Genf: „Guillaume Tell“

Premiere: 11.09.2015, Besuchte Aufführung: 15.09.2015

Subtiler britischer Humor, und musikalisch ein Schweizer Präzisionswerk

Der Himmel hängt nicht voller Geigen. Aber ein maltraitiertes Cello schwebt hoch über der leeren, düsteren Szenerie, die zerrissenen Saiten gen Boden baumelnd. Sein Spieler, der noch kurz zuvor die ersten, wehmütigen Takte der Oper eröffnete, gekleidet in einer einst wohl üblichen Bauernkluft, ist da längst überwältigt von der Miliz der Besatzer. Während im Graben das anklingende Naturidyll mit brausenden Stürmen überzogen wird und schließlich in zackigen Galopp verfällt – mithin all das geschieht, was man mit „Wilhelm Tell“ verbindet – erinnert das Bühnenbild bis zum Schluss der Ouvertüre entfernt an eine Schtetl-Szene von Chagall. Bloß hat das ja rein gar nichts mit der Schweiz zu tun.

Oder auch der merkwürdige Umstand, dass die Häscher des armen Cellospielers maskenhaft schwarz geschminkte Gesichter haben. Das macht sie ein bisschen so, wie man sich die Schwarzen Reiter aus dem „Herrn der Ringe“ vorstellt. Was ja auch rein gar nichts mit der Schweiz zu tun hat. Aber der Regisseur (David Pountney) ist Brite, fällt einem dann ein. Seinen Landsleuten wird ein zuweilen skurriler Blick auf die Welt nachgesagt. Teilt man diese Sichtweise spaßeshalber ein bisschen, während des ersten Akts, wird aus den Bühnen-Schweizern ein Völkchen liebenswert-putziger Hobbits. Sie sind eine quirlige Gemeinschaft und pflegen lustige Gewohnheiten. Und nun wird ihr freundlich-friedliches Land bedroht von einer dunklen Macht. Tolkiens Opus magnum ist übrigens nicht nur Fantasy-Literatur, sondern ein Porträt der Zeit des zweiten Weltkriegs. Das idyllische Land der Hobbits, Mittelerde, steht für England, und die Orks sind die Deutschen. Die in „Wilhelm Tell“ die Habsburger sind. Aber mehr Bezug zur Schweiz ist hier beim besten Willen nicht herstellbar.

Was allerdings, ganz grundsätzlich, sogar für die Musik gilt. Denn spätestens in dem Moment, als die Bühnen-Schweizer ihr Schicksal beklagen wird deutlich, dass Rossini der Wegbereiter Verdis ist. Dieser Chor der Besetzten in „Wilhelm Tell“ nimmt es glatt auf mit dem Gefangenen-Chor in „Nabucco“. Was wiederum in Ägypten spielt, also schon rein geographisch, auch zeitlich, ziemlich weit entfernt von der Schweiz ist. Wobei es ja auch in „Nabucco“ eigentlich nicht um die Hebräer der Handlung, sondern um die Italiener zu Zeiten Verdis geht, die aus der Fremdherrschaft geführt und zur Einheit finden sollen. In „Wilhelm Tell“, kommt einem dann in den Sinn, ist der Titelheld fast eine Art Mose, der das Volk der Hebräer aus Ägypten führt. Vielleicht trägt ja deshalb der Anführer der Miliz einen Helm, der an eine altägyptische Gottheitsmaske erinnert. Oder es ist wieder britischer Humor im Spiel.

Was vermutlich auch im dritten Akt der Fall ist. Der verhasste Anführer der Besatzer-Miliz, Gessler, ist mit sämtlichen optischen Attributen ausgestattet, die man mit dem Prototyp des Bösewichts aus einem „007“-Film in Verbindung bringt. Also wieder nichts, was auch nur im Entferntesten in Richtung Schweiz deutet. Allerdings hat die britisch-skurrile Sichtweise des Regisseurs auf das Werk erstaunliche Konsequenzen für dessen Verständnis. Der Held nämlich, als ein normaler Mann ohnehin nur schwer begreifbar, entpuppt sich als reiner Mythos. Wie sonst nur James Bond gelingt ihm auch der unmöglichste Coup: Sei es, ein Schiff in aufgepeitschter See zu navigieren, wenn erfahrene Seeleute längst mutlos die Segel streichen – und natürlich mit routinierter Lässigkeit einen Apfel vom Kopf des eigenen Sohns zu schießen. Pountney lässt ihn das immerhin nicht nach echter Bond-Manier mit dem Revolver erledigen, sondern mit buchstäblich wie von Zauberhänden in Zeitlupe geführtem Pfeil.

Während Schillers Tell hier also, rein theoretisch, eine Art Vorläufer von Ian Flemings ironisch überzeichnetem Geheimagenten ist, wird ausgerechnet der Bösewicht Gessler, ungeachtet seiner filmreifen Verkleidung, sichtbar als tatsächlicher Mensch. Pountney gelingt dieser bemerkenswerte Effekt, indem er den dritten Akt in einer Situation spielen lässt, die nicht mehr freie Natur, sondern beengte Gefangenschaft impliziert. Gleich zu Beginn wird tänzerisch erschütternd deutlich, welch entsetzlichen Martern die hinter hohen Mauern Internierten von den Besatzern ausgesetzt sind, insbesondere die Frauen, wie sie zu körperlichen und psychischen Wracks werden. An ihren Kleidern tragen die Bühnen-Schweizer nunmehr unübersehbar ein schwarzes Kreuz – sie sind buchstäblich Gezeichnete. Als Tell vor dem alles entscheidenden Apfelschuss räsonniert und dies vom Cello elegisch untermalt wird, befindet sich der Cellist wieder auf der Szenerie. Zwar nicht „Fiddler on the Roof“, doch hoch oben sitzend in der Gefängnisgalerie, legt er abermals, aufgrund seiner Kleidung und Ähnlichkeit mit bei Chagall auftauchenden Motiven („Musiker mit Violine“ von 1919 oder „Die Hochzeit“ von 1944) dennoch die mit jenem Musical über das „Schtetl“ verbundenen Assoziationen nahe. Wie hier die Bühnen-Schweizer, werden seine Nachfahren ähnlichen Schikanen ausgesetzt sein. Und die Schergen, die sich an ihrem Leiden ergötzen, sind Menschen wie Gessler. Sie sind nicht das abstrakte Böse, sondern sadistische, im Grunde ihrer Seele ausgesprochen schwache Charaktere.

Zum Finale allerdings gibt der Regisseur sein Verwirrspiel aus Nationalitäten und Geschichtsepochen auf. Nun ist alles so, wie es zu „Wilhelm Tell“ gehört. Sogar das Opernhaus, dass diese Inszenierung zeigt, ist ein wunderschönes Stückchen Schweiz. Der schwarze Himmel über der Szene wird endlich, wie draußen, strahlendblau, die schiefergrauen schroffen Felsen werden zu anmutig schneebedeckten Gipfeln, wie man sie schon auf dem Hinflug mit gebührendem Respekt bestaunen konnte (Bühnenbild von Raimund Bauer). Wieder angetan mit den schönen roten Dekoren ihrer schlichten Tracht (Kostüme: Marie-Jeanne Lecca), die für sie immer auch ein Wams ist, singen die Bühnen-Schweizer ihre Jubel-Ode auf die gewonnene Freiheit. In geschlossenen Reihen stehen sie da, glücklich und selbstbewusst. Es gibt nichts und niemanden mehr, was dieses Schweizer Postkarten-Idyll stören könnte. Der merkwürdig ausschauende Cellist ist längst unbemerkt von der Bühne verschwunden. Die große Kunst dieser Inszenierung von David Pountnam besteht nämlich darin, etwas Vorhandenes durch etwas Fehlendes zu hinterfragen.

In musikalischer Hinsicht fehlt dieser Produktion nichts, sie ist unfraglich ein großer Genuss. Rossini wurde von seinen Konkurrenten zuweilen unterstellt, er sei im Besitz einer „Musikmaschine“, die ihm die fortwährende Produktion eingängiger Melodien und verblüffender Effekte ermögliche. Dirigent Jesús López Cobos sorgt mit wunderbar leichter Hand dafür, dass diese Musikmaschine wie ein geöltes Schweizer Präzisionswerk läuft, aber niemals seelenlos klingt. Alles ist präzise austariert – die Forte-Stellen kräftig, aber nie zu laut, die leisen Stellen mit subtiler Finesse realisiert.

Rossini war angeblich ausgebrannt, als er seine einzige „Grand opéra“ als krönenden Abschluss seiner Karriere schrieb. Dass man davon rein gar nichts bemerkt, liegt nicht zuletzt auch an der Qualität sämtlicher Mitwirkender. Leidenschaftlich und kämpferisch Jean-Francois Lapointe als Titelheld, glutvoll John Osborn als Arnold, beide zusammen obendrein im ersten Akt hinreißend komödiantische Duettpartner. Lyrisch und besonnen Nadine Koutcher als Mathilde (auch durch das Kostüm, das Viscontis „Ludwig II“ entstammen könnte, als Geistesverwandte Elisabeths von Österreich erkennbar), gesanglich und darstellerisch jungenhaft-frisch Amelia Scicolone als Jemmi. Für das Orchestre de la Suisse Romande, so jedenfalls klingt es, ist Rossinis „Wilhelm Tell“ ein Heimspiel. Und, nicht nur im Finale großartig-bewegend: der Chor des Grand Théâtre.

Christa Habicht, 17.09.2015

Fotos: Magali Dougados