternachspiel am Ende.

Georg Fritzsch wählte wunderbar flüssige Tempi, setzte ritardandi effektvoll ein, liess den Klang sich entfalten, ohne zu pompös breit oder zu breiig zu werden. Exzellent gelang erneut die klangliche Balance zwischen Bühne und Graben. Die Sängerinnen und Sänger waren hervorragend zu verstehen. Allen voran muss für diesen letzten Abend Michael Weinius genannt werden: So einen natürlich singenden, stimmlich dermassen robusten und souveränen Interpreten der langen und schwierigen Partie des Siegfried muss man heutzutage erst mal finden. Weinius‘ Heldentenor scheint keine Begrenzungen zu kennen, weder im anfänglichen Nachglühen der Liebesnacht mit Brünnhilde, noch beim Aufbruch zu neuen Taten, weder in seinem naiven Verhalten am Gibichungenhof, noch im neckischen Geplapper mit den Rheintöchtern oder bei seiner Heldenerzählung kurz vor seiner Ermordung. Die Stimme fliesst ungebrochen, stuft dynamisch ab, interpretiert den Text mit gestalterischer Durchdringung, alles ohne jegliche Drücker oder Intonationstrübungen. Klasse! Ebenbürtig singt und agiert die Brünnhilde von Petra Lang an seiner Seite: Schöner, leuchtender Glockenklang in der Stimme bei Zu neuen Taten, bittere Enttäuschung und Angst ausdrückend, wenn Siegfried sie als Gunther verkleidet erniedrigt, mit Vehemenz in den Racheschwur einstimmend nach der Konfrontation in der Gibichungenhalle, überwältigend in ihrem ausdrucksstarken, mit bewundernswerter Festigkeit vorgetragenen und höhensicheren Schlussgesang StarkeScheite schichtet mir dort, am Rande des Rheins zuhauf. Mit Borniertheit schlägt sie die Warnungen und Bitten ihrer Schwester Waltraute in den Wind, obwohl Michelle Breedt diese mit eindringlicher Vehemenz und ebenmässig timbrierter Stimme vorträgt. Diesen von Wotan abstammenden Gestalten stehen die Abkömmlinge Kriemhilds (tritt bei Wagner nicht auf) gegenüber: Das Gibichungenpaar Gunther und Gutrune, und deren Halbbruder Hagen (Sohn von Alberich und Kriemhild) und natürlich der Nachtalbe Alberich selbst. Mark Stone singt einen vorzüglichen Gunther, stark in der Diktion, seinen Bariton für die schwächliche Figur angemessen weich einsetzend.

Ganz eng (zu eng, der Regisseur deutet hier zu Recht eine inzestuöse Beziehung an) schmiegt sich seine Schwester Gutrune an ihn. Agneta Eichenholz, die kühle Blonde mit der strengen Kurzhaarfrisur spielend, zeigt mit ihrem leicht herb gefärbten Sopran ein tiefgründiges Porträt dieser Frau, die von Wagner musikalisch allerdings mit wenig Kontur ausgestattet wurde. Mit einem überraschend jungen, gross gewachsenen, schlanken und blendend aussehenden Bassisten besetzt wurde der Hagen, was in der ganzen Konstellation durchaus Sinn macht; für einmal ein Hagen der nicht älter ist als sein Vater Alberich … .Jeremy Milner macht das grandios, mag seine Stimme auch nicht über die abgrundtiefe Schwärze z.B. eines Salminen verfügen. Milner gibt da eher den Wolf im Schafspelz, er hat Kreide gefressen, doch unter der glatten, smarten Oberfläche (auch der stimmlichen) lauert der fiese Strippenzieher und Teufel. Tom Fox singt wie im RHEINGOLD und im SIEGFRIED den nun total machtlos geworden Alberich, an diesem Abend mit weniger Vibrato in der Stimme, auch artikulationsmässig weniger verquollen. Toll! Herausragend besetzt sind die Rheintöchter mit Polina Patirchak, Carins Séchaye und Ahlima Mhamdi, ebenso grandios die Nornen (habe die Nornenszene noch selten so spannend erlebt) mit Wiebke Lehmkuhl, Roswitha Christina Müller und Karen Foster.

Von der schönen Kugel aus dem Schicksalsseil der Nornen zu Beginn des RHEINGOLDS ist dieses nun abgerollt, ein unentwirrbarer Knäuel ist daraus geworden, die Weltesche durch Wotans Schuld verdorrt. Dieter Dorn hat dies konsequent in seiner Inszenierung der vier Abende durchgezogen. Die Götter sind nun zu transparenten Totenmasken geworden, Brünnhilde trätiert Wotans Maske gar mit Fäusten in ihrer Verzweiflung – und wenn das Feuer unter Siegfrieds Leichnam dann lodert und zum Himmel steigt, fallen die einst so eitlen Götter aus dem Rheingold nackt vom Bühnenhimmel (grossartige Artisten).

Ja, man kann von einer Ring-Inszenierung berichten, die in ihrer Genauigkeit exemplarischen Charakter hat, sie zwingt einem nicht irgendwelche Atomkraftwerke oder Chefetagen auf, sondern vertraut dem Text, den Regieanweisungen im Libretto und der Imaginationskraft des Zuschauers, die Metaphern Wagners zu verstehen und zu interpretieren. Dabei wirkt sie nur an ganz wenigen Stellen etwas zu naiv (etwa im Walkürenritt, wird beim Auftritt Waltrautes in der Götterdämmerung wiederholt). Viel zum Gesamtkunstwerk tragen die Bühnengestaltung und die Kostüme von Jürgen Rose und die Lichtgestaltung von Tobias Löffler bei. Wunderbar wie sich die erst kalt weisse Gibichungenhalle, die beinahe etwas von einer Gummizelle für Irre hat, am Ende bei Siegfrieds Feuerbestattung rot färbt und am Ende, wenn die Götter vom Himmel fallen, im Boden versinkt und den Blick in eine grosse, schwarze Leere freigibt. Zwar steigt aus dem Graben das Hehrste-Wunder-Motiv auf, die Liebe hat über den Fluch, der an der Macht hängt, gesiegt, doch wirklich zufrieden können bloss die Rheintöchter sein – und wir, die wir das Wunder des Genfer Rings miterleben durften!

Kaspar Sannemann 20.3.2019