Berlin: „Falstaff“

Premiere am 30. April 2022

Falstaff light

Da gibt es, o Glück, ein Libretto mit gesellschaftskritischem Tiefgang, nämlich mit der Auseinandersetzung zwischen heruntergekommenem, aber noch Ansprüche stellendem Adel und aufstrebendem, aber noch nicht seiner selbst sicherem Bürgertum, und dann wird das Stück in eine Zeit verlegt, in der ein derartiger Konflikt nur noch zu einer Farsa taugt. Da gibt es zudem eine Liebesgeschichte, die auch tragisch mit einer Zwangsheirat enden könnte, und dann möchte die Regie sie in eine Zeit verlegen, in der höchstens noch aus dem tiefen Orient Zugewanderte dieses Problem kennen. So geschehen schon 2001 in Aix en Provence mit Verdis Falstaff in der Regie von Herbert Wernicke, sich wiederholend im Sommer 2021 mit Barrie Koskys Inszenierung des Werks alldort, der diese Produktion nun als seine letzte Premiere als Intendant der Komischen Oper in das Haus in der Behrenstraße brachte, nachdem auch schon Deutsche Oper und Staatsoper klamottige, in der Gegenwart spielende Falstaff-Inszenierungen zu verantworten hatten. Eines allerdings hat die Produktion der Komischen Oper den beiden anderen Berliner Inszenierungen und auch ihrer Vorgängerin in Aix voraus: Sie läßt die Charaktere intakt, vermeidet aber gleichzeitig auch jedes Klischee, insbesondere die besonders beliebten, was die Titelfigur angeht, die oft und gern als dümmlicher Fettsack angesehen und dargestellt wird, selbst wenn sie unüberhörbar und unwidersprochen sich als das Salz in der sonst wohl recht faden Suppe der braven Bürgersleute apostrophiert.

Erstaunlich ist, das Koskys Inszenierung dort am stimmigsten und überzeugendsten erscheint, wo sie zunächst einmal den Eindruck des Dürftigen, Armseligen erweckt, nämlich im Park von Windsor ohne Eiche, ohne Mond, ohne phantasievolle Verkleidung in Elfen, Waldgeister und allerlei Getier, stattdessen einheitlich schwarze Gewänder, aber umso mehr die Stimmung des Unheimlichen, Bedrohlichen vermittelnd, während im ersten Bild eine Art Überinszenierung, wohl auch dem Temperament des Darstellers geschuldet, kaum zulässt, dass eine Phrase schön ausgesungen wird, dass die Musik atmen kann, die überdies streckenweise überlaut aus dem Orchestergraben dröhnt, aus dem man sich unter Ainãrs Rubiķis mehr kammermusikalische Finessen, mehr feinsinnige Agogik erhofft hatte. Auch in der zweiten Szene des zweiten Akts, wenn Alice Falstaff empfängt, scheinen die Unmengen bunter Torten, die hereingetragen werden, eher Selbstzweck als handlungstragend oder – erhellend zu sein, während aus dem Falstaff im Wäschesack anstelle des Korbes sich ein lustiges Spiel entwickeln kann. Aufwändige und zeitraubende Szenenwechsel werden vermieden und nicht vermisst, eine Tapete, deren wildes Muster auch auf dem Ausgehanzug Falstaffs wiederkehrt, weist auf die Nachkriegszeit, ebenso die Kostüme (diese und die Bühne Katrin Lea Tag), die zumindest die Damen nicht entstellen, und vor der Pause ertönt aus dem Off in bestem Italienisch (das bei den Sängern nicht durchweg vergleichbar gut ist) ein Kochrezept nach dem anderen, von stets einem Orgasmus nahe zu sein scheinenden Stimmen vorgetragen, so wie auch Falstaff seine größte Befriedigung nicht aus Alkoholica oder Sex, sondern dem Ausprobieren von Kochrezepten zu ziehen scheint. Berichte aus Aix hatten von einem nackten Hintern bei der Ausübung dieser Tätigkeit zu schreiben gewusst, in Berlin trug der Sänger einen String, was aber trotzdem zu kurzem Raunen im Publikum Anlass gab. Dankbar konnte man dafür sein, dass Handlung und Charaktere weitgehend intakt blieben, es keinen Quickie mit Mrs. Quickly gab und kein kiffendes Liebespaar oder sonstige bereits andernorts erlittene Entgleisungen.

In Aix hatte es ein zumindest teilweise italienisches Ensemble gegeben mit Daniela Barcellona als Quickly und Carmen Giannattasio als Alice. An der Komischen Oper hatte man sich der Verpflichtung von Scott Hendricks für die Titelpartie schon im Vorfeld der Aufführung gerühmt, was sicherlich wegen dessen darstellerischer Wendigkeit, weniger seiner vokalen Meriten wegen verständlich ist. Ganz anders verhielt es sich mit dem zweiten Bariton, Günter Papendell, der einen beeindruckenden Auftritt als Signore Fontana hatte, nachvollziehbar machte, dass er die Kavaliersbaritonpartien zugunsten der des Heldenbaritons aufgeben, in der nächsten Saison den Holländer singen wird. Ivan Turšić und James Kryshak waren die Charaktertenöre Dr. Cajus und Bardolfo, Jens Larsen gab als Pistola etwas weniger seinem Affen Zucker als von ihm gewohnt, Oleksiy Palchykov hatte einen schönen lyrischen Tenor für die einzige Arie des Stücks, dürfte eher als für das italienische noch für das Mozartrepertoire geeignet sein.

Durchweg attraktiv waren die Damen, jugendlich wie ihre Tochter die Alice von Ruzan Mantashyan mit geschmeidigem Sopran, glockenhell als Elfenkönig die Nanetta von Alma Sadé, nicht wie sonst oft hinter diesen beiden zurückstehend Karolina Gumos mit farbigem Mezzosopran als Meg. Wer kennt nicht das orgelnde Reverenza oder povera donna einer Feodora Barbieri und Co.!? Damit konnte sich Agnes Zwierko leider nicht messen, da fehlte einfach das Pastose einer italienischen Altstimme.

Nach der Vorstellung wurden von Noch-Intendant Barrie Kosky und dem Kultursenator Karolina Gumos und Günter Papendell zu Berliner Kammersängern ernannt. Wie bei vielen anderen Veranstaltungen wurde um Spenden für die Ukraine gebeten, für die sich der ukrainische Tenor Oleksiy Palchykov mit bewegten Worten und mit dem Singen eines Volkslieds aus seiner Heimat bedankte. Danach gab es zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren wieder eine Premierenfeier.

Ingrid Wanja / 1. Mai 2022