Stefaniensaal Graz, 20. 1. 2022
Lieder in reifer interpretatorischer Vollendung
Die bulgarische Sopranistin Krassimira Stoyanova gehört unbestreitbar seit Jahren zu den besten Sopranistinnen der heutigen Opernwelt. Seit über 20 Jahren singt sie die großen Rollen ihres Fachs an der Wiener Staatsoper – laut Archiv bisher seit 1998 240 Auftritte! Die Wiener Staatsoper verlieh ihr 2009 den Titel einer „Kammersängerin“ . Stoyanova war und ist außerdem an führenden internationalen Bühnen tätig (Salzburger Festspiele, Met, Covent Garden, Mailänder Scala, Opéra Bastille Paris, München, Hamburg, Berlin, Dresden, Zürich, Rom, Tel Aviv, Barcelona, Amsterdam, am Teatro Colón). Wie man ihrem aktuellen Terminkalender entnehmen kann, folgen im März die Aida an der Semperoper in Dresen und danach an der Mailänder Scala und in Florenz die Ariadne auf Naxos.
Seit Herbst 2019 leitet sie zusätzlich zu ihrer internationalen Operntätigkeit an der Wiener Musikuniversität eine Gesangsklasse und so war man über die Ankündigung sehr erfreut, im Rahmen der angesehenen Liederabendreihe des Grazer Musikvereins sie einmal gleichsam auch als Pädgagogin zu erleben – gemeinsam auf dem Podium mit einer jungen bulgarischen Sopranistin, als deren Mentorin Stoyanova wirkt.
Aber kurzfristig kam alles ganz anders – aus dem Publikum und dem Berichterstatter unbekannten Gründen! Es war zwar weiterhin Helmut Deutsch der hochgeschätzte Partner am Klavier, aber die Nachwuchssopranistin Stefani Krasteva fehlte und das Programm hatte sich völlig geändert. Statt der angekündigten Lieder von Gabriel Fauré, Ottorini Respighi, Giuseppe Verdi, Dmitri Schostakowitsch und Georgi Wassiljewitsch Swiridow erlebten wir ein Programm mit Liedern von Tschaikowsky, Berg und Rachmaninow. Praktisch identisch war dieses Programm nicht nur mit den Programmen an der Wiener Staatsoper (2014) und bei den Salzburger Festspielen (2017), sondern auch mit Stoyanovas ersten Liederabendprogramm in Graz vor fast auf dem Tag genau 10 Jahren, nämlich am 7.Februar 2012. Fast alle Liederabende Stoyanovas wurden von Jendrik Springer begleitet – auch der vor 10 Jahren in Graz.
Soweit ich es überblicke, hatten Kressimira Stoyanova und Helmut Deutsch bisher noch nicht miteinander konzertiert. Nach diesem Abend kann man nur das Résumé ziehen: wie schön und erfreulich ist es für das Publikum, dass diese beiden bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten nun in Graz zusammgefunden haben! Die beiden harmonierten vom erstenTakt an. Als Zuhörer konnte man von Anfang an die Stimme wie selbstverständlich dahinfließen und sich mit dem Klavier verbinden hören. Da war nichts Künstlich-Maniriertes, aber dennoch höchste technische Kunstfertigkeit bei Sängerin und Pianisten. Man erinnere sich z.B an den allerersten Einsatz des Abends, wie nach dem fünftaktigen Vorspiel die Stimme bruchlos hineingleitet und von den Klavierakkorden aufgenommen und weitergetragen wird.
Dieses Eröffnungslied Kein Wort, o mein Freund, kein Seufzer…wir werden gemeinsam mit dir schweigen zählt zu den ersten veröffentlichten Liedern von Tschaikowsky und ist geprägt von einem schwermütigen Zug mit einem Schuß mondäner Eleganz wie die meisten seiner rund 100 Lieder. Bei Stoyanova ist zu bewundern, wie sie einerseits deutlich und facettenreich artikuliert (auch wenn man selbst nicht russisch versteht!) und dies andererseits ganz aus dem Melos heraus gestaltet. Das fließt wie selbstverständlich dahin und ist gleichzeitig große technische Meisterschaft – und dabei wird sie von Helmut Deutsch kongenial unterstützt. Die Tschaikowsky-Gruppe endete mit dem Lied Den’li carit – leuchtender Tag (1880), das mit seinem begeisterungsfähigen Aufschwung nach einem breiten Vorpiel nicht nur mich im Publikum an die (knapp 15 Jahre später entstandene) Heimliche Aufforderung von Richard Strauss gemahnte – höchst effektvoll von Stoyanova und Deutsch als Kontrast zu den darauf folgenden 7 frühe Lieder von Alban Berg vorgetragen. Auch bei den deutschen Texten fällt die vorbildliche Artikulation auf, völlig aus dem Melos geboren. Da ist z.B. „blinken Lichter“ in Nr. 1 glasklar gestaltet, ohne in die allzu oft zu erlebende, übertriebene „Konsonantenspuckerei“ zu verfallen. Aber auch die stimmliche Klarheit der Spitzentöne im speziell-individuellen Stoyanova-Timbre – etwa in den aufgesprungenen Rosen von Nummer 3 – ist nach wie vor beeindruckend!
Nach der Pause folgte ein Gruppe mit 12 Liedern von Sergej Rachmaninow. Hier hatte ich den Eindruck einer besonderen Übereinstimmung zwischen Sängerin und Pianisten. Stoyanova konnte die unglaubliche Ausgeglichenheit ihrer Stimme von warmer Tiefe bis zu strahlender Höhe in allen dynamischen Abstufungen höchst wirkungsvoll zur Geltung bringen und wurde von Deutsch mit gebührenden Virtuosität, aber auch partnerschaftlicher Anpassung unterstützt. Natürlich standen am Ende die wohlbekannten Frühlingsfluten – vom Publikum entsprechend umjubelt. Fast alle Tschaikowsky- und -Rachmaninow-Lieder können übrigens in einem Mitschnitt aus der Wiener Staatoper aus dem Jahre 2020 angeschaut und angehört werden: Teil 1 und Teil 2
Die Zugaben beschränkten sich auf zwei entzückende Puccini-Miniaturen: „Sole e amore“
und „Salve Regina” . Bei Stoyanovas letzten Grazer Konzert waren die Puccini-Lieder Bestandteil des Programms – diesmal waren sie höchst willkommene Zugabe. Stoyanova hat alle Puccini-Lieder aufgenommen – sie sind hier zu finden und ausschnittweise auch zu hören.
Ein besonderer Hinweis zum Schluss:
Helmut Deutsch feierte vor 50 Jahren am 5.Juni 1972 als Liedbegleiter der Mezzosopranistin Margarita Lilowa ( übrigens eine Bulgarin wie heute unser Gast Krassimira Stoyanowa!) und Werken von Mozart, Verdi, Mussorgsky, Rachmaninow und bulgarischen Volksliedern sein Debüt im Grazer Musikverein. Helmut Deutsch wurde für seine Verdienste um die Liedpflege die Ehrenmitgliedschaftsurkunde des Musikvereins überreicht – nach einem Liederabend mit Camilla Nylund. Der Bericht samt Fotos ist beim Opernfreund hier am 26.Mai 2021 zu finden. Es war damals nach einem radikalen Corona-Lockdown der erste Liederabend mit Publikum. Aber auch diesmal gibt es nach wie vor Einschränkungen. Der Musikverein musste verlautbaren:
Für unsere Orchesterkonzerte gilt die 2 G plus – Regelung (geimpft / genesen und PCR getestet (72 h)). Alle weiteren Zyklen werden mit 500 Plätzen beschränkt. Dort gilt die 2 G – Regel (geimpft / genesen). Im gesamten Gebäude gilt eine FFP2-Maskenpflicht.
Natürlich war es bedauerlich, dass der qualitativ hochstehende Liederabend auf 500 Plätze beschränkt war, aber als Publikum war man dankbar, dass man sich nicht noch einem zusätzlichen Test für den Konzertbesuch unterziehen musste. Es ist arg genug, dass man den ganzen Abend in dem über 1000 Plätze fassenden und ausgezeichnet belüfteten Konzertsaal die Schutzmaske tragen muss. Aber wie auch immer: es war ein großer, ein denkwürdiger Liederabend mit zwei herausragenden Künstlerpersönlichkeiten und man ist ungemein dankbar, dass man ihn live erleben konnte!
22.1. 2022, Hermann Becke
Noch ein ergänzender Video-Hinweis: Der Musikverein bietet hier auf seinerFacebook-Seite einen Video-Mitschnitt des Rachmaninow-Liedes Son – Taum an.
CD TIPP