DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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DRITTE SINFONIE VON GUSTAV MAHLER

Ballett von John Neumeier

20.09.2022

 

 

Nach unglaublichen 50 Jahren als Ballettdirektor wird sich John Neumeier vom Hamburg Ballett von dieser Funktion verabschieden. Diese Jubiläumsspielzeit wird gekrönt werden mit Neumeiers neuer Kreation DONA NOBIS PACEM zur h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach. Eröffnet aber wurde die Spielzeit mit Neumeiers erster abendfüllendes Choreographie für das Hamburg Ballett, DRITTE SINFONIE VON GUSTAV MAHLER, die 1975 ihre Uraufführung erlebt hatte und seither einen gloriosen Siegeszug um den Erdball feiern durfte, dabei bis heute nichts von ihrer bezwingenden Faszination verloren hat. Man darf guten Gewissens von einem aufwühlenden Gesamtkunstwerk sprechen, ein Ballett, das lange nachhallt, tief bewegt und immer im Gedächtnis bleiben wird, eine Schöpfung für die Ewigkeit, genauso wie die Musik Gustav Mahlers. Mahler hatte zwar mit den Satzüberschriften zu dem alle bisherigen Dimensionen sinfonischer Werke sprengenden Werk eine Art Programm festgelegt. Trotzdem hat auch Mahler bestimmt nicht erwartet, dass alle beim Anhören die selben Empfindungen durchleben sollten, wie er sie beim Komponieren hatte. So weist John Neumeier im Vorwort des Programmhefts daraufhin, dass seine Choreographie seine eigene emotionale Reaktion auf die Musik spiegle und jeder Betrachtende die Freiheit habe, eigene Geschichten in den choreographischen Bildern zu entdecken. Wenn also in meinen nun folgenden Beschreibungen des Abends eine Art Handlung erzählt wird, sind das meine ganz persönlichen Interpretationen und Eindrücke, die keinen Anspruch auf Allgemeingültiges enthalten.

 

Der beinahe 40 Minuten dauernden erste Satz beginnt ganz im Dunkel. Eine Frau in rotem Trikot schreitet langsam über die Vorderbühne, hinten scheinen Männergruppen auf, alle mit nackten Oberkörpern, mal in blauem Licht, dann wieder in weißen Scheinwerferkegeln. Die Gruppen finden zusammen, errichten Türme aus und mit ihren Körpern, es entstehen archaisch wirkende Bilder von suggestiver Kraft. Alles wirkt aus der Musik heraus geboren, martialisch, dann wieder tief beseelt. Den ganzen Abend hindurch werden wir einen Mann begleiten, der mit seinen fleischfarbenen Leggins nackt wirkt, wie ein kindlicher Gott, staunend und sich erst vorsichtig dann immer intensiver einmischend. Edvin Revazov heißt dieser groß gewachsene Tänzer, der über eine unglaubliche Bühnenpräsenz verfügt. Es folgt ein hochspannender Pas de deux (Edvin Revazov und Jacopo Bellussi). Am Ende des Satzes scheint sich ein neuer Gott herauszubilden: Karen Azatyan. Denn Edvin Revazov verlässt diese Männerwelt. Der ganze Satz ist geprägt von starken, exakt choreographierten Gruppenbildern, deren Synchronizität bass erstaunt macht. Nach diesem von Neumeier mit GESTERN übertitelten Kopfsatz folgt ein von Mahler mit Tempo di Minuetto bezeichneter Statz. Neumeier nennt ihn SOMMER. Es ist eine luftige Choreographie, Damen in kurzen, weich fließenden und in gedeckten Pastellfarben gehaltenen Röckchen begeistern mit exzellenter Schritttechnik und perfektem Tanz auf der Spitze, ganz auf der klassischen Ballett­-Tadition fundiert. Mit dem leuchtend blauen Hintergrund scheint dieser Satz eine Art Hommage an Balanchine darzustellen. Die Trikots der Männer sind minzfarben, Alessandro Frola und Madoka Sugai sowie Christopher Evans und Ida Praetorius begeistern mit wunderbar fließender Anmut in den Pas de deux. Der jugendliche Gott , Edvin Revazov, liegt lange Zeit auf dem Rücken auf dem Boden, wird gegen Ende des Satzes langsam wach. Nun wird es HERBST (Neumeier), wir hören dazu den dritten Satz, das immer wieder mit den typischen grotesken Wendungen Mahlers aufwartende Scherzo. Die Kostüme, die Neumeier ebenso wie das exzellente Lichtdesign selbst entworfen hatte, sind nun in herbstlichen Rot- und Brauntönen gehalten. Der Gott beobachtet die tanzenden Paare und Gruppen mit großem Interesse. Das lohnt sich aber auch, denn was da an Tanz übersetzt wird, ist von grandioser tänzerischer Raffinesse. Vor allem ein Pas de trois sticht ins Auge, ausgeführt von Emilie Mazón, David Rodriguez und Ida Stempelmann. Aber auch der Erfindungsreichtum der Pas de deux fasziniert hier erneut: Xue Lin und Félix Paquet sowie Yun-Sun Park mit Florian Pohl. Eine atemberaubende Verflechtung von Musik und Tanz. Faszinierend wirken die Hebungen, die exakte Armarbeit im umwerfenden Auftritt des Corps. Gegen Ende des Satzes hält dann aber der Tod Einzug, die überschwengliche Stimmung der Tänze bricht ab. Der Gott und die rote Frau stehen sich links und rechts am Bühnenrand gegenüber, tief versunken in den Blick des anderen. Dazu kommt noch das traumhafte Posthorn-Solo, herrlich gespielt vom Solisten des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter der wunderbar einfühlsamen und dynamisch fantastisch austarierten Leitung von Markus Lehtinen - eben ein Gesamtkunstwerk! Denn bei dieser 188. Vorstellung dieses Balletts kam die Musik nicht vom Band, sondern wurde live vom exzellenten Philharmonischen Staatsorchester im Graben gespielt. Aus Platzgründen mussten im fünften Satz der Damenchor und der Knabenchor aus dem Probesaal live über Lautsprecher zugeschaltet werden. Die Vokalsolistin hingegen, sang aus dem Orchestergraben. Nach einer tanzpantomimischen Einleitung ohne Musik setzte die mit einer wunderbar warm timbrierten Stimme gesegnete Mezzosopranistin Katja Pieweck mit Oh Mensch! Gib acht! (Text von Friedrich Nietzsche, aus Also sprach Zarathustra) ein. Die ist sowohl musikalisch der traurigste Teil der Sinfonie und auch der Choreographie. Neumeier kreierte sie zuerst für das Stuttgarter Ballett für eine Gala zum Gedenken an John Cranko, den großen Choreografen, der das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm geführt hatte. Die Solisten der Uraufführung waren dann auch mit Marcia Haydée, Richard Cragun und Egon Madsen die Étoiles der damaligen Zeit. Gestern Abend nun durfte man in Hamburg die großartige, ausdrucksstarke Tänzerin Anna Laudere, sowie die nicht minder expressiven Jacopo Bellussi und Edvin Revazov erleben, in einem Pas de trois auf leerer Bühne, der zuerst geprägt war von Erschütterung, zwischenmenschlicher Spannung, Distanziertheit und bei dem sich die drei erst zusammen fanden und Neues schaffen konnten, als die warnende Stimme der Mezzosopranistin einsetzte. Das war manchmal an implizieren Konflikten kaum auszuhalten. Doch das Werden des Erhabenen siegte am Ende, das Licht wurde wärmer. Mit dem Attaca-Einsetzen der himmlischen Chöre im fünften Satz heben sich nun die schwarzen Seitenbahnen, die ganze Bühne wird von hellem Licht geflutet - ein kindlicher Engel tanzt verspielt und luftig über die Bühne. Es ist natürlich die Frau im roten Trikot, Olga Smirnova, eine Tänzerin, die ihre Star-Karriere in Russland aufgab, sich für die Freiheit anstelle des Ruhms entschieden hatte. John Neumeier zollte ihr seinen Respekt, indem er sie als Gast in seiner Choreogrphie in der Rolle des Engels einetzte. Mit faszinierender Leichtigkeit, Agilität und Zierlichkeit betörte sie nicht nur den staunend beobachtenden Gott, Edvin Revazov, sondern auch das Publikum in der voll besetzten Staatsoper. Doch mit diesem naiv-freudigen Satz sind weder die Sinfonie noch das Ballett zu Ende. Mit WAS MIR DIE LIEBE ERZÄHLT schuf Mahler ein finales Adagio, das seinesgleichen kaum existiert. Die beseelte, getragene Schönheit dieses Satzes hat John Neumeier bezwingend in Tanz, Körperlichkeit und Aussagekraft umgesetzt. Der Engel, Olga Smirnova, erweckt den jungen Mann, Edvin Revazov. Schöner und anmutiger kann man die vollkommene Liebe nicht ausdrücken, weder musikalisch noch tänzerisch. Mit wunderbaren Hebefiguren begeistern die beiden in ihrer Freude über das Glück. In mehreren Anläufen erreicht Mahler den Kulminationspunkt mit Beckenschlägen, so auch das Paar. Danach folgt zur Flötenmelodie und einem zweiten, "hellen" Paar ein Abgleiten in eine Art Transzendenz. Edvin Revazov sitzt nachdenklich oder träumend auf dem Boden, rote Paare tanzen um ihn herum, das gesamte riesige Corps ist auf der Bühne. Die Damen scheinen auf den Schultern der Männer wie Engel zu schweben. Ein überaus eindringliches Bild, das aber schnell wieder verschwindet. Der junge Mann schreitet langsam und ganz alleine nach hinten, der Dämmerung zu. Er macht uns bewusst, dass jedes Glück, das wir erleben dürfen, geschenkte Zeit ist und nicht Ewigkeit. Zu den finalen Paukenschlägen schreitet der Engel wieder über die Bühne, der Mann sieht sie, will sie erreichen, doch so sehr er sich auch windet und verrenkt, seine Füße scheinen festgewachsen, der Engel bleibt unerreichbar. Das ist zum Weinen schmerzlich - doch er hat für einen kurzen Moment das vollkommene Glück der Liebe erleben dürfen. Und wir, die Zuschauer, kamen in den Genuss einer vollkommenen, hoch emotionalen Ballettaufführung!

 

Kaspar Sannemann. 22.9.22

Bild (c) Kiran West

 

 

 

47. Hamburger Ballett-Tage 2022

Eifersuchtsdrama aus London und Nijinsky-Gala XLVII

Traditionell werden die Ballett-Tage in Hamburg mit der Premiere einer Neuinszenierung eröffnet, zumeist in der Choreografie von John Neumeier. Den Ausnahmefall gab es in diesem Jahr mit der Übernahme einer Produktion vom Royal Ballet London. Dessen Starchoreograf ist seit einigen Jahren Christopher Wheeldon. Nach dem turbulenten Spektakel mit Alice’s Adventures in Wonderland 2011 triumphierte er drei Jahre später mit The Winter’s Tale nach Shakespeares Schauspiel. Wieder stammte die Musik von Joby Talbot, der sie mit viel Schlagwerk anreicherte, so dass sie gelegentlich etwas lärmend wirkt, aber sehr abwechslungsreich und effektvoll ist. Bob Crowley sorgte für eine Ausstattung zwischen Abstraktion und Romantik-Zitaten. Die Protagonisten stattete er mit historisch orientierten, sehr geschmackvollen Kostümen aus. OPUS ARTE hat die Uraufführung in Covent Garden für die DVD festgehalten, aber nun gibt es auch in Hamburg die Möglichkeit, sich ein Bild von dieser bewegenden Aufführung zu machen, denn die Londoner Uraufführungsproduktion wurde vom Hamburg Ballett als Deutschland-Premiere komplett übernommen.

Die Geschichte handelt von Leontes, König von Sizilien, der seine schwangere Frau Hermione der Untreue mit dem gemeinsamen Freund Polixenes, König von Böhmen, bezichtigt und sie ins Gefängnis werfen lässt. Dort bringt sie ein Mädchen zur Welt, das auf Geheiß Leontes ausgesetzt werden soll. Unter dem Namen Perdita wächst es bei böhmischen Schäfern auf und verliebt sich in Polixenes’ Sohn Florizel, was das versöhnliche Ende bringt und auch das sizilianische Königspaar wieder vereint.

In der 3. Aufführung am 3. 7. 2022 tanzte in manchen Rollen bereits eine neue Besetzung, angeführt von dem expressiven Edvin Revazov als Leontes, der die wahnhafte Eifersucht der Figur und ihren physischen wie psychischen Verfall bezwingend darstellt. Sein Jähzorn und die Brutalität gegenüber seiner Frau Hermione erinnern in der Konstellation an Othello und Desdemona. Anna Laudere gibt sie würdevoll und ergreifend in ihrer Wahrhaftigkeit. Wunderbar ist beider Tanz am Schluss, wenn der geläuterte Leontes voller Reue an einer Statue mit seiner vermeintlich toten Gattin und dem verstorbenen Sohn niederkniet, Hermione aber plötzlich zum Leben erwacht. Viele Jahre wurde sie von ihrer Hofdame Pauline vor dem Zorn des Gatten versteckt. Patricia Friza macht daraus eine tragende Rolle, ist einfühlsam, fürsorglich und selbstbewusst-energisch gegenüber Leontes. Karen Azatyan ist ein viriler Polixenes. Xue Lin als bezaubernde Perdita und Christopher Evans als vitaler Florizel sind ein ansprechendes junges Paar, das bei dem Schäferfest in Böhmen im 2. Akt seinen ersten Auftritt hat und am Ende Hochzeit feiern kann. In diesem 2. Akt hat die Compagnie ein wahrhaftes Tanzfest mit Frühlingsmaiden, Schäferinnen und Schäfern zu absolvieren, bei dem auch die von der böhmischen Folklore inspirierte Musik von großem Reiz ist. Zu den dramatischen und emotional ergreifenden Szenen der vielschichtigen Choreografie ist dieses Bild ein schöner Kontrast. Das Publikum honorierte die packende Aufführung mit großem Jubel. Mit ihr hat das Hamburg Ballett wieder ein Juwel im Repertoire.

 

Traditioneller Abschluss der Ballett-Tage ist stets die Nijinsky-Gala, die in diesem Jahr unter dem Motto Anniversaries stand. John Neumeier wollte an Gedenktage und Jubiläen, an Ur- und Erstaufführungen erinnern. Natürlich moderierte der Ballettdirektor das fünfstündige Programm wie immer selbst – mit Charme, feiner Ironie und großer Sachkenntnis. Der Abend des 3. 7. 2022 hatte einen fulminanten Auftakt, denn Schulerinnen und Schüler aus den Klassen VII und VIII der Ballettschule des Hamburg Ballett zeigten in einer Choreografie von Konstantin Tselikov, dem langjährigen Solisten der Compagnie, einen Gopak auf traditionelle Musik. Mit überschäumendem Temperament, vitaler Lebensfreude und bravourösem Können sorgten sie für enorme Begeisterung im ausverkauften Saal. Hier wachsen Solotänzer heran! Für Nachwuchs sorgt auch Das Bundesjugendballett, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert und in Neumeiers turbulenter Choreografie Opus 67 auf den 4. Satz von Schostakowitschs Klaviertrio sein Können demonstrieren konnte. Der Hauptanteil der gezeigten Arbeiten stammte vom Ballettdirektor, darunter einige seltene oder lange nicht gezeigte Kreationen, so aus A Cinderella Story, das er vor 30 Jahren schuf, die Ballszene mit der lebhaften Madoka Sugai in der Titelrolle und mit dem jungen Alessandro Frola, der als Prinz eine beachtliche Talentprobe abgab. Immer wieder hat sich Neumeier mit dem Leben und der Kunst des legendären Tänzers Vaslaw Nijinsky auseinander gesetzt. Davon zeugen mehrere Ballette, deren bedeutendstes Nijinsky ist, aus dem zwei größere Ausschnitte zu sehen waren. In „Jeux“ ist das biografische Umfeld des Tanzgottes von Bedeutung – neben Aleix Martinez in der Titelrolle waren Silvia Azzoni als Tamara Karsavina, Patricia Friza als Bronislava Nijinska, Ivan Urban als Serge Diaghilev und Atte Kilpinen als Leonide Massine zu sehen. In „Auf dem Schiff“ faszinierte Marc Jubete als lasziver Faun mit animalisch lüsternem Auftritt. 50 Jahre alt ist Neumeiers Nussknacker, der für das Ballett Frankfurt kreiert wurde und im Dezember 1974 nach Hamburg kam. Im Grand Pas de deux gab die Erste Silotänzerin der Compagnie, Leslie Heylmann, ihren Abschied von der Bühne, bleibt aber Hamburg erhalten und wird künftig in der Ballettschule tätig sein. Als Louise bezauberte sie noch einmal mit ihrer frischen Aura und der technischen Souveränität. In Matias Oberlin hatte sie als Günther einen eleganten Partner, der mit wirbelnden Pirouetten und Sprüngen brillierte. Emilie Mazon war eine reizende Marie.

In jeder Gala sorgen Gäste für den gebührenden Glanz. Hier waren es die Principals Mayara Magri und Matthew Ball vom Royal Ballet London, die eine Szene aus der letzten Schöpfung von Kenneth MacMillan zeigten. Der britische Choreograf nannte sie Carousel und nutzte als Vorlage Molnárs Liliom. Zu Richard Rodgers zauberhafter Musik begeisterten beide mit Temperament und Bravour. Abschluss und Höhepunkt des ersten Programmteils war der Auftritt von Olga Smirnova und Jakob Feyferik vom Het Nationale Ballett. Die russische Assoluta hat mit Beginn des Krieges in der Ukraine ihre langjährige Wirkungsstätte, das Bolshoi Theater Moskau, verlassen und wird nun in Amsterdam umjubelt. Das Duo zeigte in überwältigender Manier den Pas de deux 3 Gnossiennes von Hans van Manen, der am 11. Juli dieses Jahres seinen 90. Geburtstag begeht, auf Musik von Eric Satie. Mit schwerelosen Hebungen und in Vollendung zelebrierten Figuren war dieser Auftritt von einer solchen Präzision, Harmonie und Perfektion, dass er an ein Wunder grenzte. Ähnliches ist vom zweiten Beitrag gegen Ende des Abends zu berichten: Mit dem Grand Pas Classique auf Musik von Auber gab es in der Choreografie von Victor Gsovsky, der vor 120 Jahren geboren wurde, Ballettklassik pur zu erleben. Es ist dies eine Gala-Nummer par excellence, gespickt mit spektakulären Effekten und Höchstschwierigkeiten in den Variationen. Mit welcher Mühelosigkeit und Virtuosität die beiden Tänzer diese Herausforderung bestanden, sorgte für Beifallsstürme im Saal.

Der komplette 2. Teil war Gästen vom Ballett am Rhein Düsseldorf gewidmet, die Neumeiers from time to time zeigten, das zurückgeht auf Balanchines Die vier Temperamente und diese nun in neuen Versionen bringt. Zu sehen ist Neumeiers Sichtweise auf die Melancholie, wofür er „The Dangling Conversation“ von Simon & Garfunkel kühn mit dem 1. Satz von Schuberts Klaviersonate B-Dur kombinierte. Michal Bialk spielte sie live sehr einfühlsam. Die Tänzer, angeführt von Julio Morel, der in einer tour de force Unglaubliches leistete, setzten in einer dramatisch packenden performance starke Akzente.

Im 3. Teil waren weitere Raritäten aus dem Schaffen von John Neumeier zu sehen, so sein 1996 für das Ballett Dresden entstandenes Stück L’Après-midi d’un Faune auf die Musik von Debussy, das für die Gala in neuer Besetzung einstudiert wurde. Edvin Revazov, Anna Laudere und David Rodriguez boten eine aufregende ménage à trois. In Don Juan gab es ein Wiedersehen mit der ständigen Gastsolistin der Compagnie, Alina Cojocaru. Der Choreograf hatte das Stück, eigentlich ein Requiem für Don Juan, zuerst in Frankfurt herausgebracht und es dann für einen Auftritt von Rudolf Nurejew beim National Ballet of Canada umgearbeitet. Der Star bekam ein neues, anspruchsvolles Solo, in welchem in Hamburg Alexandr Trusch glänzte und sich in wahrhafter Nurejew-Attitüde präsentierte. Die Cojocaru berührte als weißer Todesengel, der den Helden verfolgt, sich mit ihm verschlingt und ihn am Ende sanft mit sich in das andere Reich zieht. Eine signature-Choreografie des Hamburg Ballett ist die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler, die zu Beginn der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen wird. Einen Vorgeschmack gab es schon jetzt mit dem 4. Satz, geboten von einer Neubesetzung mit Xue Lin, Karen Azatyan und Jacopo Belussi. Gerhild Romberger sang das Alt-Solo mit Intonationstrübungen und auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Nathan Brock ließ hier Bläsermisstöne hören. Insgesamt zeigte es sich aber den verschiedenen musikalischen Stilen als souverän gewachsen. Der lange Abend konnte nicht vitaler und temperamentvoller ausklingen als mit dem 3. und 4. Satz der Sinfonie Nr. 7 aus dem Beethoven-Projekt II – ein überschäumendes Fest der Lebensfreude mit dem Farbenrausch der Kostüme von Albert Kriemler – A-K-R-I-S-. Madoka Sugai und Alexandr Trusch, Emilie Mazon und Atte Kilpinen sowie Anna Laudere und Edvin Revazov wirbelten und schwebten über die Bühne, dass der Jubel danach kein Ende nehmen wollte. Wie immer gab es standing ovations, üppige Blumengebinde (von HOME flowers) und bunten Konfettiregen.

Bernd Hoppe 7.7.22

 

 

Ein Klassiker – neu gesehen

Über 40 Jahre alt ist John Neumeiers Choreografie zu Tschaikowskys Ballett Dornröschen. 1978 kam sie beim Hamburg Ballett in der Ausstattung von Jürgen Rose heraus. Damals gab es in der Besetzung noch die Gute und die Böse Fee – angelehnt an die klassische Vorlage, wo die beiden Rollen die Namen Fliederfee und Carabosse tragen. Nun hat der Choreograf das Stück überarbeitet und seine Neufassung, wiederum von Jürgen Rose ausgestattet, am 19. 12. 2021 in der Staatsoper dem Premierenpublikum vorgestellt. Die Rollen sind jetzt umbenannt in Die Rose und Der Dorn, womit Neumeier sich auf den Stücktitel mit seinen zwei Begriffen bezieht. In ersterer Partie hatte die Grande Dame der Compagnie, Hélène Bouchet, ihren letzten Premierenauftritt. Die langjährige Erste Solistin beendet ihre Tanzkarriere und geht zurück nach Frankreich. Noch einmal konnte sie mit eleganter Allüre und bestechendem technischem Format imponieren. Matias Oberlin im hautfarbenen Ganzkörpertrikot gab den Dorn mit verführerischer Laszivität. Beim Rosenfest zu Auroras 16. Geburtstag ist er auch der geheimnisvolle, schwarz verhüllte Ägyptische Prinz mit der verhängnisvollen Rose, die er Aurora fast gewaltsam aufzwingt. Seine Szenen sind furios, auch weil die Begleiter, Aleix Martinez, David Rodriguez und Ricardo Urbina als Dornengestalten, mit bizarr verkrümmten Körperhaltungen effektvolle Momente beisteuern.

Wie schon 1978 ist Prinz Désiré ein junger Mann von heute in Jeans und schwarzem Hemd, womit der Choreograf die Verbindung zur Gegenwart herstellt. Diese Kombination findet sich auch in der Choreografie, die eine ausgewogene Mischung aus Petipas klassisch-akademischem Stil und Neumeiers eigenen Erfindungen darstellt. Im Programmheft findet sich eine informative Aufstellung, in welcher Choreografie die einzelnen Musiknummern gezeigt werden. Neumeiers Anteil überwiegt nur leicht den der historischen Vorlage. Mit Alexandr Trusch war die männliche Hauptrolle optimal besetzt. Seine jugendliche Aura und vor allem das sensationelle technische Vermögen sorgten immer wieder für akklamierte Höhepunkte. In einer neu eingefügten Szene zu Beginn des 2. Teiles sieht man ihn ausgelassen mit seinen dem Bier nicht abgeneigten Jagdfreunden, doch er setzt seine Suche nach dem schlafenden Mädchen fort. Das Tanzduo beim Finden des Paares ist in seiner träumerischen Atmosphäre, die bis zur Trance führt, ein starker Stimmungskontrast. Die neue Erste Solistin Ida Praetorius, aus Kopenhagen kommend, gab in der Titelrolle ihr Debüt in Hamburg. In ihrer Anmut und Zartheit war sie optisch eine Idealbesetzung, tänzerisch kann man ihr eine solide, doch keineswegs spektakuläre Leistung attestieren. Der Auftritt geriet im Tempo etwas verhalten, die grand jétés wirken recht flach und die Balancen im Rosen-Adagio wurden nicht mit letzter Sicherheit ausgeführt. In den Duos mit Désiré konnte sie sich stärker profilieren, vor allem im Grand Pas de deux beim Hochzeitsfest, wo sie mit einer graziösen Variation punktet und Trusch in der seinen mit stupender Bravour begeistert. Er sorgte auch für den Atem beraubenden Schlusspunkt, denn Neumeier hat das Finale: Allegro brillante, das normalerweise allen Mitwirkenden gehört, ihm allein zugeordnet. Mit einem fulminanten Wirbel, einer geradezu unwirklichen Serie von Sprüngen à la manège versetzte er das Publikum in den Zustand der Euphorie. Danach nutzt der Choreograf ein Symphonisches Zwischenspiel des Komponisten, um die Handlung zum Prolog zurückzuführen. Désiré findet sich im Wald wieder und sieht das schlafende Mädchen auf einer Bank – in einem Kleid heutiger Mode.

Bemerkenswert in Neumeiers Fassung ist auch die deutliche Aufwertung des Hoftanzmeisters Catalabutte, der durchgängig im klassischen Vokabular tanzt und sogar noch den Blauen Vogel im Pas de deux mit Prinzessin Florine (Xue Lin) asmburggibt. Christopher Evans macht aus dem Zeremonienmeister eine Hauptrolle, brilliert mit eleganter Attitüde und weiten, hohen Sprüngen. Bei den Hochzeitstänzen gefällt auch der Pas de trois „Amors Segen“ mit Alessandro Frola als Reichtum, Emilie Mazon als Frohsinn und Yun-Su Park als Mut.

Nach wie vor bestechend ist Roses gediegene Ausstattung mit den atmosphärischen, von Neumeier wunderbar beleuchteten Bühnenbildern – einem Märchenschloss mit Türmen, einem nebligen Dornenwald – sowie den prachtvollen Kostümen aus kostbaren Stoffen. Sie zieren besonders die Figuren des Sternenballetts „Triumph der Morgenröte“ bei Auroras Taufe, wo erste Tänzer des Ensembles Petipas anspruchsvolle choreografische Schöpfungen mit aristokratischer Finesse zelebrieren. Für die Königin, der Anna Laudere an der Seite von Edvin Revazov als König hoheitsvolle Würde verleiht, hat Rose sogar eine zweite Robe mit langer Schleppe entworfen. Im Walzer bezaubern Gärtnerinnen und Gärtner mit Blumenreifen. Die Aufführung in ihrem Prunk und ihrem tänzerischen Niveau ist ein Juwel im Repertoire, wozu auch Markus Lehtinen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg durch eine differenzierte musikalische Deutung beiträgt.

Bernd Hoppe, 23.12.21

 

 

 

Harry Potter und das verwunschene Kind

Premiere: 05.12.2021
Medienpremiere: 04.12.2021

Bühnenzauber in Perfektion

 


Es gibt das gute alte Sprichwort „Was lange währt, wird endlich gut.“. Unter diesem Motto könnte man auch die deutschsprachige Erstaufführung von „Harry Potter und das verwunschene Kind“ stellen. Wenige Tage vor der über einen langen Zeitraum geplanten Premiere kam es im März 2020 zu einer Vollbremsung für die Produktion, bei der pro Aufführung stolze 32 Darsteller auf der Bühne stehen. Rund 1 ¾ Jahr später konnte am vergangenen Wochenende in Hamburg nun endlich eine neue Reise ab dem berühmten Gleis 9 ¾ beginnen. Neunzehn Jahre nachdem Harry, Ron und Hermine die Welt von Lord Voldemort befreiten ist Hermine zur Zaubereiministerin aufgestiegen. Ihr Ehemann Ron arbeitet im familieneigenen Zauberladen und Harry ist glücklich mit Ginny verheiratet und geht seiner Arbeit im Ministerium für Zauberei nach. Gemeinsam bringen sie ihre Kinder zum Hogwarts Express, denn ein neues Schuljahr steht vor der Türe. Auf der Zugfahrt freundet sich Harrys Sohn Albus Severus mit Scorpius Malfoy an, zwei Söhne, die unter der schweren Bürde ihres Namens sichtlich zu leiden haben. Dass der magische Hut Albus dann auch noch als ersten Potter ins Haus Slytherin schickt, macht die Sache für ihn nicht leichter. Jedes Jahr aufs Neue erzählt Harry seinem Sohn von der Schönheit Hogwarts, doch für Albus wird die Fahrt in jedem Jahr zur Qual. Nachdem er ein Gespräch zwischen Amos Diggory und seinem Vater belauscht hat, bei dem sich Amos über die Ungerechtigkeit des Todes seines Sohnes Cedric beklagt, möchte Albus selbst in die Geschichte eingreifen. Hierzu überredet er seinen Freund Scorpius zur Flucht aus dem Hogwarts Express. Gleichzeitig plagen Harry wiederholt böse Träume und seine Narbe macht sich erneut bemerkbar. Offenbar ist die Schlacht noch nicht endgültig gewonnen und das Dunkle taucht an unerwarteter Stelle erneut auf. Mehr soll an dieser Stelle auch nicht verraten werden, denn J. K. Rowling, Jack Thorne und John Tiffany schufen mit „Harry Potter and the Cursed Child“ eine wirklich zauberhafte Geschichte mit vielen unerwarteten Wendungen. Man kann nur jedem Besucher empfehlen, sich vor dem Theaterbesuch nicht zu sehr mit der kompletten Gesichte des Theaterstückes auseinanderzusetzen, um sich nicht unnötig zu spoilern. Im Verlauf des Abends wird immer wieder geschickt Bezug auf die bisherigen Abenteuer genommen, allerdings ist es nicht notwendig, dass man als Zuschauer besonders großes Vorwissen besitzen müsste um das Stück zu verstehen und sich an den Wendungen erfreuen zu können.

 


Um an dieser Stelle auch noch mit dem ein oder anderen Missverständnis aufzuräumen, bei diesem Stück handelt es sich nicht um ein Musical, sondern um Sprechtheater in Bestform, in allen Rollen dargeboten von hervorragenden Schauspielern. Imogen Heap schuf für das „verwunschene Kind“ zudem eine sehr gelungene Musikbegleitung, die das Werk mit ganz hervorragenden Choreografien von Movement Director Steven Hoggett begleitet. Allein hierfür lohnt sich der Besuch. Als Zuschauer vermisst man auch in keiner Sekunde die altbekannte Filmmusik, im Gegenteil. Eine Stärke des Stückes ist es, dass man Harry Potter in einer eigenen Theatersprache auf die Bühne bringt und sich hierbei optisch nicht zu sehr an den erfolgreichen Filmen orientiert. Zwar orientieren sich die Kostüme Katrina Lindsay durchaus an die bisherigen Sehgewohnheiten, auch um die Rollen besser zur Geltung zu bringen, das Bühnenbild von Christine Jones setzt dagegen eigene starke Akzente. Für seine ganz zauberhafte Regie erhielt John Tiffany zu Recht einen Tony Award und einen Laurence Olivier Award für die beste Regie, insgesamt wurde „Harry Potter and the Cursed Child“ mit unzähligen Preisen in New York und London ausgezeichnet. Ganz besonders erwähnenswert sind noch die vielen Zaubertricks, die auch dem erfahrensten Theatergänger immer wieder vor Staunen den Mund offenstehen lassen (Illusion & Magie: Jamie Harrison). Sämtliche Seile, Bodenöffnungen und die weiteren üblichen „Theatertricks“ bleiben für das Auge (zumindest in den ersten Reihen des Hochparketts) absolut unsichtbar. Dazu gesellen sich spektakuläre Zaubereien und Feuereffekte, die aus den Zauberstäben schießen. Teil Eins endet mit einem spektakulärer Cliffhanger, der in dieser Form vielleicht sogar einzigartig in der Theaterlandschaft ist. Da das komplette Werk aus zwei Vorstellungen besteht, passen sich auch die Besetzungsanzeigen und die Merchandise-Stände dem Geschehen auf der Bühne an, hier lohnt sich ein entsprechender Blick. Ein Blick lohnt sich im Übrigen allgemein in das Foyer und den Theatersaal, die mit viel Liebe zum Detail gestaltet wurden. Im Foyer zieren große Patronus-Tiere die Wände, über 1.200 LED-Leuchten erinnern an die schwebenden Kerzen aus der großen Halle in Hogwarts. Im Theatersaal können sich die Zuschauer an bronzefarbenen Skulpturen an den Wänden erfreuen oder die Sitzreihe 9 ¾ entdecken.

 


Doch was wäre das beste Theaterstück ohne die Schauspieler, deren Namensnennung an dieser Stelle leider den Rahmen sprengen würde. Daher seinen an dieser Stelle nur Vincent Lang als Albus Potter, Mathias Reiser als Scorpius Malfoy und Markus Schöttl als Harry Potter stellvertretend für alle 32 Darsteller der Premierenbesetzung genannt. Erwähnenswert vielleicht auch noch Alen Hodzovic, der die vielschichtige Figur des Draco Malfoy ganz wunderbar auf die Bühne bringt, auch wenn man dies im Grunde für jede einzelnen Rolle sagen kann. Ein ganz großes „Bravo“ an alle beteiligten Darsteller und Darstellerinnen. Insgesamt gelingt es Mehr BB Entertainment mit „Harry Potter und das verwunschene Kind“ ein magisches Theatererlebnis zu schaffen, bei dem man während der gesamten Nettospielzeit von rund 5 Stunden gespannt die Geschichte verfolgt und in keinem Moment Langeweile verspürt. Möchte man nun unbedingt ein kleines Manko finden, sei an dieser Stelle kurz angemerkt, dass die Geschichte am Ende einen wirklich schönen Bogen zieht zu dem Moment, in dem vor vielen Jahren alles begann, als Lord Voldemort in der Halloween-Nacht des Jahres 1981 Harry Eltern ermordete. Anschließend wird allerdings der Vater-Sohn-Beziehung zwischen Harry und Albus noch recht viel Zeit gewidmet, so dass am Ende natürlich das erwartete Happy End steht, dies dann aber im Vergleich zur Produktion bis dorthin relativ unspektakulär daher kommt. Nichtsdestotrotz kann man echten Theaterfreunden (zu junge Kinder würde ich hier aber auf Grund einiger Szenen doch zwingend ausnehmen) einen Besuch dieser Produktion nur wärmstens empfehlen. Auch wenn die Preise für die beiden Vorstellungen nicht günstig sind, bekommt man hier ein Gesamterlebnis geboten, dass es in dieser Form sonst nirgendwo in Deutschland zu sehen gibt. Am Ende steht ein wahrlich magischer Theaterabend, den man ganz sicher sehr lange in bester Erinnerung behalten wird.

 


Markus Lamers, 06.12.2021
Fotos: © Manuel Harlan (Show) / Jochen Quast (Theatersaal)

 

 

Die Glasmenagerie

Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams in der Staatsoper Hamburg

Die Beständigkeit der Illusion

Besuchte Vorstellung: 3. November 2021

 

Gustav Mahler hat einmal gesagt, daß das Wichtigste in der Musik nicht in den Noten steht. Das Innerste an Psychologie aus einem Bühnenstück zu holen, indem dessen Worte nicht gesprochen, sondern die Handlung getanzt wird, scheint John Neumeiers Ansatz gewesen zu sein, als er die Choreographie für seine Interpretation von Tennessee Williams „Glasmenagerie“ entwarf. Tatsächlich hat er so etwas im Interview mit Jörn Rieckhoff angedeutet, in dessen weiterem Verlauf er keinen Zweifel daran läßt, daß die zerbrechliche Laura für ihn in seiner persönlichen Rezeption des Dramas eine zentrale Rolle spielt.

 

 

Zerbrechlich sind auch Lauras Glastiere, deren Kristallglitzern sie in eine Phantasiewelt hinüberschweben läßt. Schweben kann sie selbst, die herausragend von Alina Cojocaru dargestellt wird, mit ihrer Gehbehinderung nicht; das Hinken hindert das zarte Mädchen daran, selbstbewußt aus der Enge der kaputten Familie hinaus in die Welt zu treten. In dieser wiederum versucht ihr Bruder Tom, sein Leben mit all seinen Enttäuschungen zu bestehen, scheitert aber an der harten Realität und fehlender eigener Standhaftigkeit, denn er betäubt seine Verzweiflung über sein Scheitern als Dichter mit Alkohol. Tom ist Félix Paquet, sein alter ego Tennessee, der über sein Leben reflektiert, Edvin Revazov. Beide bilden in völliger tänzerischer Übereinstimmung die komplexe Konstruktion eines Charakters ab, der im Bühnenstück sowohl die Erzählebene übernimmt als auch Akteur ist.

In der Ballett-Adaption träumt Tom von einer Karriere als Zeichner – ein geschickter Kunstgriff Neumeiers, der ihn damit in die Nähe des Autors Williams bringt, der gerne zeichnete und malte. Ein Selbstportrait findet sich im opulent aufgemachten Programmheft. Eine weitere Assoziation zu Williams, dessen Werk ja ohnehin voller autobiographischer Bezüge ist, entsteht durch Toms Besuch einer Schwulenbar. Das hätte der Autor in den 40er Jahren nicht bringen können, der noch 1979 wegen seiner Homosexualität zusammengeschlagen wurde.

 

 

Amanda, die Mutter der beiden, eine überzeugend in sich zerrissene, leidende Patricia Friza, hängt ihren Erinnerungen an die Verehrer in ihrer Jugend nach, die alle gleich gekleidet und völlig austauschbar sind. In diesen Tagträumen erscheint auch immer wieder ihr Ehemann, ebenfalls Edvin Revazov, der die Familie sitzenlassen und seine Frau in die Einsamkeit gestoßen hat. Einsam in sich sind tatsächlich alle Figuren, die Hauptfiguren familiär verstrickt, aber doch letztlich auf sich selbst geworfen. Die für Neumeier so typischen harten Bewegungen und Körperknicke, die Bilder des Nicht-von-der-Stelle-Kommens geben den gebrochenen Sehnsüchten der Protagonisten eine dynamische Plastizität; dann sind die Familienmitglieder wieder knotenhaft ineinander verschlungen, schaffen es aber nicht, eine stabile Gemeinschaft aufzubauen. Das tiefe Gefühl der Einsamkeit vermittelt auch die Musik von Charles Ives, in der eine schwelgerisch-sehnsüchtige Grundstimmung immer wieder durch atonale Bläsermotive durchschnitten wird. Die hervorragend ausgewählten und vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Luciano Di Martino großartig gespielten Stücke streichen sowohl Atmosphären als auch jeweilige psychische Dispositionen heraus und malen dunkle Seelen-Klangbilder oder schaffen eine filmische Stimmung wie die Musik von Ned Rorem. Die Werke von Philip Glass in ihrer quirligen Dynamik nutzt Neumeier für die Darstellung von Hektik und Getriebenheit wie beispielsweise in der Szene in der Schuhfabrik, in der Tom arbeiten muß, um die Familie als Ersatzvater über Wasser zu halten.

 

 

Wer mal in der Paketpost gearbeitet hat, weiß, was die stundenlange Akkordarbeit mit umhergeschmissenen Paketen und der ständigen Angst, sein Soll nicht erfüllen zu können, aus Menschen macht. Wer die Kette unterbricht, gefährdet die Arbeit aller und wird entsprechend genmaßregelt, das Individuum zählt hier nichts – es hat nur zu funktionieren. Wie die Tänzer dieses wirbelnde Ineinander meistern, ist großartige und harte choreographische Arbeit, in der, wie in der Fabrik, kein Fehler passieren darf. Für alle Tänzer bzw. die Choreographie gilt, daß der Ausdruck und die Handlung im Vordergrund stehen; selbstgefällige meterweite Sprünge und übertriebene Pirouetten fehlen. Virtuos sind alle Darbietungen dennoch oder gerade deswegen, weil die exakte Beherrschung der komplizierten Bewegungsabläufe auch von den kleinen Rollen garantiert ist. Die schaffen mit dem geschickt eingesetzten, sehr wandelbaren Bühnenbild eine Mehrschichtigkeit und Raumtiefe, wenn zum Beispiel beim Basketballspiel die Tänzer sowohl vor als auch hinter einer transparenten Leinwand agieren, auf der Filmausschnitte aus einem Basketball-Spiel flimmern. Alles auf der Bühne bleibt Kulisse, was die Konzentration auf dem getanzten Geschehen hält. Die angedeutete Wohnung klappt immer mal wieder zusammen, fast alle anderen Aspekte sind ebenfalls mobil. Lediglich zwei Fluchttreppen, die so typisch für amerikanische Stadthäuser sind, stehen rechts und im Bühnenhintergrund. Aber diese Fluchten führen ins Leere, denn die Häuser fehlen. Man kann nach oben und unten, aber nicht in ein Inneres, der Weg ist sinnlos wie das Sich-Abhetzen in einem Hamsterrad, in dem jeder für sich nach Anerkennung und Glück japst, aber nichts davon erreicht. Es bleiben Träume und Illusionen. Beständig scheinen auch die Glastiere zu sein, die glitzernd am linken Bühnenvordergrund stehen.

 

 

Doch sie können nur seelenlos funkeln und jeder weiß, daß mindestens eines davon Schaden nimmt. Das von Laura so geliebte Einhorn, ein Sinnbild der Unschuld, wird seines Kopfschmuckes und damit seiner Einzigartigkeit beraubt, als Toms Arbeitskollege Jim zum Abendessen kommt und mit seiner ungeschickten Art nicht nur das Horn ab-, sondern auch Lauras Herz bricht. Den von Amanda als erhofften Schwiegersohn jungen Mann stellt Christopher Evans elegant und sympathisch dar. Nachdem er sich zuerst Laura zugewandt hat, rückt er mit der Nachricht heraus, bereits verlobt zu sein – ein überraschender, für die Familie und Laura harter Umschwung. Die junge Frau bläst schließlich einsam auf dem Boden kauernd die Kerzen des Leuchters aus, die wie Lebenslichter oder kleine Flammen der Hoffnung verglimmen. Trauriges Ende einer großartigen Produktion, die zu Recht „Gesamtkunstwerk“ genannt werden darf. Der begeisterte Applaus galt allen Mitwirkenden, aber deutlich vor allem Alina Cojocaru als Laura und John Neumeier, der zwischen Noten und Worten liest.

 

Andreas Ströbl, 4. November 2021

Photos: Kiran West

 

 

 

46. Hamburger Ballett-Tage

Ein Klassiker und eine Gala

Ein Sommernachtstraum ist eines von John Neumeiers schönsten Balletten. Uraufgeführt 1977, wurde es inzwischen in mehreren Wiederaufnahmen (2011/2016/2019) mit wechselnden Besetzungen gezeigt und ist zur Freude der Ballettomanen nun auch als DVD verfügbar. Der Chefchoreograf und seine Company haben die durch die Pandemie bedingte Aufführungspause genutzt, um die Erfolgsproduktion im Februar dieses Jahres für die Veröffentlichung bei Cmajor aufzuzeichnen. Erfreulicherweise war das Stück auch im Rahmen der diesjährigen Ballett-Tage – fast in DVD-Besetzung - zu sehen (25. 6. 2021). Corona-bedingt erklang die Musik in ihrer Gesamtheit vom Band (während sonst Mendelssohn Bartholdys Komposition zu Shakespeares Schauspiel, welche die höfischen Szenen bei Herzog Theseus und seiner Braut Hippolyta illustriert, live vom Orchester gespielt wird). Für die Traumsequenzen im Wald mit der Feenwelt nutzte Neumeier elektronische Klänge von György Ligeti, für die Auftritte der Handwerker und deren Divertissement im letzten Akt Musikautomaten, wofür von Beginn an Tonträger zum Einsatz kamen. Dieser Stil-Mix ist ein geradezu genialer Einfall und verhilft der Aufführung – gemeinsam mit der atmosphärischen Ausstattung von Jürgen Rose – zu magischer Wirkung.
 

Neu in der Doppelrolle der Hippolyta/Titania demonstriert Anna Laudere ihre große Klasse, ist zu Beginn während des geschäftigen Treibens bei der Hochzeitsvorbereitung noch verunsichert, was sie als künftige Braut des Herzogs am Hof erwartet. Zudem ist sie irritiert, dass Theseus auch mit anderen Hofdamen flirtet. Die Tänzerin zeigt das empfindsam und sensibel, kann danach im Traum als Feenkönigin Titania ihre aristokratische Noblesse und ihr sinnliches Flair einbringen. In dem Liebesspiel mit dem zum Esel verwandelten Handwerker Zettel bietet sie ein komisches Kabinettstück, um nach all dem Ulk beim Hochzeitsfest wieder zu hehren Klassik zurückzukehren. In diesem Pas de deux ist Christopher Evans in der Doppelrolle des Theseus und Oberon ihr Partner, der den verletzten und auf der DVD zum Einsatz kommenden Edvin Revazov ersetzt. Evans hat einen fabelhaften Auftritt, ist hoheitsvoll-autoritär, arrogant und erst am Ende Hippolyta wirklich zugetan. Tänzerisch macht er glänzende Figur, bewältigt all die technischen Finessen der Choreografie mühelos. Sensationell ist Alexandr Trusch – zuerst als gewandter Philostrat am Hofe mit hohen Sprüngen und flinken Pirouetten, danach als Puck ein ausgelassener Wildfang mit Witz und körperlichem Totaleinsatz. Seine Aktionen mit der Liebesblume führen zu Verwirrungen bei den beiden Paaren – hochrangig besetzt mit Hélène Bouchet und Madoka Sugai als Helena und Hermia sowie Félix Paquet und Jacopo Bellussi als Demetrius und Lysander. Und da ist natürlich die hinreißende Handwerkertruppe, die mit ihren urkomischen Auftritten für Lachstürme im Publikum sorgt – köstlich Marc Jubete als Zettel/Pyramus, Artem Prokopchuk als Flaut und umwerfend im Travestie-Auftritt auf Spitze als Thisbe, Lizhong Wang als Squenz/Wand, Marià Huguet als Schlucker/Mondschein, Pietro Pelleri als Schnauz/Wand, Aleix Martinez als Schnock/Löwe und Lloyd Riggins als Musiker Klaus an der Drehorgel. Der Abend des 25. Juni markierte die 312. (!) Aufführung seit der Premiere und stieß wie stets auf begeisterte Aufnahme.

 

2020 fiel die traditionelle Nijinsky-Gala – alljährlich der Höhepunkt der Ballett-Spielzeit – der Pandemie zum Opfer. In diesem Jahr konnte sie am 27. 6. 2021 stattfinden - sogar als Doppelvorstellung, doch unter modifizierten Bedingungen. Der vierstündige Abend fand ohne Orchester mit einer Kammermusikbesetzung von vier Musikern statt. Das bedeutete den Verzicht auf spektakuläre Bravournummern und glamouröse Solo-Auftritte (obwohl man dafür Toneinspielungen hätte nutzen können). Die Gala wurde wie stets charmant und informativ von John Neumeier moderiert und stand unter dem Motto Celebration. Gefeiert wurde das Wiederauftreten des Ensembles nach der Zwangspause, das Wiedersehen von Tänzern und Zuschauern. Verdienstvollerweise ließ Neumeier das Bundesjugendballett das Programm eröffnen. Raymond Hilberts Choreografie „Einsame Verbundenheit“ ist kein großer Wurf, demonstrierte aber das beachtliche Talent der Tänzerpaare. Aus Neumeiers „Nocturns“ zeigten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko ein Duo – sie biegsam und sensibel, er zärtlich und fürsorglich. Chopins Klavierstücke spielte Michal Bialk sehr einfühlsam.
 

Nur wenige Gastsolisten zierten den Abend – eine davon war Ida Praetorius vom Königlich Dänischen Ballett, die mit Aleix Martinez eine sehr emotionale Szene aus Neumeiers Beethoven-Projekt II zeigte. Der Ballettintendant steuerte sogar eine Uraufführung bei, die dem Andenken von Strawinsky anlässlich dessen 50. Todestages gewidmet war. „Peter und Igor“ nennt sich das Stück, wobei mit dem ersten Vornamen Tschaikowsky gemeint ist, dessen musikalischen Motive Strawinsky mehrfach variierte. Die Nummer mit Jacopo Bellussi und Alessandro Frola war einer der Gala-Höhepunkte – anfangs ein hingebungsvoller, zärtlicher Männer-Pas de deux mit Synchron-Figuren in perfekter Präzision, später aufgegliedert in solistische Auftritte mit hohem Tempo und Krafteinsatz. Neumeiers Kreationen bildeten den Schwerpunkt des Programms – für den Pas de deux nach der Hochzeit aus seinem Ballett Othello traten zwei weitere Gasttänzer vom Königlich Dänischen Ballett auf und sorgten für eine überaus berührende Szene. Ryan Tomash war ein kreatürlich-erotischer Titelheld, Astrid Elbo eine innige Desdemona, die in ihrer Zuwendung und Hingabe überwältigte. Der erste Teil des Programms endete mit einem weiteren Gedenken – es galt der ehemaligen Ersten Solistin der Compagnie Colleen Scott, die am 9. Mai dieses Jahres verstorben war. Neumeier hatte dafür sein Ballett „Wendung“ auf den 1. und 2. Satz von Schuberts Streichquintett C-Dur gewählt. In neoklassischer Reinheit zelebrieren Hélène Bouchet, Leslie Heylmann, Yun-Su Park, Matias Oberlin, Florian Pohl und Mitglieder des Corps de Ballet eine feierliche Totenmesse.
 

Der zweite Teil brachte einen längeren Ausschnitt aus Neumeiers Die Glasmenagerie von 2019 mit einigen Interpreten aus der Uraufführung. Unvergleichlich als Laura ist Alina Cojocaru in ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit, draufgängerisch Christopher Evans als Jim, sympathisch Félix Paquet als Tom, kokett Olivia Betteridge als Betty, faszinierend androgyn David Rodriguez als Das Einhorn. Der Gast Ryan Tomash übernahm überzeugend den Part des Tennessee. Ein heiter-flottes Intermezzo folgte mit einem Duett aus Neumeiers „Shall We Dance?“ auf Gershwins mitreißende Musik. Madoka Sugai und Alexandr Trusch brillierten hier in Frack und Zylinder mit stupendem Drive, lässigem Feeling, Gefühl für Rhythmus und tänzerischer Bravour. Das Finale war einem von Neumeiers neuesten Schöpfungen vorbehalten (Uraufführung im September 2020). Aus Ghost Light hatten Anna Laudere und Edvin Revazov im ersten Teil des Abends schon ein feinfühliges Duett gezeigt und nun sieht man im Schlussbild viele Tänzer mit dem Ausdruck der Zuversicht und Freude. Das Erscheinen der Laudere im Kostüm der Kameliendame ist original, aber Neumeier lässt auch Othello, Desdemona und Laura noch einmal auftreten und einstimmen in den allgemeinen Hoffnungschor. Traditionell gab es am Schluss auf der Bühne Blumen und Konfettiregen, im Saal die nicht enden wollende Euphorie des Publikums.

 

Bernd Hoppe, 29.6.2021

 

 

 

Das Hamburg Ballett ist zurück

Gefeierte Premiere des neuen Beethoven-Abends

Eigentlich wollte John Neumeier aus Anlass von Beethovens 250. Geburtstag dessen 9. Sinfonie choreografieren, kam aber zu der Einsicht, dass der Schlüsselsatz der Ode an die Freude, „Seid umschlungen, Millionen!“, in Zeiten der Pandemie tänzerisch nicht umzusetzen sei. Basierend auf den Erfahrungen mit dem erfolgreichen Abend Beethoven-Projekt I von 2018 entschied sich der Choreograf für dessen Fortsetzung mit ähnlicher Konzeption – also einer Kombination von mehreren Werken des Komponisten. Die Generalprobe konnte am 4. Dezember des vergangenen Jahres noch stattfinden, die Premiere aber fiel den Lockdown-Anordnungen zum Opfer.

Im Rahmen der Wiedereröffnung des Hauses war am 29. Mai 2021 endlich die Uraufführung von Beethoven-Projekt II zu erleben. Die Musikauswahl ist ungewöhnlich vielseitig und umfasst neben Kammermusik und Auszügen aus dem Oratorium Christus am Ölberge mit der Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 auch ein großes sinfonisches Werk. Entsprechend ist der Abend in zwei Teile gegliedert – Hausmusik und Tanz! Im ersten Abschnitt erklingt zu Beginn die Sonate für Klavier und Violine Nr. 7 c-Moll op. 30, Nr. 2 – von Mari Kodama am Flügel auf der linken Bühnenseite und Anton Barachovsky an der Geige engagiert und virtuos musiziert. Der mit dem Hamburg Ballett besonders verbundene Tenor Klaus Florian Vogt sang danach Recitativo und Aria des Christus („Jehova, du mein Vater!/Meine Seele ist erschüttert“) mit klagendem Schmerzenston und starkem stimmlichem Einsatz. In der den ersten Teil abschließenden Klaviersonate Nr. 21 C-Dur op. 53, der „Waldstein-Sonate“, konnte die Pianistin nochmals mit ihrem technischen Vermögen brillieren und darüber hinaus mit der differenzierten Wiedergabe der einzelnen Sätze beeindrucken. Bei all diesen Musikstücken sind mehrere Tänzer um den Flügel und die ausführenden Künstler gruppiert, was den Eindruck von Hausmusik, wie sie zu Lebzeiten des Komponisten gepflegt wurde, evoziert. Das Philharmonische Staatsorchester mit seinem Generalmusiker Kent Nagano am Pult ist im Hintergrund der Bühne platziert, wird quasi in das Geschehen einbezogen, denn die Tänzer agieren vor, hinter und über dem Orchester. Bühnenbildner Heinrich Tröger hat dafür eine zweite, erhöhe Ebene im Hintergrund geschaffen, deren grafische Ornamente wie der Bühnenboden in den Farben wechseln. Hoch elegante Kreationen für die Damen erdachte Albert Kriemler vom Schweizer Mode-Label A-K-R-I-S.

Wie schon in der 1. Folge ist dem katalanischen Tänzer Aleix Martinez eine tragende Rolle zugeordnet. In der Verkörperung des Komponisten gelingt ihm das fesselnde Porträt eines Menschen, der von seiner kommenden Ertaubung erfahren hat und gegen dieses Schicksal aufbegehrt. Diese existentielle Situation setzt Neumeier – wie es bereits in der 1. Folge zu sehen war – mit marionettenhaft abgehackten Bewegungen, hektischem Zappeln und pathologischen Zuckungen um. Aber in den Pas de deux mit Jacopo Belussi (im 1. und 4. Satz der Violinsonate sowie in den Auszügen des Oratoriums) kann der Tänzer auch mit berührend lyrischer Empfindung aufwarten, sowie mit Hélène Bouchet (im 2. Satz und in der „Waldstein-Sonate“) akrobatische Hebefiguren zeigen. Diese Teile zählen zu den gelungensten choreografischen Einfällen des ersten Abschnittes. Entstanden dessen Werke alle in der Zeit des Heiligenstädter Testaments 1802, als Beethoven von seiner Erkrankung erfuhr, so atmet die Musik des zweiten Teiles pure Lebensfreude. Schon Richard Wagner gab der 7. Sinfonie den Titel „Apotheose des Tanzes“, denn kein anderes Werk Beethovens ist so geprägt von tänzerischen Rhythmen und ausgelassener Vitalität. Dirigent Kent Nagano setzt auf entsprechend zügige Tempi und permanenten Fluss, was mit Neumeiers gleichermaßen mitreißender wie berührender Choreografie eine ideale Symbiose ergibt. Mit dieser Deutung erinnert er an seine legendären tänzerischen Umsetzungen der großen Sinfonien Gustav Mahlers. Bevor sich das gesamte Ensemble im Schluss-Satz Allegro con brio zu einem fulminanten Finale voller Elan, Tempo und Heiterkeit vereint, sieht man in den ersten Sätzen einige von Hamburgs Spitzentänzern. So im 1. Satz Poco sostenuto – Vivace den jungen Atte Kilpinen, der schon in Neumeiers Ghostlight sein enormes Talent demonstriert hatte und auch hier in einem Duo mit der reizenden Ida- Sofia Stempelmann mit enormer Schnelligkeit, gespannter Energie und stupender Präzision verblüfft. Mit nacktem Oberkörper und langem schwarzem Rock ist er auch optisch ein reizvoller Kontrast zu seiner Partnerin im weißen Kleid mit unterem Hohlsaum-Rand. Das derzeit führende Paar des Ensembles – Anna Laudere (in einem eleganten blauen Kleid) und Edvin Revazov (im schwarzen Lederhemd) – ist im 2. Satz Alegretto zu sehen, wie stets gefühlsbetont und voller Hingabe. Madoka Sugai und Alexandr Trusch – seit beider Auftritt in Don Quixote ein Traumpaar – sorgen im 3. Satz Presto – Assai meno presto für einen tänzerischen Wirbelsturm in rasantem Tempo und von imponierender Energie. Im 4. Satz agiert Trusch dann wie ein Vortänzer, dem die gesamte Compagnie mit dem Ausdruck von Glück und Optimismus folgt. Das Beethoven-Projekt II ist Neumeiers 165. Ballett – entstanden unter besonderen Bedingungen und am Ende der Premiere vom Publikum frenetisch bejubelt.

 

Bernd Hoppe 2.6.2021

 

 

 

HAMBURGER OPERNLOFT

MORD AUF BACKBORD

1. Februar 2020

IN MÖRDERISCHES VERGNÜGEN

Zwischendurch gab es viele Lacher und ins Geschehen einbezogene Zuschauer – eine Kreuzfahrt von Portugal über Spanien bis nach Italien. Zwischendurch war auch die Traumschiffmelodie natürlich dabei. Dazu Spiel, Spaß, Spannung und wunderbare Stimmen – Herz, was will man mehr? Die mörderische Dreiecksgeschichte wie aus dem wahren Leben: ein Ehemann, seine Gattin und deren Liebhaber, alle an Bord der MS „Opera“ unterwegs als Bajazzo, Colombine und Harlekin (dazu die Arie „Lache Bajazzo…“) einfach und sehr genial, natürlich mit tödlichem Ausgang der untreuen Beteiligten.

Nebenbei sucht die Undercoveragentin auch noch einen windigen baskischen Doppelmörder, der als Restaurantkellner nun Drinks serviert an Bord – Verwicklungen und Vergnügungen sind vorprogrammiert! Von Granada´s roten Rosen über Capris Sonnenuntergänge bis „Come prima„, der ultimativen Herzschmerzballade aller gescheiterten Lieben auf italienischem Boden und zum Abschied von Bord ein „Ciao Ciao Bambina„, dazu Arien aus „Carmen“, „Il trovatore“ und „Pagliacci“ – die musikalische Palette ist umfassend und auch zum mitsingen durchaus geeignet!

Die wunderbaren Sängerinnen Aline Lettow als Opernsängerin Aline und Rebecca Aline Frese als Undercover-Polizistin Rebecca gaben alles – und das war viel! Ein absolutes Vergnügen ihnen zuzuhören und auch als Schauspielerinnen einen Daumen hoch wert! Humorvoll gestalteten die Künstlerinnen den Abend und das Krimispiel. Ihre Stimmen berührten die Zuschauer und es gab immer wieder begeisterten Szenenapplaus dafür.

Zusammen mit dem Traumschiff – Kapitän Bruker (Markus Bruker) der auch die musikalische Leitung und Arrangement inne hatte, Tim Beger als Steward Silvio (auch Saxophon & Klarinette) teilten sie sich die kleine aber feine Bühne.Am Kontrabass stand dabei Christof Lewandofski, alle drei Herren sorgten zusammen für die passenden Hintergrundtöne, Musikbegleitung und Mordgeräusche…

Das Kollektiv „SCHLAGOBERS“ (Susann Oberacker und Hannah Schlags) leistete wieder einmal mehr ganze Arbeit! Regie, Dramaturgie und Kostüme waren absolut auf den Punkt gebracht, die Dialoge äusserst humorvoll und von den Darstellern perfekt umgesetzt. Ein großes Kompliment an alle Beteiligten, was hier professionell und ausgesprochen kurzweilig auf die Bühne gebracht wurde. Das Publikum war zu Recht begeistert und der lang anhaltende Applaus sehr verdient!

 

Foto (c) Inken Rahardt

Marion Nevoigt , 4.2.2020

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN

 

 

Lichthof Theater Hamburg

Dong Zhou / Ethel Smythe

STRANDRECHT

Premiere am 6.12. 2019

 

„Die für Frauen wahrscheinlich am schwersten zugängliche Welt ist die der Künste, da es in ihr keine Regeln gibt, nur Chancen, die erhalten oder vorenthalten werden.“ (Ethel Smyth)

Kerstin Steeb (Künstlerische Projektleitung und Regie) und ihr Team entwickeln mit STRANDRECHT eine zeitlose, feministische Vision über Seenotrettung und zivilen Ungehorsam und bringen die bedeutendste Oper der bis heute verkannten Komponistin und Suffragette ETHEL SMYTH auf die Bühne. Klassischer Gesang in Verbindung mit elektronischen Sounds und neuen Textfragmenten.

Obwohl die Oper The Wreckers (Die Strandräuber) von Ethel Smyth im Jahr 1906 in Leipzig uraufgeführt wurde, ist die britische Komponistin und Frauenrechtlerin hierzulande kaum bekannt. Ihre an der Küste von Cornwall situierte Oper thematisiert eine gefährdete Liebschaft vor dem Hintergrund eines von Piraterie und Schiffsplünderungen korrumpierten Gemeinwesens. Die Hamburger Regisseurin Kerstin Steeb und ihr Team wagen im LICHTHOF Theater eine Neuinszenierung des Stücks, in dessen Zentrum sie die Frage nach Seenotrettung und zivilem Ungehorsam stellen. (Freies Musiktheater Hamburg )

Das Leuchtturmfeuer ist aus, erloschen durch Menschenhand. Die Strandpiraten warten auf strandende Schiffe um ihnen die Ladung zu entreissen und davon zu leben. Was verkauft werden kann geht weg, wer gerettet werden kann, hat Glück. Aber das Strandgut gehört nun mal dem Finder!

Irgendwann widersetzt sich jemand aus der Gruppe diesem Treiben, sieht das Falsche darin und möchte sich lösen, zündet heimlich das Feuer wieder an, die Schiffe sind auf einem sicheren Weg. Aber die Gruppe besteht -auch mit Druck- auf Einigkeit im Handeln. Es kommt zur Eskalation, jeder gegen jeden, Diffamierungen, fast schon Gewalt wird eingesetzt… Aber Thirza gesteht: Ich war es! Und ich würde es wieder tun! Zusammen mit Marc auf ihrer Seite beendet sie das böse Spiel und beide gehen ins Wasser.

Die Komponistin und Medienkünstlerin Dong Zhou hat ihre Klangwelt auf den Theaterproben entwickelt, indem sie reale Geräusche, die auf der Bühne während der Proben entstanden sind, zum Ausgangspunkt ihrer Komposition gemacht hat. Neben der Arbeit mit den Gesangsstimmen hat sie Sprechpassagen sowie szenische Elemente in das Stück integriert. Mit Hanne Franzen, der Musikalischen Leiterin der Produktion, wurden genau die Passagen im Stück definiert, in der die Musik von Ethel Smyth gestrichen und stattdessen die elektronische Musik erklingen soll.

Hier wurde von Kerstin Steeb und ihrem Team eine zeitlose Vision über Ungehorsam sowie Seenotrettung erarbeitet. Mit klassischem Gesang und elektronischen Klängen genau wie durch Gespräche entstand hier eine andere Welt in kleiner minimalistischer Kulisse mit viel Phantasie, auch von den Zuschauern gefordert und gegeben.

Hanne Franzen begleitete die Premierenaufführung den Abend über sehr intensiv und nuanciert am Klavier. Auch sie mit einer vielbeachteten Ausbildung und Engagement in der Jugendorchesterarbeit.

Wenn auch die gesamte Erstellung, Bearbeitung des -bis heute- selten gespielten Stückes in Frauenhänden lag: Künstlerische Projektleitung und Regie Kerstin Steeb, Regieassistenz Sonja Geiger, Texte Ivana Sokola, Dramaturgische Beratung Pamela Goroncy sowie wissenschaftliche Begleitung durch Dr. Cornelia Bartsch und Prof. Kathrin Prick, Ausstattung. Bühne und Kostüme Martina Mahlknecht, auf der Bühne wurden Licht und Technik (Sönke Christian Herm), Videodokumentation (Martin Prinoth) und Fotografie (Fabian Sommer und Fabian Hammerl) von kompetenten Männern gestaltet.

Ferdinand Keller (Marc) gestaltete seine Rolle im Gesang sowie mit Sprache, Ausdruck und Mimik sehr echt und authentisch. Für die Zuschauer sehr nah und einbeziehend, erlebt er sein Schicksal im überzeugenden Spiel auf der Bühne.

Isabel Reinhard (Avis), Die meist als Solistin im Bereich Oper und Musiktheater tätige Sängerin, bot eine höchst eindrucksvolle Leistung! Sie gestaltete ihre Bühnenrolle sehr intensiv, „erlebte“ förmlich das Geschehen und zeigte Gefühle bis hin zur Schlußszene.

Lisa Florentine Schmalz (Thirza), als klassische Sängerin, auch im Musiktheater mit klarer Stimme im Sopran, war die Thirza absolut präsent und sehr temperamentvoll gespielt, man konnte sich ihr nicht entziehen – eine reife Leistung auf diesen Brettern!

Mathias Tönges (Pasko), der eine bereits eindrucksvolle Karriere und viele namhafte Rollen gestaltet und auch hier eine sehr gute und überzeugende Leistung geboten hat. Sein Bass-Bariton im Gesang und Sprache war klar und deutlich, angenehm und volltönend. Gestik, Mimik absolut überzeugend!

STRANDRECHT ist ein altes Thema und doch immer wieder aktuell, auch nach so vielen Jahren. Das Lichthof Theater hat diese Oper in ein neues Licht gesetzt und aufbereitet, auch wenn der Name angepasst wurde – der eigentliche Inhalt rund ums Frauenrecht ist und bleibt Bestand. Immer noch müssen Frauen mehr als Männer um ihre Rechte kämpfen, werden benachteiligt und oft sogar von ihren Geschlechtsgenossinnen angegriffen, betrogen in Wort und Tat. Dies macht diese Aufführung deutlich und -leider- immer noch sehr aktuell.

Trotz des etwas düsteren Themas und auch Hintergrund der Bühne, erlebten die Zuschauer im ausverkauften Haus eine überzeugende und gefeierte Premiere mit langem Applaus und interessierten Gästen am gemeinsamen Gespräch nach dem offiziellen Teil des Abends.

 

Fotos @ Studio Fabian Hammerl

Marion Nevoigt 9.12.2019

Mit besonderem Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN

 

45. Hamburger Nijinsky-Gala

30. 6. 2019

Emotionsreiches Tanzfinale

Gleich drei Tänzerabschiede gab es bei der diesjährigen Ballett-Gala in der Staatsoper, die traditionell die Saison beschließt und sich anhaltender Beliebtheit beim Publikum erfreut, wovon das ausverkaufte Haus zeugte. John Neumeier rief sie bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Intendant des Hamburg Ballett ins Leben und widmete sie dem legendären russischen Tänzer Vaslaw Nijinsky. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto Song and Dance und wurde wie stets von Neumeier selbst charmant und informativ moderiert. Dass Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Simon Hewett zeigte sich einmal mehr souverän in der Beherrschung der unterschiedlichen musikalischen Genres und wurde nach fest sechs Stunden verdient in den enthusiastischen Beifall des Publikums einbezogen.

Ausschnitte aus dem Programm Bernstein Dances sorgten für einen schmissigen Auftakt, vokal idiomatisch unterstützt von der Sopranistin Dorothea Baumann und dem Bariton Benjamin Appl. Die Company, darunter die kraftvoll-sportiven Solisten Aleix Martinez und Alexandr Trusch, zeigte sich glänzend aufgelegt, ausgelassen und mit ansteckender Tanzfreude. Überraschend war hier der Auftritt der Ballettlegende Alessandra Ferri, in Hamburg ein gern gesehener Gast und mit ihrer Kreation der Titelheldin in Neumeiers Ballett Duse noch immer im Gespräch. Mit ihrer nächtlich-träumerischen Darbietung des Songs „ Lonely Town“ bot sie eine ganz neue Facette in ihrem Repertoire. Eine stilistisch perfekte Fortsetzung war der zweite Beitrag auf Musik von Gershwin, Shall We Dance?, in welchem Neumeier aus die legendäre „Broadway-Pawlowa“ Marilyn Miller in einem „Imaginären Portrait“ verewigen wollte. Die Gershwin-Songs wurden in der Klavierfassung gespielt (mit Oliver Kern am Flügel), nur der letzte Titel „The Man I Love“, erklang in einer Einspielung mit der unvergessenen Ella Fitzgerald. Sechs Tänzerinnen verkörperten verschiedene Charakter-Facetten des Vorbilds – kokett, frech, elegisch, kapriziös, mondän, verwundbar. Auch der traditionelle Auftritt des Bundesjugendballetts fügte sich bestens in diese Stimmung, denn Neumeiers Choreografie Simple Gifts nach Aaron-Copland-Songs (wieder mit Appl, der sich stimmlich hier ganz zuhause fühlte und mit klangvoll strömender Stimme begeisterte) bot den jungen Tänzern Gelegenheit, Temperament und Technik zu demonstrieren.

Ein Ausschnitt aus Neumeiers Anna Karenina brachte die Begegnung mit Felix Paquet vom National Ballet of Canada, der im Solo des Konstantin Lewin mit hinreißenden Sprüngen und Drehungen das Publikum begeisterte. Der charismatische Tänzer wird ab der kommenden Saison als Solist zum Hamburg Ballett wechseln und man darf gespannt sein auf seine tänzerische Entwicklung. Ein weiterer solistischer Beitrag gehörte zu den stärksten Momenten des ersten Programmteils – die Alt-Arie „Erbarme dich“ aus Neumeiers Matthäus-Passion, in der Dario Franconi mit geradezu übermenschlicher Expressivität überwältigte, die Musik mit Gesten der Erschütterung, des unfassbaren Schmerzes und Aufbegehrens umsetzte.

Mit dem melancholischen Abschied von zwei Ersten Solisten des Ensembles endete der erste Teil des Abends. Die Spanierin Carolina Agüero war als Prinzessin Natalia in Neumeiers Illusionen – wie Schwanensee noch einmal in ihrer bewegenden Darstellung dieser unglücklichen Figur zu erleben, in hochkarätiger Partnerschaft mit Alexandr Trusch als König und David Rodriguez als Der Mann im Schatten. Das Publikum verabschiedete die Tänzerin in Zuneigung und Dankbarkeit, wie auch im folgenden Beitrag Carsten Jung als Titelheld in Liliom, für den er 2012 mit dem Benois de la Danse ausgezeichnet worden war. Neumeier hatte die Figur für ihn kreiert, ebenso wie die Julie für Alina Cojocaru vom English National Ballet. Beide berührten noch einmal in der träumerischen Szene auf der Bank mit ihrer einzigartigen Aura und Sensibilität. Tränen- und blumenreich gestaltete sich danach die Verabschiedung des beliebten Tänzers mit einem schier unendlichen Defilee seiner Tänzerkollegen und der Ballettmeister, vom Publikum mit stürmischem und dankbarem Applaus begleitet.

Ganz Gustav Mahler war der zweite Schwerpunkt des Programms mit dem Titel „Um Mitternacht“ gewidmet. Die „Rückert-Lieder“ des Komponisten hat Neumeier zweimal choreografiert, hier war die 2. Fassung zu sehen. Appls Stimme klang diesmal im forte steif und dröhnend, wirkte in den lyrisch-getragenen Gesängen („Liebst du um Schönheit“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“) überzeugender. Erste Solisten der Company, Edvin Revazov, Anna Laudere, Silvia Azzoni, Christopher Evans, sowie Jacopo Bellussi brachten den ernsten Charakter dieser Lieder mit ihrem Einsatz zu starker Wirkung.

Der letzte Programmteil war weniger dem Motto der Gala verpflichtet, bot dafür einen Ausblick auf die kommende Saison, in der Neumeiers Ein Sommernachtstraum wieder aufgenommen wird. Der gezeigte Hochzeitsmarsch mit Alexandr Trusch als Idealbesetzung des Philostrat gestaltete sich – nicht zuletzt wegen der traumhaften Kostüme von Jürgen Rose – als Fest für das Auge. Und im folgenden Grand Pas de Deux hatte Jacopo Bellussi die Chance, vor dem bevorstehenden Rollendebüt als Theseus bereits einen Vorgeschmack auf seine Deutung der Rolle zu geben. Sein Auftritt mit Hélène Bouchet als Hippolyta war von bestechender Eleganz, leichte Nervositäten waren sicher dem Debüt geschuldet. Bejubelt wurde die schon oft gezeigte, aber immer wieder gefeierte Choreografie von John Neumeier, „Opus 100 – For Maurice“, die er anlässlich des 70. Geburtstages von Maurice Béjart geschaffen hatte. Alexandre Riabko und Ivan Urban sorgten mit ihrem emotionsstarken Hohelied auf die Freundschaft für eine Sternstunde des Abends. Und dann der dritte Abschied, denn der Erste Solist Karen Azatyan, unvergleichlich als Gabriele D’Annunzio im Ballett Duse, hatte sich wegen einer Verletzung entschlossen, seine Tänzerkarriere zu beenden. Mit Alessandra Ferri bot er noch einmal die hoch erotische, von Brittens Musik aufgepeitschte Szene zwischen den beiden Protagonisten.

Stets wirken bei der Nijinsky-Gala auch Mitglieder der während der Ballett-Tage gastierenden Compagnien mit. Vom National Ballet of China traten Qui Yunting und Wu Sicong in einer Choreografie von Fei Bo auf buddhistische Gesänge von geheimnisvoll raunender und brummelnder Stimmung auf. Aus Neumeiers Lied von der Erde zeigten Cao Shuci und Sun Ruichen den Satz „Der Einsame im Herbst“ mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen in den spezifischen Stil dieser Kreation. Vom Het Nationale Ballet kamen Jozef Varga und Giovanni Adriano Princic und stellten Wubkje Kuindersmas Choroegrafie Two and Only vor. Die Musik dazu stammt von Michael Benjamin, der sie selbst an der Gitarre interpretierte. Der sensible Männer-Pas-de-deux endet trotz aller Zugewandtheit der beiden Figuren mit einem irritierenden Abschied. Als prominente Vertreterin des National Ballet of Canada stellte sich Svetlana Lunkina vor, die im Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie gemeinsam mit Christopher Evans für einen berührendes Moment sorgte. Danach vereinte sich das gesamte Ensemble in weißen Trikots im „Rondo-Finale“ zu einem ausgelassenen Tanzwirbel, dem der nicht enden wollende Applaus des Publikums, der Konfettiregen und die Blumen-Reverenzen folgten.

 

Am Abend vor der Gala war Gelegenheit, jene Produktion zu erleben, mit der die Saison eröffnet wurde. Eigentlich war dafür Neumeiers Neuschöpfung Die Glasmenagerie nach Tennessee Williams geplant, die aber auf den Beginn der Spielzeit 2019/20 verschoben werden musste (Premiere: 1. 12. 2019). Dafür gab es das Programm Brahms/Balanchine, das die „Liebeslieder-Walzer“ von Johannes Brahms mit dessen Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll op. 25, orchestriert von Arnold Schönberg, kombinierte. Die Bühne von Heinrich Tröger zeigt einen Ballsaal mit Lüster im klassizistischen Stil. Gemeinsam mit den rauschhaften Ballroben von Judanna Lynn stellt sich eine Atmosphäre von einzigartiger Eleganz, vergleichbar mit dem Fest

beim Fürsten Gremin in Tschaikowskys Eugen Onegin, ein. Das Gesangsquartett mit Marie-Sophie Pollak/Sopran, Sophie Harmsen/Alt, Sebastian Kohlhepp/Tenor und Benjamin Appl/Bariton sowie das Klavierduo mit Mariana Popova und Burkhard Kehring war auf exzellentem Niveau. Erste Kräfte der Company, wie Silvia Azzoni, Patricia Friza, Anna Laudere, Carsten Jung, Matias Oberlin, Edvin Revazov und Alexandre Riabko, sorgten mit bestechender Eleganz in Balanchines Formationen, Reihen, Duos und Trios für ein Fest der Galanterie.

Auf heller, nur mit einem drapierten Schleier dekorierter Bühne gestaltete sich das Brahms/Schönberg-Quartett mit seinen erlesenen Tableaus als eine Parade neoklassischer Ästhetik. Jeder der vier Sätze besaß ein eigenes choreografisches Gepräge, gipfelnd nach dem glanzvollen Andante-Divertissement mit Hélène Bouchet und Alexandr Trusch im finalen Rondo alla Zingarese. In ungarischen Folklore-Kostümen begeisterten Madoka Sugai und Karen Azatyan gemeinsam mit der Gruppe in einem vitalen, temperamentvollen tänzerischen Wirbel. Schönbergs Bearbeitung der Vorlage unter Einbeziehung des Triangel und Xylophons war hier am ohrenfälligsten. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Markus Lehtinen wusste sie mit Schwung und Rasanz zu interpretieren.

 

Bernd Hoppe 5.7.2019

 

 

 

 

Ehrung für John Neumeier

24. 2. 2019

 

Das Hamburger Publikum liebt seinen Ballettintendanten. Als er am 24. 2. 2019 bei der Benfizgala anlässlich seines 80. Geburtstages die Bühne des Opernhauses betritt, erheben sich die Zuschauer spontan und geschlossen von ihren Plätzen, um dem Jubilar standing ovations darzubringen und ein lautstarkes Happy Birthdayanzustimmen. Der reichlich vierstündige Abend mit vielen illustren Gästen war eine Gala der Extraklasse und das abwechslungsreiche Programm sicherte einen komplexen Querschnitt durch das künstlerische Schaffen des Choreografen. Ein überschäumendes Ensemble aus den Bernstein Dances zur Candide-Ouvertüre leitete die Gala schwungvoll ein. Von Beginn an dabei und durch das gesamte Programm geführt war Lloyd Riggins, Stellvertreter von John Neumeier und als sein Nachfolger gehandelt. Der Intendant moderierte diesmal in Englisch und als Einspielung vom Band. Broadway-Eleganz in Frack und Zylinder servierten Madoka Sugai und Alexandr Trusch nach Gershwins Shall We Dance?

Den Reigen der Gäste eröffnete Alina Cojocaru vom English National Ballet, die als Marie gemeinsam mit dem Hamburger Ersten Solisten Christopher Evans als Günther in einer Szene aus dem Nussknacker mit mädchenhafter Anmut bezauberte. Mit mythischen Gestalten hat sich Neumeier immer wieder beschäftigt. In einem mit Intermezzo betitelten Programmpunkt stellte er einige davon vor, beginnend mit Orpheus, den der italienische Tänzerstar Roberto Bolle mit erhabener Strenge interpretierte. Einen interessanten Vergleich ermöglichte ein Ausschnitt aus Glucks Tragédie opera Orphée et Eurydice, die Neumeier 2017 an der Lyric Opera of Chicago mit dem Joffrey Ballet herausgebracht hatte. Von dieser Compagnie kamen Temur Suluashvili und Victoria Jaiani als Gäste und sorgten in den Titelrollen für magische Momente. Delibes’ Sylvia hatte Neumeier 1997 beim Ballet de l’Opéra de Paris herausgebracht. Mit Manuel Legris, der die Partie des Schäfers Aminta in der Uraufführung kreiert hatte, war eine Ballettlegende nach Hamburg gekommen. Mit Leticia Pujol zeigte er den letzten Pas de deux des Werkes – eine schmerzliche Szene des Abschieds, die von der Schwierigkeit der Liebe zeugt.

Mehr als 150 Ballette hat Neumeier für das Hamburg Ballett geschaffen. Das erste entstand 1974 auf zwei Stücke aus den Kinderszenen von Schumann, damals live gespielt von Christoph Eschenbach. Der Pianist war auch bei der Gala zugegen und spielte „Von fremden Ländern und Menschen“ sowie die „Träumerei“ mit romantischer Empfindsamkeit. Mit starken Kontrasten endete der erste Teil, der Neumeiers Beschäftigung mit sakralen Werken dokumentierte und die Alt-Arie „Erbarme Dich“ aus Bachs Matthäuspassion mit dem Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“ aus dem Weihnachtsoratorium kombinierte. Ersteres Stück formte Dario Franconi mit existentieller Wucht und überwältigender Verausgabung, das zweite hatte in Lucia Ríos eine Anführerin von unbändiger Kraft und Energie.

Ein Hauptwerk Neumeiers, Nijinsky, eröffnete den zweiten Teil mit Gästen vom National Ballet of Canada, Guillaume Coté als Vaslaw und Heather Ogden als Romola. Neben diesen starken Persönlichkeiten faszinierte einmal mehr Aleix Martínez als Stanislav. Für Alessandra Ferri choreografierte Neumeier 2015 Choreografische Phantasien über Eleonora Duse. Die Ausnahmetänzerin ließ es sich nicht nehmen, bei der Gala eine Schlüsselszene des Werkes, den Pas de deux mit dem charismatischen Karen Azatyan als Gabriele D’Annunzio, zu zeigen. Von jugendlichem Zauber und emotionalem Überschwang war die Balkonszene aus Romeo und Julia erfüllt, für die Andreas Kaas und Ida Praetorius vom Royal Danish Ballet viel Beifall erhielten. Jason Reilly als Otello und Alicia Amatriain als Desdemona vom Stuttgarter Ballett brachten das tragische Schicksal des Paares berührend nahe. Zwei Startänzerinnen vom Ballett des Bolschoi-Theaters sorgten gegen Ende des zweiten Teiles noch für spektakuläre Höhepunkte. Von mondäner Eleganz und hinreißender Aura Olga Smirnova als Anna Karenina in einem Pas de deux mit Artem Ovcharenko als Wronski, von fragiler Zerbrechlichkeit und ätherischer Magie Svetlana Zakharova als Marguerite Gautier mit Edvin Revazovim zweiten Pas de deux aus der Kameliendame.

Am Ende noch einmal das gesamte Ensemble, angeführt von Silvia Azzoni und Carsten Jung, mit einem Ausschnitt aus der Dritten Sinfonie von Mahler. Es ist ein hymnisches Finale, bei dem Neumeier sogar die Szene betritt. Staunend schaut er auf seine Tänzer, bleibt schließlich allein zurück und nimmt eine Nijinsky-Pose ein. Dann kommen alle Tänzer, Solisten, Gäste und Ballettmeister und überreichen ihm weiße Rosen. Es dürften mindestens 80 gewesen sein.

 

Bernd Hoppe 1.3.2019

 

 

44. Hamburger Ballett-Tage

Uraufführung und Gala-Glanz

Traditionell werden die Ballett-Tage mit einer Neuproduktion eröffnet – zumeist vom Intendanten des Ensembles John Neumeier selbst. So auch in diesem Jahr, als sich der Choreograf mit einem Beethoven-Projekt betitelten Ballett dem großen deutschen Komponisten widmete. Das Stück ist dreiteilig und verwendet zu Beginn Fragmente des Komponisten, u. a. die „Eroica-Variationen“ – eine schlüssige Wahl, da am Ende des Abends die populäre Sinfonie selbst folgt. Aleix Martinez stellt Beethoven als jungen Mann mit beinahe infantilen Zügen dar, der in Konfrontation mit personifizierten Fantasien und Ängsten seiner Welt gezeigt wird. Anfangs scheint er mit dem Flügel, an dem Michail Bialk brillant spielt, geradezu verwachsen zu sein und immer wieder kehrt er zu dem Instrument zurück. Die Bewegungen des Tänzers sind oft marionettenhaft und von skurriler Wirkung, was die Figur auch als Zweifelnden, Suchenden, Verunsicherten zeichnet, dann wieder Atem beraubend artistisch. Der Katalane – zwischen Automat und Sprungteufel – hat hier seine bisher größte Rolle zu absolvieren und bewältigt sie grandios. Im „Geistertrio“ zeigt er mit Patricia Friza einen innigen Tanz voller Glücksgefühle, im Intermezzo, dem zweiten Teil des Balletts auf „Die Geschöpfe des Prometheus“, ist er auf der in magisches Blau getauchten Szene mit einer Gebirgslandschaft im Hintergrund (Ausstattung und Licht ebenfalls von Neumeier) ein Wirbelwind mit Pirouetten und grand jétés. Edvin Revazov und Anna Laudere als Apollo und Terpsichore sorgen für mythische Stimmung, während die Gruppe als Gesellschaft heiter-vitale Tänze zeigt. Höhepunkt der Neuschöpfung ist der letzte Teil mit der „Eroica“ auf einer nun expressionistischen anmutenden Bühne. Nach den kammerspielartigen Bildern des Beginns sieht man hier ein großes sinfonisches Ballett voller Tempo, Schwung und Vitalität. Es ist dies eine Stärke des Choreografen, die er in seinen Kreationen auf die Musik Mahlers mehrfach bewiesen hat. Die Marcia funebre des 2. Satzes fällt aus der lebensbejahenden Grundstimmung heraus mit viel Bodenarbeit, strenger Statuarik und Pietà-Assoziationen. Das Scherzo ist dann wieder von lebhaft-heiterer Stimmung, wozu die duftigen Kostüme in Frühlingsfarben korrespondieren. Punktgenau auf die Musik ist das Finale choreografiert und steigert sich zu einem Hymnus der Lebensfreude. Martinez hat einen letzten Auftritt, bewegt sich zunächst wie eine Marionette und fällt dann in den ausgelassenen Tanz der anderen ein. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg musiziert unter Simon Hewett mit geschärften Kontrasten und wird am Ende in den euphorischen Jubel des Publikums einbezogen (6. 7. 2018).

Marius Petipa und Leonard Bernstein war die diesjährige Nijinsky-Gala am 8. 7. 2018 gewidmet, die traditionell die Ballett-Tage abschließt und auch diesmal deren Höhepunkt markierte. Mit einem Ausschnitt aus Bernsteins On the Town in John Neumeiers tänzerischer Umsetzung sorgte Alexander Trusch für einen schwungvollen Auftritt voller Rhythmus und Verve, schmissig geleitet von Simon Hewett am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Dirigent und Orchester zeigten sich gewohnt souverän in der Bewältigung der unterschiedlichen Stile der Musikstücke. Wie stets oblag die Konzeption und Moderation dem Ballettintendanten, der die beiden Jubilare anlässlich ihrer Geburtstage eingehend würdigte. 200 Jahre wäre der bedeutende Choreograf Petipa in diesem Jahr alt geworden, dessen Ballette als das Fundament des klassischen Tanzes gelten. Die Ausschnitte mit seinen Schöpfungen stellten dann auch die gefeierten Höhepunkte des fast sechsstündigen Abends dar. Illustre internationale Gäste waren dafür eingeladen worden. Zunächst aber machten Mariia Khoreva, Daria Ionova, Anastasia Nuikina und Maria Bulanova mit einer veritablen Rarität aus seinem Oeuvre, dem Spätwerk Le Reveil de Flore, bekannt. In einem bezaubernden Pas de quatre entzückten die vier Absolventinnen der Waganowa Ballettakademie mit aristokratisch zelebrierten Ornamenten. Einen hochinteressanten Vergleich ermöglichte eine zweifache Interpretation des Grand Pas de deux aus Dornröschen, zunächst in einer Rekonstruktion von Alexei Ratmansky für das American Ballet Theatre 2015. Tiler Peck vom New York City Ballet und Herman Cornejo vom ABT demonstrierten mit hoheitsvoller Attitüde und charismatischer Aura einen Blick zurück in die Tanzgeschichte. Sogar das Tutu der Ballerina mutete altmodisch an, wie überhaupt der ganze Vortrag einen historischen Zauber atmete. Aber die brillanten Variationen der beiden Stars besaßen auch echten Gala-Glanz. In der bekannteren Version Nurejews brillierten Jillian Vanstone und Francesco Gabriele Frola vom National Ballet of Canada mit technischer Perfektion und stupenden Effekten. Das Paar aus New York war im letzten Teil des Abends mit Balanchines Tschaikowsky Pas de deux noch einmal zu erleben – ein Feuerwerk von Bravour, eine Demonstration von Eleganz und aristokratischer Noblesse. Für das Bolshoi Ballett hatte Pierre Lacotte 2000 Petipas La Fille de Pharao rekonstruiert. Im Grand Pas de deux zeigten Olga Smirnova und Artem Ovcharenko vom Bolshoi Ballett ihre tänzerische Klasse. Gemeinsam mit Semyon Chudin wusste die Starballerina in den exquisit und hoheitsvoll gebotenen „Diamonds“ aus Jewels auch den bestechenden solistischen Schlusspunkt zu setzen.

Eine ständige Gastsolistin beim Hamburg Ballett ist Alina Cojocaru vom English National Ballet. Im Rosen-Adagio aus Dornröschen bewies die seit Jahrzehnten in der ersten Reihe tanzende Ballerina ihre ungebrochene jugendliche Anmut und mirakulöse technische Beherrschung dieser gefürchteten Nummer. In Neumeiers Deutung dieses Balletts gab sie im Pas de deux „Auroras Erwachen“ gar ein Rollendebüt. Sie und ihr Partner Alexander Trusch, der als Prinz Desiré gleichfalls debütierte, bezauberten hier mit einem Tanzduo von reinster Poesie.

Genannt werden sollen auch zwei beliebte Paare der Compagnie. Im Pas de deux aus Schwanensee verströmten Anna Laudere und Edvin Revazov im Weißen Pas de deux inniges Gefühl und romantischen Zauber und in Neumeiers (Nurejew gewidmeten) Don Juan zeigten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in zwei Pas de deux und einer Variation Kunstvoll-Mythisches.

Die Musikwelt feiert in diesem Jahr Bernsteins 100. Geburtstag. Ihm galten große, vielleicht zu ausgedehnte Teile des Programms. Die Ausschnitte aus Songfest in Neumeiers Umsetzung (von Fredrika Brillembourg mit warmem Mezzo und Daniel Ochoa mit resonantem Bariton live gesungen) gefielen mit ihrem jazzigen Feeling und dem sportiven Männerduett mit Carsten Jung und Ivan Urban, aber es folgten noch mehrere Szenen aus Bernstein Dances und seine Serenade. Letztere nahm den gesamten zweiten Programmteil ein und ist in ihrer ernsten, nachdenklichen Stimmung vielleicht nicht unbedingt eine Gala-Nummer. Ganz anders der Auftritt des Bundesjugendballetts mit Johns Dream – And What We Call Growing Up in seiner spektakulären Artistik und einem Solisten von geradezu animalischer Sinnlichkeit: Ricardo Urbina Reyes. Nach dem fetzigen Finale aus Candide Jubel, Blumen, Konfettiregen und das Publikum im Rausch.

Bernd Hoppe 21.7.2018

Bilder folgen !

 

 

 

 

OPERA STABILE

DAS FLOSS

4. Mail 2018

Auf schwankenden Planken im Meer des Neuen treiben…

Gestern hatte „Das Floß“, die Abschlussproduktion der „Akademie Musiktheater heute“, seine faszinierend verwirrende u nd mitreißende Uraufführung in der opera stabile. Das Publikum ging, nach dieser absolut empfehlenswerten Aufführung, extrem gut unterhalten und auch nachdenklich, – wenn nicht sogar ein wenig zur Selbstreflexion aufgefordert -, nachhaus. Großen Dank und noch mehr Applaus an alle an dieser Produktion Beteiligten.

Die opera stabile, kleine Schwester der Staatsoper Hamburg, ist von jeher Garant für ungewöhnliches, nah erlebtes Theater. Das liegt zu einem daran, dass es so gut wie nie eine Frontalbühne gibt. Sie befindet sich zumeist in der Mitte des bis zu 120 Zuschauer beherbergenden Raums. Bei „Das Floß“ fehlt sie sogar ganz. Es gibt zwar zwei erhöhte Zuschauerreihen, mit insgesamt um die 30 Stühle. Ansonsten jedoch befinden sich die Sitzmöglichkeiten direkt in der Szene, bzw., auf dem Bühnenbild: Es wird auf Kisten, Stufen oder sogar einer Badewannen/Sarg- Kombi Platz genommen, aus der zu Beginn Dirigent Mark Johnston klettert und auch ansonsten werden Zuschauer hier aufgefordert, den Platz zu wechseln oder sich zu erheben, damit die Künstler an Requisiten kommen.

Auch dies erhöht das Gefühl von Intensität, Nähe und sich einlassen müssen. Nein, dürfen! Durch das Thema dieses Stückes wird „Das Floß“ zu mehr als einer fragmentarisch erzählten Geschichte. Es ist auch mehr als eine musikalisch vielsprachige Revue, für deren hohe Qualität und Vielfältigkeit, die Komponisten Anastasija Kadiša, Alexander Chernyshkov und Andreas Eduardo Frank verantwortlich zeichnen.

Es behandelt Existenzängste, beschäftigt sich mit Gesellschaftsstrukturen. Da sind auf der einen Seite die sich allein überlassenen Schiffbrüchigen auf dem Floß der Medusa. (Gemäde von Théodore Géricault, um 1819). Hier spielt der Selbsterhaltungstrieb, der auch Kannibalismus nicht scheut, die Hauptrolle. Die Regisseure Aleksi Barrière und Franziska Kronfoth zeigen teilweise in Videonahaufnahmen, wie die Überlebenden sich voneinander bedienen. Und dann gibt es noch die utopische Piraten-Republik Libertalia des Schriftstellers Daniel Defoe. Hier soll absolute Demokratie geschaffen werden. Deren Regeln für die Herrschenden allerdings nicht gelten.

Kurz: „Das Floß“ konfrontiert das Publikum auf intensive, aber nie aufdringliche Weise, mit Konflikten die entstehen, wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben müssen. Ergo: mit dem Hier und Jetzt. Musikalisch bedienen sich Kadiša, Chernyshkov und Frank mystisch-ungewöhnlichen Klängen aus Orchesterüblichen Instrumenten wie Violine, Posaune, Flöte, Klarinette und Schlagwerk. Auch Akkordeon und einfache Plastikschläuche kommen zum Einsatz. Doch es gibt daneben auch Lieder, mit Volksliedcharakter zu Gitarrenbegleitung und ein Chanson, vorgetragen von der charismatischen Gina-Lisa Maiwald, die genau wie ihr isländischer Schauspielkollege Thorbjörn Björnsson, auf beruhigende Art beweist, das Schauspiel auch heute noch so viel mehr ist als das, was uns oft im TV präsentiert wird. Beide wechseln mühelos von einer Rolle in die andere. Björnsson liefert ein Mal kopfüber an einem Seil hängend, einmal mit einem Strick um den Hals, kurze Monologe ab, die unter die Haut gehen. Doch auch ihre jungen Sängerkollegen Soomin Lee, Karina Repova, Jóhann Kristinsson, sowie Julian Rohde aus dem Ensemble der Staatsoper Hamburg, stellen ihr gesangliches Können und ihre Spielfreude unter Beweis.

Allen voran Sopranistin Soomin Lee, die mit einem wunderschön melodischen Vocalizing mit beinahe hypnotischer Wirkung berührt. Dieses textlose Gesangsstück mutet an wie ein Duett zwischen Lee und dem „Tubawesen.“ Akustisch ist dieses Tubawesen, gespielt von Frank, eine Kombination aus Tuba und Gummischläuchen, was für wehklagend anrührende Klänge sorgt. Optisch ist es eine riesige Krake, die vom Schnürboden aus, manuell bewegt wird.

Aber auch Karina Repova überzeugt mit warmen Mezzo, der neugierig macht, ihn auch auf der großen Bühne zu hören, wie auch durch ihre energische bis herzliche Ausstrahlung. Bariton Jóhann Kristinsson und Tenor Julian Rohde zeigen Stimm- und Zungenfertigkeit, wenn sie sich gegenseitig, oder mit den Kollegen, Dialoge in verschiedenen Sprachen liefern. Die wirklich herausragenden Leistungen aller an diesem Abend, werden abgerundet durch die ausnahmslos jungen Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter der Leitung von Mark Johnston.

Alles in allem ist „Das Floß“ Theater, bei dem die Kunstfertigkeit der einzelnen künstlerischen Berufe aufs Intensivste gefordert ist. Es wird gerade den Darstellern auf der Spielfläche, egal ob Schauspieler, Sänger oder Musiker, dass Äußerste abverlangt. Dies gilt jedoch ebenso für Bühnenbildnerin Eunsung Yang, und vor allem Kostümbildnerin Lea Søvsø, die aus vermutlich sparsamen Budget viel Fantasie, ja sogar Glanzvolles, schafft. Unsere Gesellschaft ist genauso vielseitig, wie es die sprachlich-kulturelle Herkunft der Beteiligten ist. Bleibt zu wünschen, dass wir es schaffen, das Positive welches uns dieser Abend vermitteln möchte, mit ins wahre Leben hinübernehmen und das Negative und Beängstigende nicht zu verdrängen, aber doch zu bearbeiten.

Denn die bedeutendsten Botschaften an diesem Abend sind was Frau Repova auf ihre Kapitänsuniform geschrieben war: „Keine Angst ohne Hoffnung“. Und das, was am Ende dann, wenn alle sich nach eigenen Worten tief unter dem Meeresspiegel befinden, und von dort aus „das Meer brennen sehen“, entgegen leuchtet: „Keine Hoffnung ohne Angst“. Oder war es umgekehrt? Es gab so viel zu entdecken, zu hören, zu fühlen, zu sehen, dass ich in diesem Augenblick, die Richtigkeit der Reihenfolge nicht garantieren kann.

Doch wie dem auch sei, ist es stets das Beste, sich selbst ein Bild zu machen. Oder in diesem Fall, die Chance zu nutzen einmal anderes Theater zu erleben. Überwinden Sie die Angst vor Ungewöhnlichem, in der berechtigten Hoffnung überrascht und auf jeden Fall, auf die eine oder andere Weise, bereichert zu werden.

 

Birgit Kleinfeld 6.5.2018

Foto @ Jörn Kipping

 

 

 

Die inserierte Braut

„La Gazzetta“ an der Hamburger Kammeroper

Premiere: 06.10.2017

besuchte Vorstellung: 22.10.2017

Rossini-Rarität mit Smartphone

Lieber Opernfreund-Freund,

das Alleetheater in Hamburg macht es sich seit Jahren zum Verdienst, ihrem Publikum echte Opernraritäten in oft eigenen Kammermusikversionen zu präsentieren. In dieser Spielzeit haben die Trüffelsucher von der Max-Breuer-Allee Rossinis Opera buffa „La Gazzetta“ ausgegraben und zeigen sie vier Mal pro Woche mit sieben Sängern und nur fünf Musikern.

Seit dieser Saison unter neuer Leitung, greift man bei der Bearbeitung auf eine bewährte Kraft zurück. Barbara Hass hat als Ehefrau des langährigen Betreibers Uwe Deeken schon viele, viele Opernlibretti behutsam für das kleine Haus angepasst und zieht die Story, die auf einer Vorlage von Carlo Gordoni beruht und eigentlich im Paris des 18. Jahrhunderts spielt, gekonnt ins Hier und Jetzt. Don Pompione möchte seine Tochter Lisetta verheiraten und gleichzeitig seine eigene Prominenz steigern. Deshalb sucht er per Zeitungsannonce einen Schwiegersohn, doch das Töchterchen hat sich längst in den Hotelier Philipe verliebt. Zur selben Zeit sucht Alberto in der Stadt der Liebe nach der passenden Frau, wird auf das Inserat aufmerksam und lernt im Hotel Doralice kennen, die er für die „inserierte Braut“ hält. Nach zahlreichen Verwechslungen geben sich die Väter der Umworbenen der Liebe geschlagen, willigen in die Hochzeiten ein und das Happy End ist perfekt.

An der Hamburger Kammeroper nun wird im 21. Jahrhundert inseriert, Smartphone, Tablet und Datingportale sind so allgegenwärtig wie Facebook und Twitter. Das Produktionsteam um Alfonso Romero Mora hat ganze Abreit geleistet und präsentiert mit dieser flotten musikalischen Komödie einen gelungen Mix zwischen seriöser Oper und unterhaltsamem Boulevardtheater. Da wird es mitunter schon recht klamaukig, was dem Werk aber nicht schadet. Lediglich der Maskenball ist von der Regie ein wenig arg konfus umgesetzt und nimmt der Szene so ihre Wirkung. Die Bühne wurde von Lisa Überbacher äußerst wandelbar und mit einem Augenzwinkern gestaltet, im Nu werden da aus der Hotelhalle zwei Zimmer und Rodins Denker thront als überlebensgroße Statue am Bühnenrand - und liest in seinem Smartphone. Dazu hat Rossini, wie gewohnt, leicht klingende (aber verteufelt schwere) Musik erschaffen. Das Werk, zwischen „Barbier“ und „Cenerentola“ entstanden, ist durchzogen von eingängigen Melodien mit ohrwurmcharakter, die einem, wie so oft beim Meister aus Pesaro, zum Teil aus anderen Werken bekannt vorkommen.

Und anständig musiziert wird das obendrein: Marius Adam legt mit honorigem Bariton den Don Pompino als selbstverliebten Gockel an, Cecilia Rodriguez-Morán gibt das verzogene Töchterchen launisch und überdeht und zeigt dabei die unglaubliche Geläufigkeit ihrer Nachtigallenstimme. Der junge Ljuban Živanović verfügt über eine feine Höhe und eine facettenreiche Stimme und ist so ein ausdrucksstarker und präsenter Alberto voller komödiantischem Talent. Robert Elibay-Hartog ist ein gefühlsgeladener Philipe, erreicht aber vor allem in den Parlando-Passagen nicht das Niveau seiner Kollegen. Natascha Dwulecki als bezaubernde Doralice, Titus Witt als geldgeiler Anselmo und die hinreißende Feline Knabe als Madame La Rose komplettieren das spielfreudige Ensemble. Die Handvoll Musiker unter der Leitung von Ettore Prandi, der auch für die gelungene musikalische Bearbeitung verantwortlich zeichnet, schlagen sich wacker, hier große Oper ganz klein zu realisieren. Über weite Teile legen sie den verspielten Charakter von Rossinis Werk gekonnt frei; dass man - wenn jedes Instrument nur einfach besetzt ist - jeden Wackler hört, macht auch den besonderen Reiz der Kammermusikversion aus.

Alles in allem zeigt die Kammeroper mit dem für sie typischen, besonderen Charme eine originelle Version dieser Rossini-Rarität. Zudem bietet das Alleetheater einen Ausweg aus dem Dilemma, wann man an einem Opernabend am besten isst: Wer es nicht beim Musikgenuss bewenden lassen will, hat die Möglichkeit, vor, zwischen und nach der Vorstellung ein auf das Werk abgestimmtes Opernmenue in vier Gängen zu sich zu nehmen.

Jochen Rüth 23.10.2017

Die Fotos stammen von Dr. Joachim Flügel.

 

 

Staatballett Hamburg

MATTHÄUS-PASSION

Choreografie John Neumeier

Aufführung am 15.04.2017

TRAILER

 

Vor beinahe 17 Jahren brachte das Hamburg Ballett John Neumeiers Choreografie "Skizzen zur Matthäus-Passion" in der St.Michaelis-Kirche Hamburg zur Uraufführung, Ein halbes Jahr später folgte dann die Uraufführung des gesamten Werks an der Staatsoper - und seither blieb diese enorme Schöpfung im Repertoire der Compagnie, wurde immer wieder (logischerweise) mit neuen Tänzerinnen und Tänzern neu einstudiert. Man merkt weder der Choreografie von John Neumeier noch der Musik Bachs (die ja nochmals 300 Jahre älter ist) ihr Alter an, beide sind von einer tief berührenden Zeitlosigkeit. Neumeier hat nämlich zur Umsetzung der Leidensgeschichte Christi nicht einfach zu einer 1:1 Bebilderung der vom Evangelisten erzählten Vorgänge gegriffen, sondern die Wirkung der Worte auf junge Menschen untersucht und analysiert.

Und gerade eben damit die erwähnte Zeitlosigkeit hergestellt. Dabei hat er nach eigene Aussagen den Tänzerinnen und Tänzern auch immer wieder Freiräume geschaffen, um ihre eigenen Reaktionen und Empfindungen auf das Gehörte auszudrücken - und ist damit ganz nahe beim sakralen Tanz angelangt, der im christlichen Glauben nicht mehr so präsent, bei vielen nicht monotheistischen oder Naturreligionen jedoch immer noch sehr präsent ist. In diese MATTHÄUS-PASSION fliessen solche Elemente der Wut und der Versöhnung, der spastischen Verzückung, des religiösen Rausches, der Verklärung und Verblendung, der Ekstase und der tief empfundenen Trauer immer wieder ein.

Neumeier ist wie stets auch sein eigener Bühnenbildner und Ausstatter. Der Bühnenraum ist schwarz, im Hintergrund führen drei Stufen zu einer Plattform, auf der sich die grosse Compagnie (42 Tänzer*innen) auf schwarzen Hockern und Bänken gruppiert, von dort aus das Geschehen auf der Vorderbühne mit einer unglaublichen, individuell ausgestalteten Präsenz beobachtet, eingreift, und gleich eines antiken Chores kommentiert. Dabei schlüpfen sie in verschiedene Rollen, einzig Jesus wird von Anfang bis zum Ende von einem einzigen Tänzer dargestellt: Marc Jubete tanzt und interpretiert ihn mit einer unaufdringlichen, aber tief bewegenden Schlichtheit, evoziert dabei ein gewaltiges Mitleiden, vermag aber immer auch die tröstliche Botschaft des festen Glaubens zu transportieren. Und genau dies schafft Neumeier mit seiner wunderbaren Compagnie eben auch: Es geht um die christlichen Werte, die auch ein Nichtgläubiger akzeptieren und leben kann und soll: Nächstenliebe, Toleranz, Akzeptanz, Vergeben und Verzeihen, Aussöhnung unter Feinden. Dies alles findet Niederschlag in einer faszinierenden Choreografie, umgesetzt mit nie nachlassender tänzerischer Präzision, mit bewundernswerter Ausdauer, Kraft und manchmal fast kindlicher Freude.

Das alles ist wunderbar stimmig und kommentierend zur Musik Bachs und den Texten der Passion umgesetzt, in keinem Moment bekommt man den Eindruck von Passionsspielen à la Oberammergau oder von Hollywood-Kitschverfilmungen, denn Neumeier belässt die Menschen in den weissen, schlichten Kleidern, verzichtet auf jegliche Requisiten, wenn einmal eine Szene oder ein Gegenstand verortet werden soll, behelfen sich die Tänzer mit ihren Körpern oder den paar Bänken. Also keine Dornenkrone, keine Peitschen, kein Blut. Und trotzdem fährt die Szene der Demütigung Christi (zum Choral "O Haupt voll Blut und Wunden") dermassen ein, dass es kaum mehr auszuhalten ist. Es gäbe von vielen berührenden und packenden Momenten zu berichten, Höhepunkte des eindringlichen Abends waren für mich die Analyse der Beziehungen zwischen Judas und Jesus, zwischen Jesus und Petrus, der Pas de trois zur Bassarie "Komm süsses Kreuz", das Alt Solo "Ach Golgatha, unsel'ges Golgatha", das Sterben Jesu am Kreuz (welch unglaubliche Leistung des Tänzers Marc Jubete!) Immer wieder ging auch das Licht im Zuschauerraum an, die Tänzerinnen und Tänzer traten durch die Gänge und Seitentüren ab, trugen so auch dazu bei, uns ins Bewusstsein zu rufen, dass uns das alles etwas angeht (angehen sollte). Diese Lichtwechsel sorgten auch für eine willkommene Strukturierung des langen Abends, denn den Blick während Dreieinhalb Stunden auf eine schwarze Bühne mit weiss gekleideten Menschen zu fokussieren, ist doch recht anstrengend. Doch die Besucher*innen harrten gebannt und sehr aufmerksam mitgehend und -fühlend aus und belohnten die Ausführenden nach vier Stunden (das dürfte eines der längsten Ballette im Repertoire sein) mit einer verdienten Standing Ovation.

John Neumeier hatte 1980 bei der Erarbeitung seiner Choreografie eng mit dem Dirigenten Günter Jena zusammengearbeitet. Und so erklang in der Staatsoper Hamburg die Musik in einer Live-Aufnahme aus der St.Michaelis-Kirche vom 29. März 1980, mit Peter Schreier, Bernd Weikl, Mitsuko Shirai, Marga Schiml und Franz Grundheber, sowie den Knabenchören Hannover und St.Michaelis, dem St.Michaelis-Chor und -Orchester.

Bilder (c) Kiran West / Hamburgische Staatsoper

Kaspar Sannemann 16.4.2017

 

 

 

DRITTE SINFONIE VON GUSTAV MAHLER

Ballett von John Neumeier

Wiederaufnahme des Kultballets am 26.01.2017

Wenn man in seinem Leben nur ein einziges Ballett sehen dürfte, dann müsst es wohl DRITTE SINFONIE VON GUSTAV MAHLER durch das Hamburg Ballett in der Choreografie von John Neumeier sein. Vor etwas über 40 Jahren, am 14. Juni 1975 in Hamburg als sein erstes abendfüllendes sinfonisches Ballett uraufgeführt und der Hamburger Compagnie gewidmet, auf deren Tourneen weltweit gefeiert von Buenos Aires bis Tokyo, nimmt Neumeier es bis heute immer wieder an seinem Haus auf. Gestern war die 181. Vorstellung dieses Meisterwerks zu erleben und sie riss das Publikum am Ende zu nicht enden wollenden Begeisterungsstürmen hin.

Gustav Mahler, ein Skeptiker, was Programmmusik anbelangt, hatte für seine dritte Sinfonie ja bekanntlich eine Art programmatischer Überschriften in die Partitur aufgenommen, sie wieder wegradiert und erneut überschrieben. Diese Hinweise des Komponisten, welche nicht eine eigentliche Handlung suggerieren, sondern eher gefühlsmäßige Visionen und Bilder sind, nimmt nun Neumeier auf. Doch auch bei ihm entsteht nun nicht etwa ein stringent durchgearbeitetes „Handlungsballett“ sondern eine bildliche, körperliche Umsetzung musikalischer Impressionen. Neumeier zeichnete auch verantwortlich für die Kostüme und das unglaublich eindrucksvolle Lichtdesign – und deshalb kann man guten Gewissens von einem Gesamtkunstwerk sprechen.

Man könnte das Ballett als die Suche eines Mannes (mit fantastischer Bühnenpräsenz und herausragendem Tanz Alexandre Riabko) nach sich selbst, nach seiner inneren Mitte interpretieren. Im ausladenden ersten Satz (beinahe 40 Minuten) wird er quasi aus der Ursuppe einer Männergesellschaft herausgespült. Neumeier hat hier gekonnt die marschartigen, militärischen Themen der Musik aufgenommen, lässt in diesem ersten Teil nur Männer tanzen. Komplex und kraftvoll, aggressiv und dann wieder zärtlich sind die gestischen und tänzerischen Verschlingungen, vom Corps mit grandioser Präzision und Eleganz ausgeführt. Es wird eine Sehnen nach Befreiung spürbar, aber auch ein Sehnen nach Zugehörigkeit und Nähe. Kunstvolle Männertürme der Tänzer mit nacktem Oberkörper werden wie zu einer Apotheose aufgebaut und zerfallen wieder. Das hat durchaus auch etwas Homoerotisches an sich. Neumeier übertitelte den Satz etwas rätselhaft mit einem Shakespeare Zitat: „Und alle unsre Gestern führten Narrn den Pfad des staub’gen Tods.“ (Macbeth)

Ganz anders dann der zweite Satz, bei Mahler „Was mir die Blumen erzählen“, bei Neumeier „Sommer“ – ein Traum in lichten Pastellfarben. Der Mann liegt auf dem Rücken am linken Bühnenrand, sieht eine Frau, mehrere Frauen, zwei Männer. Sanfte Hebefiguren und weich fließende Armbewegungen prägen die Choreografie dieses Satzes. Wunderschön. Die Trikots wandeln sich für den dritten Satz („Herbst“ bei Neumeier) in warme Braun- und Rottöne, der Mann starrt gebannt und beinahe ungläubig auf die leichtfüßig ausgeführten Tänze, einen herrlichen Pas de trois, wunderschöne Pas de deux. Von der Musik her wehen Posthorn und Fetzen von Kinderliedern herein, unbeschwert, ja beinahe etwas ordinär. Ein Paar jedoch tanzt in zartblauen Trikots, wie Geister nehmen sie sich aus zwischen den anderen in Rottönen. Der Mann nimmt diese „Geisterfrau“ nun in den Arm – sie ist tot. Danach bleibt es lange Zeit still: Neumeier hat den vierten Satz („Nacht“) nämlich seinem viel zu jung und überraschend auf einem Flug gestorbenen Kollegen John Cranko gewidmet und ließ diesen Satz auch ein Jahr vor Uraufführung der gesamten Sinfonie mit Marcia Haydée, Egon Madsen und Richard Cragun in Stuttgart aufführen. Eine trauernde Frau steht auf der Bühne. Zwei Männer kommen dazu, einer scheint eine Konfrontation zu suchen, der andere geht ihr aus dem Weg. Stumme Schreie, in ihrer Intensität fast nicht auszuhalten. Es kommt dann doch noch zu einer ersten zarten Berührung der beiden Männer. Dann setzt die Altistin mit Mahlers Musik und Nietzsches Text ein: „O Mensch! Gib acht!“, singt von Lust, die tiefer ist als Herzeleid, von Ewigkeit. Man kann nur erahnen und subjektiv spekulieren, was der Grund dieser immensen Trauer und dieses Unvermögens zur Kommunikation zwischen den drei Menschen sein könnte.

Doch dann singen im fünften Satz die Kinderstimmen von Engeln, Vergebung und himmlischen Freuden und dem Mann erscheint tatsächlich ein solcher Engel in Gestalt einer jungen Frau (Silvia Azzoni) im engen roten Trikot und unbeschwertem Tanz. Die schwarzen Bahnen der Gänge heben sich, die Bühne wird hell und licht.

Das könnte ein Happyend sein, aber noch folgt das ungemein gefühlvolle Adagio, der sechste Satz, der bei Mahler und Neumeier „Was mir die Liebe erzählt“ heisst. Der Mann ist nun umgeben von ätherisch wirkenden Wesen in zartem Blau, welche sich mit einmalig schöner Anmut bewegen. Er ist übrigens immer mit nacktem Oberkörper und hautfarbenen Leggins zu sehen. Der „rote Engel“ ist wieder da, weckt den nachdenklichen Mann quasi auf, inspiriert ihn zu einem ergreifenden Pas de deux, der Tanz wird immer befreiter, ausgreifender. Viele Paare (sind es 25 oder mehr?) bevölkern nach und nach die Bühne, alle nun in warmem Rot, auch das ehemalige Geisterpaar. Ein beeindruckendes Bild und so ungemein passend auf die traurige und doch tröstliche Musik abgestimmt, ihre Wallungen und Aufschwünge perfekt in Bewegung umsetzend. Die Musik kehrt dann zur Ruhe zurück, fällt quasi in sich zusammen – und so verlassen die Paare die Bühne schnell. Alles ist vergänglich. Die Musik scheint zu verklingen, der Mann schreitet langsam nach hinten. Doch zum letzten Aufbäumen von Mahlers Musik in strahlendem D-Dur erscheint vorne am rechten Bühnenrand noch einmal sein Engel, geht langsam entlang der Rampe. Der Mann ganz hinten reckt seine Arme nach ihr, kann seine Beine jedoch nicht bewegen, bleibt immobil. Die Liebe ist eben immer nur ein göttliches Geschenk auf Zeit, ist in ihrer Komplexität nicht fassbar – und schon gar nicht garantiert. Man verlässt das Theater nach dieser pausenlos gespielten, gut zwei Stunden dauernden Aufführung tief bewegt.

Fotos (c) Kiran West

Kaspar Sannemann 3.2.2017

 

P.S. Die Musik kam übrigens ab Band, es wurde die Aufnahme unter Leonard Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern gespielt. Mit Martha Lipton (Mezzosopran), dem Boy's Choir of the Little Church Around the Corner und dem Schola Cantorum Women's Chorus.

 

 

KATZE IVANKA

von Massimiliano Matesic
eine Kinder- und Familienoper

Vorstellung: 9. 11. 2016

In der Opera stabile, einer Nebenbühne der Staatsoper Hamburg, kam eine sehenswerte Produktion einer Kinder- und Familienoper zur Uraufführung: „Katze Ivanka“ von Massimiliano Matesic. Das Libretto stammt von Vera Nemirova, die auch Regie führte.

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Die junge Sopranistin Narea Son brillierte als Katze Ivanka

Die Handlung der knapp zweistündigen Oper in Kurzfassung: Die Katze Ivanka ist der heimliche Star des Opernhauses, ist sie doch musikalisch begabt und ziemlich frech. Während gewöhnliche Katzen Mäuse jagen, durch die Gassen streunen oder sich in der Sonne räkeln, ist Ivankas Revier die Bühne. Dirigenten und Regisseure liegen ihr zu Füßen, die Primadonna jedoch platzt vor Eifersucht. Wenn in der Nacht alles ruht, lockt Ivanka mit der Ballettratte kleine Mäuse aus ihren Löchern und erobern gemeinsam das Opernhaus. Als die Primadonna vom Operndirektor fordert, die Katze fortzuschaffen, übergibt ihr Herrchen Falana Ivanka einem Eisenbahner, der Ivanka auf einen Bauernhof bringen soll. Doch am Zielbahnhof ist die Katze verschwunden. Sie geht auf den Gleisen den langen Weg zurück und kommt völlig erschöpft und abgemagert in die Oper, wo sie mit einem kaum hörbaren „Miau“ zusammenbricht. Alle Künstler – auch die Primadonna – stimmen ein Loblied auf Ivanka an. Wie gut, dass eine Katze sieben Leben hat…

Ein Zitat der Librettistin und Regisseurin Vera Nemirova aus einem im Programmheft veröffentlichten Interview: „Wie die verschiedenen Figuren mit Ivanka umgehen, erzählt viel mehr über die Menschen und ihre Umgebung als über die Katze selbst. Die Katze wird zur Allegorie.“

 Massimiliano Matesic, geboren 1969 in Florenz, nahm mit 14 Jahren am Konservatorium seiner Geburtsstadt sein Kompositionsstudium bei Gaetano Luporini auf und setzte es bei Salvatore Sciarrino fort. Einige Jahre konzentrierte er sich aufs Dirigieren. Seine Tonsprache in der Kammermusik und in seinen symphonischen Werken ist eng mit der europäischen Tradition des frühen 20. Jahrhunderts verbunden. In seine dreiaktige Oper „Katze Ivanka“, die in einem spätromantischen Stil komponiert ist, baute er Zitate aus La Bohème, Lakmé und Eugen Onegin ein.

In der Titelrolle brillierte die junge südkoreanische Sopranistin Narea Son sowohl stimmlich wie schauspielerisch. Sie bewältigte nicht nur ihre anspruchsvolle Partie als Sängerin hervorragend, sondern man bekam auch das Gefühl, als wäre sie ins das Fell eines Kätzchens geschlüpft, so wunderbar spielte sie ihre Rolle. Sie kroch schnurrend auf allen vieren, hüpfte hurtig in den Kulissen umher und schmuste süß mit ihrem Lieblingskater. Eine Meisterleistung!

Nicht minder köstlich die deutsche Sopranistin Gabriele Rossmanith in der Rolle der Primadonna, die – von der Katze genervt – den Operndirektor so lange traktiert, bis er aus Verzweiflung nachgibt und Ivanka aus dem Haus entfernen lässt. Den Operndirektor spielte der rumänische Bass Marcel Rosca sehr komödiantisch, wie überhaupt der Humor die tragende Säule der Inszenierung war.

Falana, der Besitzer der Katze, wurde vom amerikanischen Bariton Julian Arsenault dargestellt, der auch einen Hund zu spielen hatte. Die drei Kater, die alle in Katze Ivanka verliebt waren und ihr sogar Mäuse brachten, wurden vom kanadischen Countertenor Michael Taylor, vom russischen Tenor Sergei Ababkin und vom Schweizer Tenor Sascha Emanuel Kramer – er hatte auch den Regisseur und den Eisenbahner zu spielen – auf recht humorvolle Art und Weise dargestellt. Dazu tummelten sich noch einige kleine Darsteller als Mäuse und Kinder auf der Bühne der Opera stabile.

Das Orchester – elf Musiker aus dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg – wurde von Johannes Harneit geleitet, der die Kinder im Publikum zu Beginn auf nette Art auf die Vorstellung einstimmte, indem er sie zu „Miau“- Rufen in verschiedenen Tonstufen und Lautstärken aufforderte.

In dieser Vorstellung waren einige von Lehrerinnen begleitete Schulklassen, die anfangs begeisterte Zuschauer waren, aber nach der Pause großteils unruhig wurden und müde und überfordert wirkten. Für Kinder unter zehn Jahren scheint eine zweistündige Dauer trotz 15 Minuten Pause doch zu lang.

Am Schluss lang anhaltender Applaus des vor allem von der jungen Katzen-Darstellerin Narea Sonbegeisterten Publikums mit Jubelgeschrei der Kinder.

Udo Pacolt 15.11.16

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-Online (Wien)

Fotos (c) StOp Hamburg, Opera Stabile / Jörn Kipping

 

 

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