Graz: Beethovens 9. Sinfonie

Graz, Stephaniensaal, am 21. Juli 2015

Beethoven für alle – medialer Großaufwand

Nikolaus Harnoncourt war durch 31 Jahre hindurch die zentrale Figur des Styriarte-Festivals. Mit ihm war auch das Styriarte-Programm für 2016 abgesprochen und geplant – er selbst sollte und wollte mit seinem Concentus musicus erstmals alle neun Beethoven-Sinfonien auf Originalinstrumenten als Zyklus aufführen. Dann kam alles anders:

Am 5.Dezember 2015, einen Tag vor seinem 86. Geburtstag, verabschiedete sich Nikolaus Harnoncourt mit einem berührenden Brief von seinem Publikum – und er starb am 5. März 2016.

Die Styriarte musste also komplett umplanen und schrieb dazu auf ihrer Homepage :

Das hieß für die styriarte: ihren mit Harnoncourt und dem Concentus Musicus geplanten Zyklus aller Beethoven-Sinfonien neu aufsetzen. Wir haben nun die Anzahl der Vorstellungen von 11 auf 7 reduziert, und wir haben neue, sicher überraschende DirigentInnen für das Projekt gewonnen. Wir haben einen Zwei-Generationen-Sprung gemacht, denn keine und keiner der GestalterInnen des neuen Zyklus ist auch nur halb so alt wie es der verstorbene Meister war.

Andrés Orozco-Estrada , der 38-jährige aus Kolumbien stammende und in Wien ausgebildete Dirigent, übernahm das Konzert mit Beethovens 4. und 5. Sinfonie sowie das Medienspektakel mit Beethovens 9.Sinfonie. Für die Neunte gab es zwei Termine: zunächst der Abend, über den hier zu berichten ist – und dann zwei Tage darauf die medial aufwendig genutzte Aufführung, die als „Klangwolke“ und „Höhepunkt der steirischen Festspiele styriarte“ live-zeitversetzt aus dem Grazer Stefaniensaal der Fernsehsender ORFIII aufzeichnet und in der ganzen Steiermark öffentlich ausstrahlt. Schon Tage vor dem Event bewirbt die styriarte via Facebook, wo überall Beethoven zu erleben sein wird – das reicht vom ehrwürdigen Grazer Landhaushof und zahlreichen public-viewing-Plätzen in Stadt und Land über steirische Pfarren bis hin zum Biobauernhof mit dem Zusatzangebot: kulinarisch gibt’s Beethovens Leibspeise!

Im Vorjahr hatte ich geschrieben, dass Beethovens Missa solemnis kein geeignetes Werk für eine derartige „mediale Ausschlachtung“ sei – bei Beethovens 9.Sinfonie sehe ich das milder und freue mich, dass dieses Werk mit den Mitteln der heutigen Medienwelt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Das hier besprochene Konzert war also gleichsam die Generalprobe für dieses Medienereignis. Zwei Filmkameras waren schon präsent (man sieht sie auf dem Foto oben) und wenn das Wort stimmt, dass eine nicht ganz geglückte Generalprobe ein gutes Omen ist, dann wird die zeitversetzte Liveübertragung großartig sein.

Andrés Orozco-Estrada, der 2005 seinen Weg zur internationalen Karriere in Graz als Chef des Grazer Orchesters recreation begonnen hatte, ist heute ein weltweit gefragter Dirigent. Im Gespräch vor dem Konzert sagte er, das größte Geschenk für ihn sei: dass der Concentus mir erlaubt, ich selbst zu sein. Das konnte man sehr schön miterleben und nachvollziehen. Orozco-Estrada ist eine ausgeprägte Dirigierpersönlichkeit Er hat zwar die Partitur vor sich liegen, dirigiert aber praktisch auswendig und das mit klarer Zeichengebung ohne Dirigentenstab. Er bringt das ein, was Intendant Mathis Huber von ihm explizit erwartet hatte: südamerikanisches Feuer und Erfahrung mit bedeutenden klassischen Orchestern. Orozco-Estrada bietet gemeinsam mit dem Concentus eine in sich geschlossene Interpretation: stets vorwärts drängend, markant akzentuiert. Der Concentus folgte den Intentionen des Dirigenten engagiert und merklich gerne. Sein Interpretationsansatz mag für die ersten beiden Sätze adäquat, wenn auch wenig eindimensional sein. Im 1.Satz könnte man sich z. B. beim 2.Thema die Holzbläser lyrischer, wehmütiger vorstellen. Der dritte Satz trägt die Tempobezeichnung Adagio molto e cantabile und gewährt einen Blick in andere Welten. Dieser Satz geriet mir im Tempo einfach zu zügig – das war kein Adagio molto. Intensive, vorwärtsdrängende Spannung kann man nicht durch alle Sätze durchziehen – mehr Ruhepunkte würden dazu beitragen, dass die Gesamtspannung wirkungsvoller zur Geltung kommt. Im vierten Satz war der Dirigent nicht gerade Solisten-freundlich – da hatte das Quartett manchmal Mühe, dem forsch Vorwärtsdrängenden zu folgen. Meinem Gefühl nach haben nicht die Solisten geschleppt, sondern der Dirigent gehetzt.

Im Solistenquartett hatte Genia Kühmeier wegen Erkrankung sehr kurzfristig abgesagt. Die junge Schweizerin Regula Mühlemann übernahm innerhalb eines Tages die Sopranpartie.- Wie man auf diesem Kurzvideo sieht, musste die Hauptprobe noch ohne Sopran auskommen. Mühlemann hat dann ihren Part mit klarer und sicher sitzender Stimme sehr schön bewältigt. Elisabeth Kulman (die ja ursprünglich aus dem Schönberg-Chor hervorgegangen ist, vor dem sie nun stand) schaffte es mit dieser nicht gerade dankbaren Partie, der zentrale und souveräne Ruhepunkt des Solistenquartetts zu sein. Wieviele große Abende verbindet man doch in dankbarem Erinnern mit ihr und Nikolaus Harnoncourt! Der australische Tenor Steve Davislim war ein höhensicherer, himmelstürmender Held und Florian Boesch ein wortdeutlich uns alle markig aufrufender Bariton. Überragend war der – durch Jahrzehnte mit Nikolaus Harnoncourt und der Styriarte verbundene – Arnold-Schoenberg-Chor (Einstudierung: Erwin Ortner). Er sang seinen Part auswendig – das habe ich noch von keinem anderen Chor erlebt! – mit stets plastischer Phrasierung und Textgestaltung. Und dem Chor gelang es, im Schlussteil auch den Dirigenten (der übrigens als junger Student im Wiener Singverein Chorerfahrung gesammelt hatte) ein wenig „einzubremsen“. Das Finale gelang strahlend und im idealen Ebenmaß zwischen Chor, Solisten und Orchester.

Es war ein Erlebnis, den Concentus-Musicus zu erleben. Ich höre dieses Ensemble seit vielen Jahren und habe den Weg mitverfolgt, den es von der Alten Musik in kleiner Besetzung zur großen sinfonischen Orchesterliteratur gegangen ist. Ich musste an diesem Abend an den englischen Biologen Rupert Sheldrake denken, der die Theorie der morphischen Felder vertritt – und der sich in diesem Zusammenhang mit der Steigerung des menschlichen Leistungsvermögens im Laufe der Zeit beschäftigt. Der Concentus ist ein durch Jahrzehnte gewachsener und sich entwickelnder Organismus, der gleichsam ein kollektives Gedächtnis hat. Dadurch hat sich die technische Beherrschung der alten Instrumente in diesen Jahrzehnten überdurchschnittlich gesteigert. Vereinfacht gesagt: Die neueintretenden Ensemblemitglieder profitierten von dem technischen Können, das ihre Vorgänger erarbeitet hatten und steigern dies weiter. Wer sich für meine naturwissenschaftliche Assoziation interessiert, kann hier nachlesen, wie dies Sheldrake erklärt. Jedenfalls wäre es meiner Meinung nach vor 30 Jahren noch nicht denkbar gewesen, mit den historischen Streichinstrumenten einen vollen Orchesterklang zustande zu bringen. Heute führt Erich Höbarth ein Streicherensemble an, das auch für Ohren, die den modernen Streicherklang kennen, einen vollgültigen warmen, homogenen und breiten Orchestersatz zu vermitteln versteht. Wunderbar prägnant und homogen waren auch die Bässe und Celli zu Beginn des letzten Satzes. Bei den Bläsern war es an diesem Abend schwieriger. Mag auch der große Nikolaus Harnoncourt überzeugend postuliert haben, er wolle ohne die kleinen und größeren Pannen des Naturhorns nicht leben, diesmal passierte einfach zu viel. Im 2.Satz ging immer dieselbe Hornstelle daneben – und da gilt dann der Satz nicht mehr, den Harnoncourt einmal formuliert hat: Wenn ein Musiker tausend schöne Töne in einem Konzert gespielt hat, zählen diese tausend Töne nicht, es zählt nur der eine Kiekser. (Nikolaus Harnoncourt: »… es ging immer um Musik« Eine Rückschau, S.138; ISBN: 9783701733439 ). Aber es wackelte diesmal nicht nur bei den Hörnern – auch die Klarinetten/Fagott-Einleitung im 3. Satz war deutlich beeinträchtigt. Aber vielleicht war ganz einfach die Abendverfassung nicht optimal – und wie oben gesagt: es war ja gleichsam die Generalprobe und das verheißt Positives für die „Klangwolke“-Aufführung!

Das Grazer Konzertpublikum – darunter auch ein Bruder von Nikolaus Harnoncourt – füllte den Stefaniensaal bis auf den letzten Platz und spendete am Ende allen Beteiligten begeisterten Beifall – die geradezu in den Schlussakkord hineinplatzenden Bravoschreier finde ich allerdings immer deplatziert. Es war – trotz kleiner Einschränkungen – nicht nur eine überaus spannungsvolle Aufführung, es war gleichzeitig auch ein würdiges Gedenken an Nikolaus Harnoncourt, der im Vorjahr mit einer tief berührenden Aufführung von Beethovens Missa solemnis vom Grazer Konzertpublikum Abschied genommen hatte und den wohl viele im Saal an diesem Abend ganz stark im Bewusstsein hatten. Das Vermächtnis, das Nikolaus Harnoncourt in seinem eingangs zitierten Brief formulierte, erfüllte sich jedenfalls an diesem Abend im Grazer Stefaniensaal: die Künstler auf dem Podium und wir im Publikum fühlten uns als glückliche Entdeckergemeinschaft – das Erbe Harnoncourts lebt!

Hermann Becke, 22.7.2016

Fotos: Styriarte, © Werner Kmetitsch

Hinweis:

Am 25.7.2016 ist dieses Konzert bei den Salzburger-Festspielen als Programmpunkt der Ouverture spirituelle im Großen Festspielhaus zu erleben