Berlin: „Candide“

Premiere am 24.11.2018

Würdiges Geburtstagsgeschenk

Nicht nur die Premiere seiner Comic Operetta Candide widmete die Komische Oper Berlin Leonard Bernstein zu seinem hundertsten Geburtstag, sondern ein ganzes Festival, das sich mit vielen Veranstaltungen des Jubilars annahm, vier allein am heutigen Sonntag: Around Bernstein am Vormittag, ein Lunch Talk Candide in the times of Trump, eine nachmittägliche Filmvorführung von On the Waterfront mit Livemusik und ein abendliches Dinner with Lenny. Dieses reichhaltige Programm hatte sogar drei Nachkommen des Komponisten und Dirigenten nach Berlin gelockt: die Töchter Nina und Jamie Bernstein und einen Neffen.

Gespielt wurde am 24. die Fassung des Royal National Theatre of London von 1999 für großes Orchester, jedoch in der deutschen Fassung von Martin G. Berger, der diese 2017 verfasst hatte. Sein Libretto erwies sich an dem ansonsten erfolgreichen und vergnüglichen Abend als die einzige Spaßbremse, denn die Reime, in die der Verfasser seinen Text presste (da sollte „heilig“ zu „befrei dich“ passen) oder das Verweilen in Gossensprache oder Jargon („ihm die Fresse polieren“), dazu Stilblüten wie „kommt sicherlich noch Sinn im Leben an“ verliehen dem Stück eine unangebrachte Kleingeistigkeit, die gar nicht zur ironisch-parodistischen Musik und der geistreichen Inszenierung passen mochte. Da wäre die Originalsprache die bessere Lösung gewesen. Zu allem Sprachübel, und nur in dieser Hinsicht enttäuschte die Produktion, kamen noch die viel zu langen gesprochenen Texte, so musste Anne Sofie von Otter endlos über ihre Missgeschicke berichten, ehe sie zu ihrer Arie, deren Wirkung dann fast verpuffte, ansetzen konnte, und man stöhnte schon innerlich, wenn man wieder den grauen Allongeperückenkopf des Voltaire , der durch die Handlung führte, auftauchen sah.

Ansonsten konnte man mehr als zufrieden sein, zuerst einmal mit dem Wirken von Jordan de Souza im Orchestergraben, der von Anfang an leichtfüßig, präzise, zügig und die karikierenden Elemente fein betonend bereits in der Ouvertüre Voltaire wie Bernstein hörbar machte und die zahlreichen Elemente europäischer Musikgeschichte fein ironisierend herausarbeitete. Auch der Chor unter David Cavelius zeigte sich ganz auf der Höhe seiner nicht oft genug zu rühmenden Fähigkeiten, verdient tatsächlich die Bezeichnung „Chorsolisten“. Die Tänzerinnen und Tänzer, unter denen natürlich die lasziven Jüngelchen und die Ballerinen mit Bart nicht fehlen durften (Choreographie Otto Pichler), hatten wie immer einen ungemeinen Unterhaltungswert. Das Bühnenbild, das keines war, stammte von Rebecca Ringst– Dekorationen und deren Wechsel hätten den Ablauf des Geschehens nur behindert, viel Nebel, ein Sternenhimmel, vom Himmel fallendes Gold für das Reich Eldorado waren eine angemessene Lösung. An Quantität ( es müssen Hunderte gewesen sein) und Qualität waren die Kostüme von Klaus Bruns nicht zu übertreffen, reichten vom Rokoko, nein, sogar vom alten Ägypten, bis in die Gegenwart und trugen so dazu bei, die Problematik des Stücks als zeitlos und immer während zu kennzeichnen.

Sei es das Hinscheiden der Eldorado-Schafe oder „Be glitter and gay“ wie in einer Edward-Hopper-Kulisse gesungen, sei es die Norma-Duett-Parodie oder der Alkoholexzess auf dem Schiff- mit einer Fülle von Regieeinfällen, auch solchen, die sich nur ein Jude erlauben darf wie die Stürmer-nahe Karikatur des Gegenspielers des Inquisitors, beweist Barrie Kosky einmal mehr seine Meisterschaft, Sänger oder auch einen ganzen Chor zu führen, pralles Leben auf die Bühne zu bringen. Den Schluss, den man auch ironisch sehen könnte, nimmt er ganz ernst angesichts der modernen Herausforderungen wie Heimatlosigkeit und Klimawandel.

Eher aus Bayern als aus Westfalen mit Lederhose und Dirndl scheinen Candide und Kunigunde zu stammen. Er ist Allan Clayton mit einer frischen, sehr gut tragenden Tenorstimme und akzentfreiem Deutsch, ein prachtvoller Bursche, dem man das stille Glück des happy end gönnt. Nicole Chevalier, unangefochtene Primadonna des Hauses, singt eine atemberaubende Bravourarie und wird umso verführerischer, je tiefer sie moralisch fällt. Etwas matt wirkt Anne Sofie von Otter, ihr „I am easily assimilated“ als Alte Frau hat man schon weit eindrucksvoller gehört. Als Dr. Pangloss und Voltaire näselt sich Franz Hawlata durch den Abend. Seine außergewöhnlichen vokalen und darstellerischen Qualitäten stellt einmal mehr Tom Erik Lie vor allem als Martin unter Beweis, singt und spielt daneben aber auch noch weitere, kleinere Rollen wie auch die anderen Ensemblemitglieder, so Dominik Köninger, der sich besonders als Maximilian profilieren kann oder Ivan Turšić als betrügerischer Vanderdendur. Leonhard Bernstein hätte sicherlich seine Freude an der Aufführung gehabt und seinem jungen Kollegen auf die Schulter geklopft.

Fotos Monika Rittershaus

25.11.2018 Ingrid Wanja