Das Ende einer Ära? – Ballettereignis besonderen Ranges im Rheinischen Landestheater Neuss
Greetje Groenendyk leitet seit über 40 Jahren eine kleine, feine Ballettschule, früher im verträumten niederrheinischen Kleinod Meerbusch-Lank gelegen – heute in Meerbusch-Osterath. Warum gebührt ihr nun zu Recht unser berühmter OPERNFREUND STERN? Ich würde ihr sogar das Bundesverdienstkreuz verleihen, wenn dies nicht so anrüchig wäre. Mindestens das Landesverdienstkreuz wäre aber nach fast einem halben Jahrhundert angebracht.
Respektvoll stehen die Besucher der letzten Vorstellung auf, nicht nur wegen der großartigen Leistung der jungen Tänzer, sondern weil der Begriff „Standing Ovations“ – er kommt ursprünglich übrigens von den amerikanischen Oscarverleihungen und war einst eine besondere Ehrenbezeugung für das Lebenswerk ganz großer Künstler – hier endlich einmal angebracht ist! „Standing Ovations“ bedeutet umgangssprachlich korrekt übersetzt „langanhaltender Beifall“ – und den gab es reichlich.
Ich weise im Zeitalter der Shitstorms die Genderschwachsinnigen darauf hin, dass „Tänzer“ ein geschlechtsneutraler Gattungsbegriff ist, bevor mir wieder Hunderte, die Deutsch am Gymnasium abgewählt haben, schreiben – was auch für die Begriffe „Besucher“ oder „Gäste“ oder „Fans“ gilt. Ich bekenne mich zu Letzteren, denn ich bin erklärter Fan der Groenendijk-Produktionen. Nicht nur weil ich in dem halben Jahrhundert Kritikertätigkeit auch auf den internationalen Ballettbühnen selten etwas Schöneres sah, sondern auch weil jedem Ballett-Fan mit Herz bei diesen Aufführungen dasselbe aufgehen wird. Man wird geradezu zwangsweise zum Fan.
Woher kommt nun der Faktor der Außergewöhnlichkeit, des Besonderen, des Einmaligen? Da ist einmal die stets wunderschöne Optik der über 300 vielseitigen, prächtig bunten und bis in die kleinste Paillette liebevoll handgefertigten, hoch-professionell wirkenden Kostüme, die jahrzehntelang von Ingrid Liebrecht und Inge Grothe-Rosenberg in über tausend Stunden, natürlich auch in Zusammenarbeit mit vielen engagierten Eltern, gefertigt und perfektioniert wurden. Solch eine Kostümvielfalt und Pracht, liebe Tanztheater-Freunde, werden sie in keinem großen Opernhaus wiederfinden. Der Kostüm-Fundus des Groenedykschen Tanzhauses muss gigantisch sein…
Dann kommt die, nennen wir es mal: perfekt charmante Unperfektion, welche gerade in den Choreografien für die ganz Kleinen (ab vier Jahre) auf der Bühne sichtbar wird. Da stehen sie, die Kleinsten der Kleinen auf der großen Theaterbühne, jenen Brettern, die die Welt bedeuten können, und werden auch nach dem kürzesten Auftritt stets von einem Beifall-Orkan bejubelt, als wären Rudolf Nurejew oder Margot Fonteyn wieder auferstanden…
Solche Auftritte werden die Kinder nie in ihrem Leben wieder vergessen, weil auch ungeheuer viel Mut und Selbstbewusstsein dazu gehört, sich vor einem großen Auditorium im Scheinwerferlicht zu präsentieren. Das schafft Selbstwertgefühl und schult nicht zuletzt auch die fürs spätere Leben so wichtige Teamfähigkeit schon von frühem Beginn an. Einmal geschafft, sind sie dann nicht nur stolz wie der sprichwörtliche Oscar, sondern sie strahlen. Und nichts ist schöner als strahlende Kinderaugen! Und stolz können sie sein auf eine Leistung, die nicht jeder sich zu erbringen traut. Arbeit, Anstrengung und Training lohnen sich, vor allem wenn es auch noch Spaß macht. Der alte lateinische Spruch „non scholae, sed vitae discimus“ (nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir) ist auch in der Ballettschule ein Essential.
Die Qualität der vielen Choreografien, die bis in die feinste Schrittfolge den Gruppen auf den Leib choreografiert wurde, steigert sich natürlich mit dem Reifegrad der jungen Tänzerinnen. Und eine Bewegung sekundengenau zur Musik zu beenden, oder sich zum Vivace oder Lento der klassischen Vorlage passend bewegen zu können (individuell und in Gruppen) setzt auch ein gewisses Verständnis von Musik voraus. Tanz ist immer Bewegung zur Musik, zu schöner Musik, wie wir sie lieben. Und hier ist das Repertoire der Nummern einfach großartig ausgewählt (auch wenn ein kleines Vermögen an die unstillbare GEMA bezahlt werden muss!). Natürlich dominiert Tschaikowsky, weil er einfach die schönste Ballettmusik der Welt geschrieben hat, aber auch Jaques Offenbachs Barcarole darf nicht fehlen, brillante Filmmusik ebenso, wie – pars pro toto – das lustige Kinderlied zu und mit den quakenden Fröschen.
Vermisst man heutzutage bei den großen Theatern meist ein schönes Bühnenbild, wird der Ballettfreund von dem fantastischen handgezeichneten und projizierten halben Hundert (!) an Bühnenbildern, die auf dem professionellen Niveau von Kinderbuchzeichnungen von Steffi Proboszcz (teilweise die schönsten Übernahmen aus alten Aufführungen) ganz liebevoll erstellt wurden, begeistert sein.
Da schließt sich der Kreis zum Gesamtkunstwerk Ballett. Alle Elemente sind wichtig: Tanz, Musik, Choreografie, Bühne und Requisiten. Wie wichtig waren in dieser Produktion z. B. auch Omas Lehnstuhl und das geradezu monstermäßig wirkende Riesenmärchenbuch, welches sogar von innen leuchtete und quasi als Einleitung jeder Szene und in Reminiszenz an die wunderschönen alten Aufführungen stets präsent war. Was für eine begnadete Idee! Viele Szenen enden auch mit einem bravourös engagierten hinreißenden Schlussbild.
Die phantasiereichen Geschichten entstehen aus eben diesen alten Bildern und evozieren bei vielen Besuchern, welche die Aufführungen schon jahrzehntelang verfolgen, ein nostalgisches Wohlfühlen, ein Schwelgen in wunderschönen Erinnerungen – an die Tage, die auch Eltern nie vergessen werden, als nämlich ihre Sprösslinge das erste Mal eine Bühne betraten. Wobei ich aus der Erfahrung meiner vier Kinder ergänzen muss, dass dabei das Herz sicherlich meist noch höher schlug als bei den kleinen Künstlern, die das Lampenfieber nach den ersten Schritten meist schnell ablegen konnten…
Und wie immer waren in allen Gruppen Talente – als Fachmann erkennt man das schon an kleinsten Bewegungen – die sicherlich auf großer Bühne demnächst, je nachdem wie das Leben verläuft, Erfolg haben könnten. Aber das Hervorbringen und Fördern von Ballerinas ist ja gottlob nicht Ziel von Greetje Groenendijks tanzpädagogischem Wirken. Ihr ging es in ihrem unfassbaren Engagement und Lebenswerk immer um das ganz Große, das finale Tanztheaterereignis – das, warum wir Ballett lieben, und welches durch 300 individuelle Kinderseelen entsteht, die sich letztlich begeistert nach viel Probenarbeit konzentriert zu einem hinreißenden Theaterabend zusammenfinden, der allen Spaß macht und auf den alle ihr Leben lang stolz sein können und zurückblicken. Am Ende sind und fühlen sie sich als große Familie.
Der Rezensent, der alle Produktionen gesehen hat, und ich muss sagen, dass alle (!) zu den schönsten Theatererlebnissen meines Lebens gehören („Tausche zwei Karten MET gegen 2 Karten Groenendijk Neuss“ ?!!), kann nur allen Lesern, die heuer nicht anwesend waren, das Kinderarbeitsgesetz erlaubt immer nur vier (natürlich stets ausverkaufte) Vorstellungen, die professionell erstellte Silberscheibe empfehlen, die gerade mit einem zusätzlich reizenden „Making-of“ editiert und gebrannt wird. Ewige Erinnerung. Wer sie nicht kauft, ist zu beweinen…
Peter Bilsing, 22. Mai 2023
Das verzauberte Märchenbuch
Ballettschule Groenendyk
Rheinisches Landestheater Neuss
20./21. Mai 2023
Leitung, Einstudierung, Bühne & Choreografie: Greetje Groenendyk
Co-Choreografie: Iris Kourdoumpa, Marie Enners, Hee-Jin Becky Park
Assistenz: Ingrid Liebrecht, Inge Grothe-Rosenburg
Illustrationen: Steffi Proboszcz
Eine Produktion der Ballettschule Groenendyk
Kaarster Str. 5b, 40670 Meerbusch
www.balletschule-groenendyk.de
Dank für die tollen Bilder an © Eddy Straub
Zitiert und neu überarbeitet wurden:
Der kleine Wassermann (1989)
Der verzauerte Laden (1995)
Peterchens Mondfahrt (1997)
Schneewittchen (1999)
Nussknacker (2001)
Der Zauberer vonn Oz (2003)
Dornröschen (2005)
Cinderella (2008)
Hänsel und Gretel (2010)
Die Schneekönigin (2013)
Alice im Wunderland (2016)
Die vier Jahreszeiten (2019)