Berlin: „La Bohème“

Premiere am 27.1.2018

Frisch wie eine Uraufführung

Dass man ein Werk und seine Personen lieben und respektieren und trotzdem viele neue Ansätze und Ideen in eine Inszenierung einbringen kann, bewies am 27.1. Barrie Kosky an der Komischen Oper mit Puccinis La Bohéme, wahrlich keine Oper von der nicht jeder halbwegs informierte Besucher meint, seine genauen, unabrückbaren Vorstellungen zu haben. Aber auch dieser musste feststellen, dass man vieles anders machen kann als gewohnt, und es bleibt doch unverrückbar Puccinis Bohéme, es bleiben Mimi, Rodolfo und Marcello, auch wenn Rodolfo nicht am Totenbett Mimis zusammenbricht, sondern das Weite sucht, wenn die Freunde nicht einander trostsuchend und-spendend umarmen, sondern auseinanderstieben, wenn Mimi nicht sanft und bescheiden, sondern flippig und zappelig ist und die Hände nicht stillhalten kann, wenn Benoit nicht in der Dachkammer seinen affitto einfordern kann, sondern ausgesperrt und seine Rolle von einem der vier Künstler persiflierend gespielt wird.

Marcello ist an der KO nicht Maler, sondern Fotograf, der sogar die sterbende Mimi ins Visier der Kamera nimmt, aber die Regie setzt sich nie über den Text des Librettos hinweg, indem sie zum Beispiel die Passagen über Moses, Pharao und das Meer einfach ignoriert, sondern lässt das entsprechende Gemälde zum Hintergrund bei den Portraitaufnahmen werden. Im Mittelpunkt des Geschehens steht für die Produktion der Gedanke, dass die jungen Menschen, die unbekümmert Hunger, Kälte und Ungewissheit ertragen und spielerisch verarbeiten, angesichts des Todes zum ersten Mal außer Fassung geraten, wohl auch, weil er ihnen auch ihre Endlichkeit vor Augen führt. Es spricht für das Feingefühl des Regisseurs, dass er die Regieanweisungen und die Requisiten und deren Hörbarmachen im Orchester nicht ignoriert, sondern zu deren Umsetzung aufgefordert hat, und tatsächlich vernahm man auch im Orchester noch nie zuvor so deutlich das, was sich auf der Bühne abspielte. Kurze Generalpausen nahmen auf den Ablauf des Geschehens, und sei es das nicht sofort glückende Anzünden eines Streichholzes, Rücksicht, ehe es auch im Orchestergraben zündelte, während insgesamt das Tempo, das Jordan de Souza anschlägt, ein zügiges, sentimentales Ausufern vermeidendes war. Manchmal fast kammermusikalische Filigranarbeit wurde geleistet, wo man sonst allzu oft breiig Rührseliges hören muss.

Die Erfindung der Fotografie bildete den zeitlichen Eckpfeiler für die Gestaltung der Bühne (Rufus Didwiszus), riesige, zum Teil arg verblasste Fotoplatten mit Portraits, die die Mimis und Rodolfos sein könnten, bilden für den ersten und letzten Akt den Hintergrund, im dritten ist es das Abbild eines Hauses aus einem Arbeiterviertel, im zweiten, das eher Karneval als Heiligabend assoziiert, schaffen Gaslaternen die nötige Atmosphäre für ein Paris, das ein Biotop für Erotisches und Sexuelles aller Spielarten zu sein scheint, auch wenn einige Nonnen sich ihren Weg durch das bunte Getümmel bahnen. Was da an Phantasie für die Kostüme (Victoria Behr), Perücken, Masken aufgeboten wurde, war einmal mehr der glatte vergnügliche Irrsinn in Reinkultur wie an ihn so oft in diesem Haus erlebt. Dass die Solisten in ihm nicht untergehen, dafür sorgt zum Beispiel bei Musettas Arie ein plötzliches Erstarren der Menge zu einem lebenden bunten Bild.

Das sängerische Niveau an der Komischen Oper hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert, aber da das Ensemble groß ist und Gäste eher die Ausnahme als die Regel sind, trifft man hier nicht auf die hochberühmten Spezialisten für die einzelnen Fächer oder gar speziellen Rollen, sondern auf junge Interpreten, die oft sogar hier ihre Rollendebüts abliefern.

Einen auch optisch attraktiven Rodolfo sang der eigentlich als Zweitbesetzung vorgesehene Jonathan Tetelman , der mit einer kraftvollen, sicheren Höhe aufwarten konnte, in der Mittellage noch keine gleichwertigen Farben zur Verfügung hatte und der eher durch eine überdimensionierte Lautstärke als durch einen differenzierten Einsatz seiner Stimmmittel auffiel. Wenn er es lernt, seiner Stimme Zügel anzulegen, kann er es auch im italienischen Fach zu bemerkenswerten Leistungen bringen. Seine Mimi könnte ihm darin mit Nadja Mchantaf ein Beispiel sein, deren Sopran nicht immer, aber immer öfter in der Höhe schön aufblühte, nachdem er sich agogikreich dem Mi chiamono Mimi gewidmet hatte. Wunderschön gelangen auch im letzten Akt die Erinnerungsmotive in fahlem Schweben und Verwehen. Mit markigem, markantem, nur selten etwas dumpfem Bariton sang Günter Papendell einen umtriebigen Marcello, der im Duett des vierten Akts von seinem Tenorkollegen zu ebenfalls zu großer Lautstärke herausgefordert wurde. Als leichterer Kavaliersbariton hob sich die Stimme von Dániel Foki , dem Schaunard, deutlich ab. Mit schlankem, kantigem Bass betrauterte Philipp Meierhöfer den Verlust seiner

Vecchia Zimarra. Eine höchst attraktive, kapriziöse Musetta stellte sich mit Vera-Lotte Böcker vor, die im Gebet des letzten Akts mit schönen, weichen Tönen erfreuen konnte, während ihre Arie im zweiten Akt noch an verführerischer Eleganz zuungunsten leichter Schärfen gewinnen könnte. Einhellig war am Schluss der Jubel, der auch einmal mehr dem vorzüglichen Chor unter David Cavelius galt.

28.1.2019 Ingrid Wanja