Frankfurt: „Le vin herbé“, Frank Martin

Die szenische Produktion von Frank Martins im Jahr 1942 uraufgeführtem Oratorium Le vin herbé an der Oper Frankfurt ist ein Relikt aus den Zeiten der Corona-Pandemie. Zunächst ging es bei den staatlichen Verordnungen ja lediglich um das Einhalten von Mindestabständen. Kreativ und flexibel besann man sich auf Martins Version des Tristan-Stoffes, denn sie kommt im Orchestergraben mit sieben Streichern und Klavier aus. Für die Bühne hatte Karoly Risz einen turmhohen, zweiflügeligen Setzkasten gebaut, in dessen Zellen sowohl die Mitglieder des Chores als auch die Protagonisten die coronagerechten Abstände einhalten konnten. Tilmann Köhler war für die betreffende Saison ohnehin als Regisseur gebucht und übernahm es, die von dem imposanten Bühnenaufbau werkadäquat umgesetzte Statik zu beleben. Das Ganze stand fertig geprobt unmittelbar vor der Premiere, als die erratische Pandemie-Politik sich zu einer vollständigen Schließung der Theater entschloß. Die Produktion hielt man in Reserve. Das Bühnenbild konnte man aber bereits in der Video-Produktion von Mozarts Requiem bestaunen, mit welcher die Oper Frankfurt die Schließzeit für das ausgesperrte Publikum etwas erträglicher machte.

© Barbara Aumüller

Nun also erlebt die Produktion ihre nachgeholte Premiere. Frank Martins Komposition unterscheidet sich fundamental von Richard Wagners romantisch überhöhter Sicht des mittelalterlichen Stoffes. Der Schweizer Komponist wählte einige zentrale Kapitel des vom französischen Romanisten Joseph Bédier unter größtmöglicher Beachtung der literaturhistorischen Quellen herausgebrachten Romans über Tristan und Isolde (hier französisch: Iseut) aus. Da das Werk auf einen Kompositionsauftrag des Zürcher Madrigalchores zurückgeht, kommt dem Chor eine bedeutende Rolle darin zu. Die Geschichte wird entlang der Romankapitel vom Chor und einzelnen Solisten erzählt. Die handelnden Protagonisten treten immer wieder aus dem Kollektiv heraus. Die Vertonung ist dabei schnörkellos und folgt dem Duktus des Textes. Obwohl Martin im Vergleich zu Wagner den Stoff detailreicher und mit einigen zusätzlichen Erzählsträngen präsentiert, benötigt er für seine 18 Bilder samt Prolog und Epilog nicht einmal die Hälfte der Aufführungsdauer des Bayreuther Meisters.

Das Bühnenbild erweist sich für den Stil des schnörkellosen Erzählens als idealer Rahmen, keineswegs als pandemiebedingter Kompromiß. Die zweimal 16 Fächer der beiden Flügel sind rückseitig mit blickdichten schwarzen Vorhängen abgedeckt, so daß die gerade beteiligten Sänger heraustreten und dann wieder verschwinden können, wenn sie nichts zu singen haben. Die Grundfarbe der Kostüme ist schlichtes Schwarz. Nebenfiguren der Handlung werden mit dezenter Farbgebung aus der Chormasse herausgestellt. Tristan und Isolde dagegen stechen durch leuchtendes Weiß hervor. Das Kostüm von Isolde ist an ein Brautkleid angelehnt. Tristan hebt sich mit einem weißen Hemd und weißen Schuhen von den anderen männlichen Figuren ab.

Juanita Lascarro (Iseut) und Rodrigo Porras Garulo (Tristan) sowie im Hintergrund in der untersten Reihe v.l.n.r. Theo Lebow (Kaherdin), Cláudia Ribas (Die Mutter von Iseut der Blonden), Kihwan Sim (König Marc), Clara Kim (Branghien), Jarrett Porter (Herzog Hoël) und Cecelia Hall (Iseut, die Weisshändige), darüber Chor der Oper Frankfurt / © Barbara Aumüller

Zu der in der Musik durchlaufenden Erzählung werden die jeweils behandelten Figuren in einzelnen Zellen des Bühnenbilds durch die Beleuchtung herausgestellt. Dadurch gelingt der Effekt, daß – in der Sprache eines Films gesprochen – inmitten einer Totalen zugleich parallele Nahaufnahmen gezeigt werden. Die so hervorgehobenen Figuren zeigen dann pantomimisch die jeweiligen Gefühlsregungen. Regisseur Tilmann Köhler setzt das Repertoire der Gesten hier sparsam und gerade deswegen wirkungsvoll ein. Aktionen vor dem Bühnenaufbau bleiben Tristan und Isolde sowie Marke vorbehalten. Die szenische Konzentration wird durch den gezielten Einsatz weniger Requisiten unterstützt: Ein Gefäß mit dem titelgebenden Liebestrank, wenige Becher, ein Schwert König Markes. Wo der Liebestrank ausgegossen wird, offenbart sich, daß der Inhalt der Gefäße Sand ist. Damit wird ein Vanitas-Motiv aufgenommen: Diese Liebe zerrinnt bereits vom ersten Moment ihrer Entstehung an. Ein weiteres Vanitas-Motiv kann man darin sehen, daß immer wieder von einzelnen Sängern Notenblätter zerrissen werden und dann in Fetzen zu Boden schneien.

Juanita Lascarro (Iseud) und Chor der Oper Frankfurt / © Barbara Aumüller

Das tragische Liebespaar ist mit Juanita Lascarro und Rodrigo Porras Garulo glänzend besetzt. Beide verfügen über eine tragende Mittellage, mit der sie in plastischer Diktion einen großen Teil ihrer Einsätze bewältigen. Daneben gibt es für beide immer wieder ariose Ausbrüche. Porras Garulo führt dann seine baritonal grundierte Stimme in jugendlich-heldenhafte Tenorhöhen. Lascarros in der Mittellage ebenmäßiges Material entwickelt in der Höhe ein ausladendes Vibrato und eine dunkle, gutturale Verschattung, die der Partie eine Prise Hochdramatisches beimischen.

Die übrigen Solisten übernehmen neben kürzerer, unmittelbar ihren Figuren zugeordneter wörtlicher Rede mitunter auch Teile der Erzählung. Auch ihre Einsätze fügen sich bruchlos in ein geschlossenes Gesamtbild. Hervorzuheben sind dabei Kihwan Sim, der als König Marke mit seinem nobel abgetönten Baßbariton einen starken Eindruck hinterläßt, und das Opernstudiomitglied Clara Kim, die als Brangäne mit warm leuchtendem Sopran auf sich aufmerksam macht.

Der Opernchor, dem der erzählerische Hauptpart zukommt, zeigt sich gut vorbereitet und in allen Stimmlagen ausgewogen. Das Kammerensemble im Orchestergraben läßt ihm unter der Leitung von Takeshi Moriuchi seine dominierende Rolle.

Liegend Rodrigo Porras Garulo (Tristan) und Juanita Lascarro (Iseut, die Blonde), dahinter Kihwan Sim (König Marc; mit Schwert) / © Barbara Aumüller

Diese Form der Präsentation wahrt die Konzeption des Komponisten, der das Stück als Oratorium aufgefaßt hat. Tilmann Köhlers klare und sensible Regie fügt sich dabei ideal zum Grundduktus der Musik, lenkt nicht ab, sondern unterstreicht und verdeutlicht den Erzählcharakter. Das erleichtert die Rezeption der herben Schönheit dieses Werkes für das Publikum ungemein. Es erlebt einen spannenden, musikalisch exzellenten und atmosphärisch dichten Abend, der den eigenständigen Rang des Komponisten in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts unterstreicht.

Michael Demel, 11. Juli 2023


Frank Martin: Le vin herbé

Oper Frankfurt

Besuchte Vorstellung: 7. Juli 2023

Inszenierung: Tilmann Köhler
Musikalische Leitung: Takeshi Moriuchi
Choreinstudierung: Tilman Michael
Chor der Oper Frankfurt
Solisten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters

Weitere Vorstellungen am 14. und 16. Juli.