Frankfurt: „Die ersten Menschen“, Rudi Stephan

Der Komponist Rudi Stephan gilt als tragischer Fall der Musikgeschichte. 1887 geboren, gehörte er zu den großen Hoffnungsträgern der Nach-Wagner-Ära, den die zeitgenössische Musikkritik neben Richard Strauss und Franz Schreker stellte. Als Soldat fiel er bereits im Jahr 1915. Sein ungedruckter Nachlaß wurde dann im Zweiten Weltkrieg ein Raub der Flammen. So sind nur jene wenigen Werke überliefert, die bereits einen Verlag gefunden hatten. Drei schlicht „Musik“ genannte Orchesterwerke und ein wenig Kammermusik sind darunter. Und die Oper „Die ersten Menschen“. Deren außergewöhnliche musikalische Qualitäten werden allenthalben gerühmt, ihr eigenständiger Stil, der die harmonischen Errungenschaften des französischen Impressionismus eines Debussy mit dem Pathos des deutschen Expressionismus verbindet. Raffiniert wie Richard Strauss‘ Salome und sinnlicher noch als die Opern Schrekers sei das. Nur überprüfen ließ sich das bislang kaum. Es gibt nur wenige Einspielungen des Werks. Auf den Spielplänen der Opernhäuser sucht man Die ersten Menschen vergebens. Das liege, so heißt es, am Stoff und mehr noch an dem „im blühendsten O-Mensch-Pathos des Expressionismus“ (Ulrich Schreiber) gesetzten Text.

Kajin (Iain McNeil) und Chabel (Ian Koziara) / © Matthias Baus

Nun hat die Oper Frankfurt, an der das Werk 1920 postum seine Uraufführung erlebte, das Stück aus seinem Dornröschenschlaf gerissen, und siehe da: Es ist eine ungemein dichte und spannende Produktion daraus geworden. Nachdem Sebastian Weigle für seine letzte Spielzeit als Generalmusikdirektor noch einmal seine Exzellenz als Wagner- und Strauss-Spezialist mit den Meistersingern und der Elektra vorführen durfte, beglaubigt er nun mit seinem fabelhaft aufgelegten Orchester den Rang des Komponisten. Wie herrlich es aus dem Orchestergraben blüht und glüht, wie farbig diese Partitur orchestriert ist und wie originell hier mit dem Erbe Richard Wagners umgegangen wird! Dabei sind die Melodie- und Motiverfindungen in ihrer Klangsinnlichkeit plastischer, atmosphärischer und damit leichter erfaßbar als etwa bei Franz Schreker, unmittelbarer und weniger geschmäcklerisch kalkuliert als bei Richard Strauss. Wenn man die Augen schlösse und nur auf die Musik hörte, wäre diese Aufführung bereits ein herausragendes Ereignis. Dies gilt umso mehr, weil die vier musikalisch gleichgewichtigen Gesangspartien, mit denen das Stück auskommt, ausgezeichnet besetzt sind. Die Anforderungen an die Stimmen stehen den hochdramatischen Wagnerpartien in nichts nach. Andreas Bauer Kanabas verleiht dem Adam (Adahm) mit seinem sonoren Baßbariton große Autorität, aber auch Wärme. Als Eva (Chawa) wächst Ambur Braid über sich hinaus. Sie hatte im Frankfurter Ensemble vor wenigen Jahren als Koloratursopran begonnen. Ihr Einsatz als Salome kurz vor der Pandemiepause galt als gelungene Grenzüberschreitung. Nun aber erfüllt sie in jugendlich-dramatischer Emphase ihre Partie mit umwerfender Leidenschaft. Schon mit seinem Ulisses und zuletzt dem Fürsten in Tschaikowskis Zauberin hatte sich Iain McNeil in die erste Reihe des gut aufgestellten Frankfurter Ensembles gesungen und gespielt. Als Kain (Kajin) präsentiert er sich erneut in überragender Form. Sein Bariton verfügt über eine individuelle, kernige und edelherbe Färbung. In der Mittel- und Tiefenlage wirkt er mitunter wie eine jüngere Version von Andreas Bauer Kanabas, was für die Rolle des Sohnes sehr passend ist. Außergewöhnlich aber ist seine geradezu tenorale Höhenlage, in die er bruchlos hineingleiten kann und in der er zu staunenswert leuchtenden Tönen fähig ist. Diese Vorzüge stechen auch deswegen heraus, weil Ian Koziara, der einzige Gastsänger des Abends, in der Partie des Abel (Chabel) hier einen regelrechten Registerbruch aufweist. Sein Tenor verfügt spiegelbildlich über eine bronzen getönte, baritonale Mittellage. Mit der unbequem gesetzten Höhe müht er sich mitunter ein wenig ab. Manche Passage klingt verschattet, auch die Zuhilfenahme des Falsetts gelingt nicht bruchlos. Gleichwohl zeigt der junge Sänger den hier geforderten heldentenoralen Kern und die Kraft, gegenüber dem groß besetzten Orchester zu bestehen. Man hört, daß ein Mitschnitt des Premierenzyklus auf Tonträger veröffentlicht werden soll. Schon jetzt läßt sich sagen, daß hier eine Referenzaufnahme zu erwarten ist.

Abel opfert ein Lamm auf dem Küchentisch / © Matthias Baus

Neben dem nahezu idealen musikalischen Gelingen glückt auch die szenische Umsetzung in staunenswerter Weise. Mit Tobias Kratzer hat man in Frankfurt einen Regisseur verpflichtet, der dafür bekannt ist, die Handlung des jeweiligen Librettos gerne in andere Zusammenhänge zu stellen, nicht selten filmische Bezugspunkte zu wählen und dies – mitunter plakativ – auf Parallelen wie Reibungspunkte zu überprüfen. Hier stand er vor der schwierigen Herausforderung, ein Vier-Personen-Stück mit mythologisch-archaisierendem Text zu erden, ohne das Ganze in die Banalität kippen zu lassen. Im Kern kreist das Libretto, das Otto Borngräber nach seinem gleichnamigen „erotischen Mysterium“ verfaßt hatte, um zwei Themenkomplexe: Die inzestuöse Erotik, die sich aus den limitierten Paarungsmöglichkeiten der vier ersten Menschen ergibt, und die Entdeckung der Religion. Zunächst treten Adam und Eva auf, die hier Pseudo-Hebräisch Adahm und Chawa genannt werden, und präsentieren eine veritable Beziehungskrise. Sie leidet darunter, daß er sie offenbar nicht mehr begehrt, wünscht sich weitere Kinder, während er ihre Bedürfnisse altväterlich-milde ignoriert. Der gemeinsame Sohn Kajin weiß nicht wohin mit seiner sexuellen Begierde, denn seine Suche nach einem Weib ist bislang erfolglos geblieben, und so richtet er sein Verlangen auf die eigene Mutter. Sein Bruder Chabel scheint das eigene sexuelle Begehren mit der Erfindung eines Gottes sublimieren zu wollen, dem er Altäre bauen und Tieropfer bringen möchte. Chawa nähert sich Chabel an. Kajin erschlägt daraufhin in Eifersucht seinen Bruder. Kajin wird von Chawa verflucht, der tote Chabel von seinen Eltern dem neu entdeckten Gott als Brandopfer dargebracht. Adahm und Chawa gehen mystisch verjüngt mit dem Anbruch eines neuen Tages einer (besseren?) Zukunft entgegen.

Der Inszenierungscoup von Tobias Kratzer ist es nun, daß er die ersten zu den letzten Menschen macht. Und auch das offenbart er mit einem filmreifen Twist (den wir hier leider zur Herstellung des Zusammenhangs verraten müssen) erst im Laufe des ersten Aufzugs. Zunächst treten Adam und Eva als gewöhnliches Ehepaar in einer Wohnküche auf. Durch das Fenster strahlt eine unnatürlich farbenfrohe Sommerlandschaft in den tristen Kleinbürgeralltag hinein. Das macht stutzig. Auch kann man am rechten Rand im Halbdunkel einen Generator entdecken. Die Bühnenbreite wird nicht genutzt. Links und rechts sind Sichtblenden angebracht. Als diese nach einiger Zeit zur Seite geschoben werden, offenbart sich, daß sich das Küchenidyll in einem unterirdischen Bunker befindet. Zur Linken stapeln sich in Regalen Konservendosen, zur Rechten wird das ganze Ausmaß des Stromgenerators sichtbar. Die Fenster sind Attrappe, die Sommerlandschaft eine Fototapete. Auch erkennt man einen Aufstieg mit einer Leiter, der offenbar zur Erdoberfläche führt. Von dort steigt schließlich Chabel im Schutzanzug und mit Gasmaske herab. Es muß da oben eine Katastrophe geschehen sein. Die vier Protagonisten haben in einem Prepper-Bunker überlebt. Damit gelingt überzeugend und regelrecht kongenial eine Aktualisierung, die zugleich plausibel die Limitierung auf vier Personen erklärt und in der die Regie die Grundkonstellation des Librettos unter neuen Vorzeichen nahezu bruchlos durchspielen kann. Das verlorene Paradies ist hier das Leben vor der ungenannten Katastrophe. Adahm beschwört die Erinnerung daran durch Abspielen eines Super-8-Filmes herauf, der die Kleinfamilie in glücklicheren Zeiten zeigt. Es entwickelt sich ein Kammerspiel, das in seiner Dichte und Intensität an filmische Vorbilder wie „10 Cloverfield Lane“ heranreicht. Kratzer gewinnt dem Text dabei sogar Momente von (freiwilliger) Komik ab. Die vorzüglichen Sänger erweisen sich auch als fabelhafte Schauspieler. Ambur Braid überzeugt als frustrierte Ehefrau, Andreas Bauer Kanabas als gutmütiger Prepper, Ian Koziara als charismatischer Gotteserfinder, der mit seiner religiösen Schwärmerei und einem blutigen Opferritual einen ambivalenten Fanatismus zeigt. An darstellerischer Intensität werden sie übertroffen von Iain McNeil, der den Kajin als Musterbild eines postpubertären Kotzbrockens gibt. Die stilistische Gespreiztheit des Librettos und seinen bemüht hohen Ton hat man schnell vergessen, weil es durch die Personenregie und die lebendige Textbehandlung der Darsteller in einen unverkrampften Konversationston überführt wird.

Ambur Braid (Chawa) und Iain McNeil (Kajin) / © Matthias Baus

Nach der Pause wechselt die Szene auf die Erdoberfläche. Hier hat Bühnenbildner Rainer Sellmaier eine alptraumhaft verwüstete Landschaft ersonnen. Wo das Haus der Kleinfamilie gestanden haben muß, ist nur noch die Ruine eines Kamins zu erkennen. Bäume, Geräte und Spielsachen der Kinder im zugehörigen Garten sind verbrannt und nur noch als rußschwarze Relikte zu erkennen. Die Szenerie erinnert stark an das ikonische Bild der zerstörten Welt aus dem zweiten Teil der Terminator-Reihe samt verkohlter Kinderschaukel. Hier nun spitzt sich das Drama der unerfüllten sexuellen Begierden zu. Im Handschuhfach eines ausgebrannten Fahrzeugs entdeckt Kajin Pornohefte, die ihn als Masturbationsvorlage aber nicht zufriedenstellen. An der Ruine des Kamins hat Chabel Tierknochen für schamanische Riten angebracht. Hier kommt ihm Chawa auch körperlich näher. Was das Libretto als „mystische Vereinigung“ andeutet, wird als handfeste Rammelei ausgestellt. Kratzer hat es gerne deutlich. So läßt denn auch das Erschlagen des Chabel durch Kajin an Brutalität nichts zu wünschen übrig. Mit der Drastik übertreibt es die Regie schließlich, wenn sie Kajin sich selbst mit einem Messer entmannen läßt. Daß er dabei auch noch einen blutigen Dildo aus der Hose zieht, ist dann doch eine groteske Übertreibung. Beim Heraufdämmern einer neuen Welt am Schluß zitiert Kratzer einen beliebten Inszenierungseinfall, wonach zu den Schlußtakten von Wagners Götterdämmerung ein Gewimmel von Menschen erscheint, das hoffnungsvoll einem neuen Anfang entgegensieht. Hier öffnen sich auf einmal die zahlreich über den Boden verteilten Luken, und es treten andere Überlebende der Katastrophe heraus. Von wegen „letzte Menschen“. Immerhin paßt dieses den Kitsch streifende Regiezitat zu dem apotheotischen Überschwang, der dazu aus dem Orchestergraben flutet. Während der erste Aufzug als geschlossenes Kammerspiel geradezu kongenial gelungen ist, bleibt die Regie im zweiten Aufzug in einem grandios düsteren Bühnenbild konventioneller und übertreibt es gelegentlich mit überdeutlich ausgestellter Sexualität und Gewalt. Wohl deswegen empfiehlt die Oper Frankfurt den Vorstellungsbesuch erst für Zuschauer ab 16 Jahren.

© Matthias Baus

Insgesamt ist hier eine musikalisch herausragende und szenisch spannende Umsetzung eines vergessenen Meisterwerks gelungen, mit dem die Oper Frankfurt nicht nur die Saison, sondern auch die Ära Weigle glanzvoll abschließt. Der Gesamteindruck ist so überzeugend, daß er andere Opernhäuser dazu ermutigen sollte, Rudi Stephans Geniestreich auf den Spielplan zu setzen.

Michael Demel, 5. Juli 2023


Rudi Stephan: Die ersten Menschen

Bericht von der Premiere am 2. Juli 2023

Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer

Weitere Vorstellungen am 6., 9., 12., 15., 17. und 20. Juli 2023.