Coburg: „Die Entführung aus dem Serail“

Besuchte Aufführung: 23.4.2015

(Premiere: 21.3.2015)

Pubertäre Nöte und Sehnsüchte im Westöstlichen Collegium

Man hat sie noch in bester Erinnerung, die Coburger Inszenierung von Puccinis „Madama Butterfly“ des grandiosen Regieduos Alexandra Szemerédy/Magdolna Parditka, die damals auch eine Nominierung für den FAUST erhielt. Angesichts des enormen Erfolges dieser Produktion hat Intendant Bodo Busse die beiden jungen Regisseurinnen erneut nach Coburg eingeladen und damit wieder einmal einen Volltreffer gelandet. Was die beiden Damen aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“ machten, war in hohem Maße frisch und neu und sehr gefällig, um es mal mit Goethe zu sagen, dem in Szemerédys/Parditkas fulminanter Neudeutung eine zentrale Rolle zukommt. Um es vorwegzunehmen: Diese Inszenierung ist eine Sensation!

Ensemble

Weitab von jeglichem altbackenen, vordergründig exotischen Türkenkitsch verpassen die beiden Regisseurinnen Mozarts Singspiel ein gänzlich neues Gewand, für das sie auch eine eigene, neue Dialogfassung schufen. Gekonnt setzen sie bei den erotischen Wünschen pubertierender junger Menschen an, die sich an der Verwirklichung ihrer Sehnsüchte durch äußere Umstände gehindert sehen. Worin diese bestehen, ist klar: In dem strengem Regelwerk eines Internats, in das Szemerédy und Parditka die Handlung verlegen und sich damit in das Fahrwasser eines Peter Konwitschny begeben. Dieser wendete bei seiner Hamburger „Lohengrin“-Inszenierung von 1998 denselben Kunstgriff an. Der originelle Ansatzpunkt war mithin nichts Neues mehr, ging aber dennoch voll auf. Die beiden Regisseurinnen haben das Werk nur scheinbar gänzlich gegen den Strich gebürstet, der Kern wurde voll und ganz getroffen. Was sie an diesem überaus gelungenen Abend auf die Bühne des Landestheaters brachten, war ausgesprochen stimmig und mit hohem technischem Können auch äußerst kurzweilig, munter und temporeich umgesetzt. Darüber hinaus wird der Spagat zwischen ausgesprochen heiteren und tief ernsten Momenten aufs Beste eingehalten. Das macht ganz hohe Regiekunst aus.

Frederik Leberle (Bassa Selim), Ana Cvetkovic-Stojnic (Konstanze)

Mit Hilfe der emsig eingesetzten Drehbühne erschließt sich dem Zuschauer ein reger Querschnitt durch das Schulgebäude. Nacheinander ziehen an seinem Auge ein Klassenzimmer, ein Schlafsaal, ein Badezimmer und eine Turnhalle vorüber. Ständig präsent bleibt eine im rechten Bühnenbereich aufgehängte Goethe-Büste. Sie ziert eine Schultafel, auf die zudem mit Kreide ein Gedicht des Dichterfürsten aus dessen „Westöstlichem Diwan“ aufgeschrieben ist. Auszüge aus diesem 1819 erstmals erschienenen Gedichtzyklus, mit dem Goethe seinem persischen Kollegen Hafis seine aufrichtige Reverenz erwies, ziehen sich durch die ganze Aufführung und bilden die Grundlage des humanistisch geprägten Lehrplans von Schuldirektor Bassa Selim. Warum er sein Internat gerade „Westöstliches Collegium“ genannt hat, wird nur allzu offenkundig. Bereits vor dem Einsetzen der Ouvertüre hört man bei noch geschlossenem Vorhang, wie Selim seinen Schülern Goethes Gedicht „Gottes ist der Orient“ beibringt.

Anna Gütter (Blonde), Statisterie

Es ist schon ein sehr gut aussehender, junger Deutschlehrer, der hier versucht, seine Schüler für Goethe zu begeistern. Kein Wunder, dass die in der letzten Reihe sitzende, reichlich introvertiert wirkende Konstanze ihn stark anhimmelt. Sie ergeht sich während des Unterrichts in Liebesphantasien, wobei Fetzen der ursprünglichen Dialoge zwischen ihr und dem Bassa rudimentär und bruchstückhaft in ihren Wunschträumen aufschimmern. Während die anderen mit ansprechenden Schuluniformen ausgestatteten Teenager emsig die ihnen vom Direktor gestellten Aufgaben lösen, ist Konstanze unaufmerksam. Richtige Antworten muss man ihr einsagen und schließlich scheitert sie sogar an der Tafel. Es ist höchste Zeit, dass ihr alter Liebhaber Belmonte sie wieder in die Realität zurückholt. Im Schreiben von Gedichten für die Geliebte versteht er sich blendend, weswegen er von Selim gegen den Willen von Osmin, der eigentlich über die Einschreibung von neuen Schülern zu entscheiden hat – neben ihm gibt es noch zwei weitere weibliche Pädagogen -, sofort in die Schule aufgenommen wird. Am Ende ist es dann auch sein enormes poetisches Können, das ihn das Klassenziel gerade noch erreichen lässt.

Anna Gütter (Blonde), Ana Cvetkovic-Stojnic (Konstanze), José Manuel (Belmonte)

Bis dahin geht es freilich recht turbulent zu, woran auch das Buffopaar einen gehörigen Anteil hat. Pedrillo ist ein ganz schöner Angeber, dessen empfindsame Seite dem aufgeweckten, rasanten Wesen seiner Freundin Blonde diametral entgegengesetzt ist. Aber dass die beiden sich dennoch heiß und innig lieben, daran kann kein vernünftiger Zweifel bestehen. Und dass es zwischen ihnen auch körperlich funktioniert, wird spätestens dann deutlich, wenn sie sich zum Sex in eine Toilettenkabine zurückzuziehen, sich eines Kleidungsstücks nach dem anderen entledigen und hinauswerfen. Zwischen Konstanze und Belmonte geht es in dieser Beziehung eher ruhig zu. Zumindest fühlt sie, dass sie bei Belmonte den richtigen Partner gefunden hat und die Liebe zu ihrem Lehrer nur eine Jungmädchen-Schwärmerei ist. Schließlich verlässt sie aufgebracht Selims Politikunterricht und begibt sich lieber in Osmins Sportstunde, in der dieser seine Schüler stark fordert. An einer der von ihm verlangten Übungen, die von den übrigen Bewegungsstatisten versiert ausgeführt werden, scheitert sogar die sonst sehr bewegliche Blonde. Auch beim Klavierspielen – diese Szene haben die beiden Regisseurinnen völlig neu geschaffen – versagt sie auf der ganzen Linie, nachdem eine Mitschülerin sehr anständig Stücke von Mozart zum Besten gegeben hat.

José Manuel (Belmonte), Ana Cvetkovic-Stojnic (Konstanze)

Zunehmend fühlen sich die vier Schüler nicht mehr so wohl in ihrem Internat, gegen dessen im Programmheft abgedruckte Schulordnung sie ständig verstoßen, rauchen, Alkohol trinken und in Straßenkleidung den Duschraum betreten. Schließlich entscheidet man sich, zu fliehen und dazu eine Schüleraufführung zu nutzen, bei der Szemerédy und Parditka dann doch noch ein wenig mit türkisch-exotischen Klischees spielen. Obwohl es Blonde und Pedrillo, die sich zuvor durch eine Zuschauer-Loge davonmachen wollten – mit Brecht können die Regisseurinnen umgehen – gelingt, den diensthabenden Pädagogen Osmin zu überwältigen und zu fesseln, misslingt die Flucht. Der fehlgeschlagene Versuch, den sie beengenden Verhältnissen zu entkommen, mündet bei Konstanze und Belmonte in einen Selbstmordversuch. An dieser Stelle warten die regieführenden Damen erneut mit einem Kunstgriff auf, der ebenfalls Konwitschny nachempfunden sein könnte: Nachdem sich die Liebenden die Pulsadern aufgeschnitten haben, fällt ein Zwischenvorhang. Das Stück scheint zu Ende zu sein, einen tragischen Ausgang genommen zu haben. Über Lautsprecher vernimmt man die entsetzten „Konstanze“-Schreie Selims und ein allmählich ersterbendes Röcheln. Dann geht der Vorhang aber auf einmal wieder auf. Man sieht wie der Schuldirektor seine Zöglinge nach bestandenem Schuljahr in die Freiheit entlässt. Auch Konstanze und Belmonte gesellen sich dazu, wieder völlig unversehrt. Befanden sie sich aber überhaupt jemals auf der Schwelle des Todes? Das ist zumindest zweifelhaft. Eher nicht. Die ganze Selbstmordszene war vielmehr eine der Phantasie des Mädchens entsprungene letzte Hommage in Richtung des immer noch verehrten Lehrers, den sie nun verlassen muss. Selims Gnade, seine Huld, besteht bei Szemerédy und Parditka in der Zuerkennung des erfolgreichen Schuljahrabschlusses trotz nur schwacher Leistungen. Aber genau das macht ja den humanen Faktor aus. Schuldirektor Selim setzt auch in die Tat um, was er lehrt. Dieser Ansatzpunkt der beiden genialen Regisseurinnen war sehr überzeugend. Fern der Tradition haben sie hier mit einem modernen Mantel das zeitübergreifende, in allen Ären gültige Zentrum getroffen: Humanität. Und gerade darum geht es ja nicht nur in der „Entführung“, sondern auch in einigen anderen Opern Mozarts. Dementsprechend kann man diese in jeder Hinsicht gelungene Produktion, zu der man den beiden Regisseurinnen nur herzlich gratulieren kann, sogar als werktreu bezeichnen. Dieses Musterbeispiel hochkarätigen Musiktheaters ist regelrecht preisverdächtig.

Ensemble

Ungewohnter Natur war auch die Herangehensweise von Anna-Sophie Brüning, der Ersten Kapellmeisterin des Landestheaters Coburg, an Mozarts Partitur. Sie knüpfte bei ihrer Interpretation zusammen mit dem versiert aufspielenden Philharmonischen Orchester Landestheater Coburg ebenfalls nicht an herkömmliche Deutungsmuster an, sondern näherte sich dem Ganzen von der analytischen Seite her. Bereits die Ouvertüre entsprach unter ihrer musikalischen Leitung durchaus nicht konventionellen Hörgewohnheiten. Grelle Farben und spitze Akzente prägten die Einleitung, woraus ein recht aggressiver Charakter resultierte. Auch im weiteren Verlauf des Abends wirkte der von Dirigentin und Orchester erzeugte Klangteppich recht rational, zeichnete sich indes durch eine gute Transparenz aus.

Die Sängerliga wurde von Ana Cvetkovic-Stojnic angeführt, die in der Konstanze eine ihrer besten Rollen gefunden haben dürfte. Mit ihrem sauber durchgebildeten, tiefgründigen sowie voll und rund klingenden lyrischen Sopran, der zudem über ein großes Ausdrucksspektrum verfügt, zog sie famos sämtliche Register ihrer anspruchsvollen Rolle. Sowohl die extrem hoch gehenden, hervorragend gemeisterten Koloraturen der Martern-Arie als auch die mit sehr gefühlvoller, warmer Tongebung wiedergegebenen Emotionen des jungen Mädchens hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Die taffe Blonde von Anna Gütter war darstellerisch in demselben Maße überzeugend wie ihr bestens fokussierter Sopran kräftig und prägnant. Der Belmonte von José Manuel hatte seine besten Momente in den Arien, wo er seinen Tenor gut gestützt und mit schönem appoggiare la voce dahinfließen lassen konnte. Hier konnte er mit durchaus hoher Klangkultur punkten. Bei schnellen, rezitativartigen Passagen verlor die Stimme indes öfters an tiefer Fokussierung und rutschte in den Hals, woraus eine Verflachung des Klangs resultierte. Das begann schon bei seinem Duett mit Osmin, dem der junge Tapani Plathan mit solide gestütztem, bis in tiefste Regionen reichendem Bass ein ansprechendes Profil zu geben wusste. Schauspielerisch famos, gesanglich nur mit einem Hauch von dünner Tenorstimme gesegnet gab Dirk Mestmacher den Pedrillo. Als Bassa Selim machte der gut aussehende Schauspieler Frederik Leberle Konstanzes Zuneigung glaubhaft. Nichts auszusetzen gab es an dem von Lorenzo Da Rio perfekt einstudierten Opernchor des Landestheaters Coburg.

Fazit: Wieder einmal ein Abend, der die Fahrt nach Coburg voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 25.4.2015

Die Bilder stammen von Andrea Kremper