Genf: „Juliette ou la Clé des Songes“, Bohuslav Martinů

Dernière am 05.03.2012

Szenen im Wachtraum: Impressionistische Musik zu surrealistischer Handlung

Bohuslav Martinů schrieb seine Oper Juliette ou la Clé des Songes, für die er zusammen mit Bronislaw Horowicz das französischsprachige Libretto nach dem gleichnamigen Stück von Georges Neveaux geschrieben hatte, in der ersten Hälfte der 30er Jahre. Neveux hatte den Stoff zwar schon Kurt Weill zugesagt, aber nachdem Martinů den Schriftsteller mit konkreten Plänen und Beispielen zu seiner Musik überzeugte, gingen die Kompositionsrechte an den tschechischen Komponisten. Nachdem dann das Werk in Frankreich nicht zur Aufführung kam, wurde eine tschechische Version 1938 in Prag uraufgeführt. Wegen der Machtübernahme durch die Nazis konnte dort das Werk nicht mehr nachgespielt werden, kam in einer deutschen Fassung erst 1959 in Wiesbaden wieder heraus und wird auch heute nur äußerst selten zur Aufführung gebracht. Sehr zu Unrecht! Denn zumindest wenn die Oper in einer solchen Inszenierung wie der vorliegenden von Richard Jones herausgebracht wird, welche das Grand Théâtre de Genève von der französischen Opéra (2002) übernommen hat, hinterlässt sie einen überwältigenden Eindruck.

Es handelt sich um ein surrealistisches Stück, das sich zwischen und Absurdität und romantischer Schizophrenie bewegt und bei dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderlaufen. Michel, einer der beiden Hauptdarsteller, hatte in einer kleinen Küstenstadt Südfrankreichs vor Jahren das sehnsüchtige Lied eines Mädchens; Juiette, zur gehört und kehrt dorthin zurück, um das Mädchen wiederzufinden. Aber der Ort scheint nicht mehr in der real existierenden Welt zu liegen, die Menschen dort haben ihr Gedächtnis verloren.

Richard Jones lässt von seinem Ausstatter Antony McDonald im Bühnenbild die Harmonika thematisieren, das hier und da sehnsüchtig erklingt. In der ersten Szene schläft das Volk einer südfranzösischen Kleinstadt auf dem Bühnenboden neben der senkrecht aufragenden Klaviatur eines Tastenakkordeons, welches dann in die Bühne hineingezogen wird. Auf dem Faltenbalg des Instruments werden die Silhouette des Städtchens und seines Hafens sichtbar. Ein Fenster öffnet sich im Instrument; ein alter Mann spielt Ziehharmonika. Michel kommt herein und fragt nach dem Hotel du Navigateur. Das existiert nicht. Zwei Araber verfolgen ihn mit einem Messer: in seinem Koffer vermuten sie Erinnerungen, die sie erbeuten wollen. Da Michel sich an seine frühe Kindheit erinnert (eine Ente die „Quak! Quak!“ gemacht hat) wird er zum Stadthauptmann ernannt. Der als Polizeikommissar der Auftrittsszene erscheint als Briefträger wieder und trägt jahrealte Post aus. Das Volk auf dem Platz ist wie eine Reisegesellschaft der Vorkriegszeit kostümiert, unter ihnen ein Kapitän mit Tropenhelm, der immerzu mit einem Schiff abfahren will, das aber nie ablegt. Michel findet schließlich das Mädchen, Juliette, die wieder das gleiche Lied singt, und verabredet sich mit ihr im Wald.

Hier spielt der zweite Akt. Die Klaviatur des Akkordeons liegt groß und quer auf der Bühne, wird heraufgezogen, in dem Balg des Instruments erheben sich Bäume. Michel findet im Wald Teile der Stadtgesellschaft in anderer Gestalt wieder und gerät in absurde, aber auch zauberhafte Situationen. Eine Wahrsagerin will ihm die Vergangenheit lesen; ein Kneipier macht eine Buvette auf und ein Marchand de Souvenir verwirrt Juliettas Gedächtnis, so dass Gedanken und Gefühle von Michel und Juliette nicht zur Kongruenz zu bringen sind. Er verliert sie wieder, schießt gar auf sie und möchte abreisen, was albtraumhaft nicht gelingt. Die Oper mündet im dritten Akt in einer kafkaesken Situation in ein „Zentralbüro der Träume“ ein, in welcher der Büroleiter dem wiederum in anderen Formen auftretenden Personal Glückssituationen zuteilt, was in Form von Traumreisen geschieht, deren Ziele mit Aktenreitern auf dem Faltenbalg des Akkordeons gekennzeichnet sind. Der Büroleiter sitzt in einer Öffnung des Akkordeons. Personen in vielfältiger Gestalt verlangen nach Reisen und fragen nach Juliette. Sie verschwinden in einem Loch. Auch Michel sucht hier wieder nach Juliette, deren Stimme er in dem Instrument zu hören glaubt. Ein Nachtwächter kann ihn bewegen den gefährlichen Platz zu verlassen, der zur Schlussszene noch einmal umgeräumt wird: Michel tritt wieder wie in der ersten Szene mit seinem Koffer auf dem Stadtplatz auf. Ein Passant kommt auf ihn zu. „Sie wollen zum Hotel du Navigateur? Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“ Alles war nur ein Traum? Es gelingt dem Regisseur durchgängig einen spannungsgeladenen szenischen Schwebezustand zu erzeugen. Die Personenregie ist sowohl in den Einzel- als auch in den Volkszenen immer überzeugend.

Martinůs kleinteilige Partitur trägt keine vordergründigen Züge slawischer Volksmusik, sondern steht unter dem direkten Einfluss des französischen Impressionismus: konkreter und nicht so schwebend wie Debussy, sein großes Vorbild, dabei nicht so plakativ wie Ravel. Juliette erscheint in ihrer musikalisch wie dramatisch nicht konkretisierbaren Existenz wie eine Halbschwester der Mélisande von Debussy. Jiři Bĕlohlávek leitete das souverän aufspielende Orchestre de la Suisse Romande sehr einfühlsam und erzeugte mit der von Klassizismen durchzogenen Partitur traumhaft-schwärmerische Klänge. In der Hauptrolle des Michel sang Steve Davislim mit schönem eingedunkeltem Tenor, fokussierter Linienführung und in bestem Französisch. Die Julietta der Nataliya Kovalova gefiel schon mit ihrer anmutigen Bühnenpräsenz. Die Sopranistin von der Deutschen Oper am Rhein sang ihre Rolle mit großer Ausdruckskraft und Wärme. Es gibt noch achtzehn weitere Solisten in der Oper, von denen etliche in verschiedenen Gestalten auftreten. Die sind nicht alle individuierbar. Emilio Pons sang die Doppelrolle des Kommissars/Briefträgers mit kräftigem tief timbriertem Tenor sein Französisch ist noch verbesserungsfähig. Marc Scoffonies Bariton überzeugte in den Rollen des Helm-Mannes/Händlers mit Erinnerungen/Sträfling. Léa Pasquel mit schönem klaren Mezzo gefiel in den Hosenrollen als „kleiner Araber“/1. Herr/Jäger und René Schirrers Bass als „Père de la Jeunesse. Als „alter Araber“ und alter Matrose überzeugte mit sonorem Bass Khachik Matevosyan, während Richard Wiegolds Bass in den Rollen Der Mann am Fenster/Der kleine Alte/Der Bettler nicht richtig saß und zu leichtgewichtig daherkam.

Die Begeisterung des Publikums nach dem Werk, das wegen der Bühnenumbauten mit zwei Pausen gegeben wurde, entsprach der hohen Qualität der Darbietung. Ob diese Produktion vielleicht noch einmal irgendwo auftaucht und möglicherweise dabei gefilmt wird? Das wäre zu wünschen. Bis auf freie Reihen oben hinten im Olymp (Amphithéâtre“) war das Theater sehr gut besucht; die Plätze unter142 Franken mochte wohl niemand. (Mit Kartenpreisen von bis zu 289 Franken gehört das Grand Théâtre Genève in EURO umgerechnet zu den teuersten Häusern in Europa. Bei acht bis neun Opernproduktionen im Stagionebetrieb mit etwa sechs Aufführungen ist die Zahl der Opernaufführungen überschaubar.

Manfred Langer, 14.03.2012

Fotos: Grand Théâtre de Genève / Yunus Durukan

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