Genf: „Die Walküre“

O hehrstes Wunder – diese traumhaft schöne Phrase der Sieglinde im dritten Akt, als sie von Brünnhilde auf ihre Schwangerschaft mit dem neuen Helden aufmerksam gemacht wird, kann man getrost als Titel über die Besprechung der gestrigen Aufführung von DIE WALKÜRE im dritten und letzten Ringzyklus des Grand Théâtre de Genève setzen. Die Aufführung ist wie aus einem Guss, keine musikalischen oder szenischen Schwachpunkte, keine Längen, dafür Emotionen und glatte fünf Stunden (inklusive Pausen) Hochspannung pur, Gänsehaut und Tränen.

Um allen Sängerinnen und Sängern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beginne ich mit der Würdigung in der chronologischen Reihenfolge ihrer (gesanglichen) Auftritte. Nach dem atemlos stürmischen Orchestervorspiel fällt der verfolgte und total erschöpfte Siegmund von Will Hartmann in Sieglindes Behausung am Fuss der Weltesche. Will Hartmann geht den Siegmund ganz sanft an, ohne Pressen, ohne Drücken, schlicht und wunderschön intonierend. Als Beispiel die zart und innig empfundene Passage Die Sonne lacht mir nun neu. Aber er findet auch die Kraft für die Wälse-Rufe, nicht mit Stimmkraft protzend, sondern schön organisch aufgebaut im crescendo. Fiebrig und ekstatisch steigert er sich in den Geschlechtsakt des Inzests – Winterstürme wichen dem Wonnemond – mit seiner Schwester (man vermeint zu hören, wie ihm im Lenz bei Vollmond der „Spargel“ wächst … ). Und dann ist da noch das Spiel mit den Augen und den Blicken, das in der gesamten Inszenierung dieser WALKÜRE so wichtig ist. Ja, die Blicke sprechen hier eine ganz besondere Sprache und es ist wunderbar zu erleben, wie die Protagonisten auf einander eingehen, zuhören, mit Blicken und Mimik reagieren. Siegmunds Schwester Sieglinde beherrscht dieses subtile Spiel ebenfalls auf geniale Art und Weise. Michaela Kaune singt die Rolle mit exemplarischer Phrasierung und ebensolcher Diktion.

Da versteht man jedes Wort, die Stütze der Stimme ist hervorragend, ebenso die Reinheit der Intonation, das Fliessen des wunderschön timbrierten Soprans, der ohne jegliches störendes Vibrato auskommt und mit fein empfundener Dynamik geführt wird. Dazu kommt ein herrliches Legato, gerade in ihrer Erzählung Der Männer Sippe sass hier im Saal und dann natürlich das so zu bewegend aufgebaute O hehrstes Wunder. Das Motiv dauert kaum eine Minute, doch es setzt sich im Ohr fest. Aber im Gegensatz zu den Dutzenden anderer Motive im RING kehrt es nicht wieder. Erst am Schluss der GÖTTERDÄMMERUNG entfaltet es nochmals seine ganze Pracht und mit Harfenarpeggien begeleitet seine betörende Wirkung. Da ist Wagner ein effektvoller Coup gelungen – und Michaela Kaune liess mit ihrer traumhaften Interpretation keine Wünsche offen. Michaela Kaune spielt die Sieglinde mit glühender Intensität, nach vorne hin, gegenüber Hunding, das devote, sich vor ihrem Mann ekelnde Frauchen, aber dann hintenrum doch den Siegmund voller Inbrunst begehrend. Wunderbar auch vom Regisseur Dieter Dorn interpretiert ist die Szene, in der sie wie weiland Tosca zum Käsemesser greift, um Hunding niederzustechen. Doch das Messer ist nicht die Waffe der Frau – sie mischt ihm dann doch lieber den Schlaftrunk. Der Hunding wird von Alexey Tikhorimov mit herrlich strömendem Bass – exzellente, ausdrucksstarker Tiefe – gesungen. (Im RHEINGOLD hatte Tikhorimov bereits als Fasolt brilliert.) Umwerfend auch sein Spiel, wie er da auf seinen Trunk wartet, ungeduldig und doch amüsiert über Sieglindes vergebliches Versteckspiel ihrer Gefühle.

Auch er beherrscht das Spiel mit den Augen, beobachtet kritisch jedwede Regung der beiden Geschwister. Auch Wotan kann das, obwohl er einäugig ist. Er kann seine liebevollen Blicke auf seine Favoritentochter Brünnhilde vor seiner Gemahlin Fricka nicht verbergen. Tómas Tómasson wächst in der Rolle des Göttervaters im Verlauf des Abends zu überragender Grösse. Nach seinem verlorenen Kampf mit der auf der Heiligkeit der Ehe beharrenden Gemahlin Fricka entblösst er sein Innerstes vor Brünnhilde in einer eindringlichen Szene: Immer mehr Spiegel tauchen auf, spiegeln den Gott, der zum verletzlichen Menschen wird, sich sinnbildlich seiner Mäntel und des Brustpanzers entledigt, seine Gefühle offenbart, seine Durchtriebenheit, sein Spiel mit Lug und Trug aufgibt – und Mensch wird. Und wenn dann seine harte Schale am Ende des Schlussaktes gänzlich bricht und er sich endgültig von Brünnhilde verabschiedet (Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind), sich die beiden schluchzend in die Arme fallen, dann bleibt auch beim Zuschauer kein Auge trocken. So einen bewegenden Abschied Wotans habe ich selbst noch nie erleben dürfen. Daran hat natürlich auch Brünnhilde ihren wichtigen Anteil. Petra Lang gestaltet sie mit triumphierender Sicherheit, wuchtigen Hojotoho-Rufen stehen zart empfundene Passagen gegenüber, so die bewegende Todesverkündigung an Siegmund oder eben ihre Bitten und Beteuerungen in der Schlussszene War es so schmählich, was ich verbrach.

Auch Petra Lang verfügt über eine Stimme mit fantastischer Stütze, bruchlos geführt, einnehmend im Timbre. BRAVA! Schade, dass sie von Jürgen Rose etwas unvorteilhaft kostümiert wurde. Auch wenn Petra Lang jugendlich aussieht und behände agiert, ein Jeansanzug mit bunt besticktem Brustpanzer kleidet eine gestandene Frau nicht unbedingt. (Gilt auch für die übrigen acht Walküren.) Und last but not least die gestrenge, hoch intelligent argumentierende Fricka von Ruxandra Donose. Sicher keine Sympathieträgerin (es ist ja erstaunlich, dass in diesem Werk die Sympathien beim inzestuösen Geschwisterpaar und beim testosterongesteuerten Wotan liegen), doch Ruxandra Donose nimmt mit ihrer natürlichen Autorität, ihrer ungebrochene Sicherheit in der Stimmführung so für sich ein, dass man schon beinahe versucht ist, die Seiten zu wechseln. Stark! Hervorragend besetzt sind auch die acht Walküren, die den famosen Walkürenritt stimmlich zu einem besonderen Höhepunkt machen – leider, und das ist meine einzige Kritik an der Inszenierung, vom Regisseur etwas gar naiv umgesetzt, mit den herumgaloppierenden Menschenpferdchen (wie ein mittelprächtiges Schülertheater) und den ausgestopften Heldenleichen. Ansonsten hat Dieter Dorn gerade in der Interaktion zwischen den Protagonisten Grossartiges zustande gebracht.

Die Bühne von Jürgen Rose verbreitet nach wie vor Endzeitstimmung, eine gepflegte Müllhalde. Doch alles ist da, was von Wagner vorgeschrieben ist, die Weltesche mit dem im Stamm steckenden Schwert Nothung, der Herd, Wotans Speer, Grane, das Ross, als bewegliche Stabpuppe, die Widder (halbnackte Männer mit Hörnern), welche Fricka hereintragen, der Walkürenfelsen, die Flammen, welche um den Felsen herum hochzüngeln (auf einem Vorhang).

Und nun das Erfreulichste zum Schluss: Ich sass diesmal Reihe drei im Parkett und war begeistert vom Orchesterklang. Farbenreich spielte das Orchestre de la Suisse romande unter Georg Fritzschs Leitung. Sorgfältig wurde Spannung aufgebaut, wurden Stimmen im Orchester hervorgehoben, die sich sich mit dem Gesang von der Bühne in perfekter Balance mischten. Hoffentlich bleibt das morgen Abend im SIEGFRIED bestehen – ich werde wiederum auf einem anderen Platz sitzen. Nach dem letzten Aufbäumen des Orchesters und dem sanften Verklingen des Feuerzaubers folgte ein verdienter, enthusiastischer Beifall des ansonsten eher calvinistisch-nüchternen Genfer Publikums.

Kaspar Sannemann

© Carole Parod