Frankfurt: „Orlando“, Georg Friedrich Händel

Sie haben genug davon, die „Probleme unserer Zeit“ in einer Barock-Oper gespiegelt zu bekommen? Sie wollen gar nicht wissen, ob ein 290 Jahre altes Stück „brennend aktuell“ sein kann? Sie brauchen mal eine Pause von den vielen Verlegungen der Entstehungs- oder Handlungsszeit in Was-auch-immer-für-eine-Epoche? Möchten weder eine „Übermalung“ sehen, noch der „Freilegung von Schichten“ beiwohnen? Dann hat die Oper Frankfurt jetzt genau das Richtige für Sie: L‘art pour l’art, stil- und geschmackvoll, nicht überladen, konzentriert, aber nicht verkrampft, nicht altertümelnd und nicht zwanghaft aktualisierend, mit einem Schuß Humor ohne groteske Überzeichnung.

Dabei möchten wir all die fabelhaft gelungenen Händel-Inszenierungen nicht schlechtreden, welche die Oper Frankfurt in den vergangenen Jahren wie Perlen auf eine Kette gereiht hat: Zuletzt wieder die faszinierende Interpretation von Tamerlano als American Horrorstory durch R. B. Schlather, Claus Guths grandios geglückte Rodelinda, Amadigi in der Wellness-Hölle, den mustergültigen Xerxes und nicht zuletzt den gefeierten Rinaldo. Dessen Regisseur Ted Huffman ist nun auch für die Regie von Orlando verantwortlich. Er wahrt seine von Rinaldo bekannte Handschrift, aber er macht etwas völlig anderes. Das liegt nicht zuletzt an der unterschiedlichen Konzeption der beiden Stücke. Rinaldo erzählt eine Geschichte, Orlando benutzt die Handlung als Vorwand für Händels Neustart im Operngenre. In keiner seiner Opern ist der Komponist und Opernunternehmer zuvor so flexibel und souverän mit den Formen umgegangen, erspart sich und dem Publikum vielfach die nicht enden wollenden Da-capo-Arien, setzt auf pfiffige Ariosi, die er in Accompagniati übergehen läßt, und spielt experimentierfreudig mit den Konventionen.

Zanda Švēde als „rasender Roland“ / © Barbara Aumüller

Das Libretto bietet die barocktypischen Liebesverwirrungen: Die Schäferin Dorinda liebt den Soldaten Medoro, der hat sich unstandesgemäß in die adlige Angelica verliebt, die seine Zuneigung erwidert. Der Ritter Orlando ist ebenfalls in Liebe für Angelica entbrannt. Das verdrießt den Magier Zoroastro, der Orlandos Bestimmung in soldatischen Heldentaten statt in romantischen Eroberungen sieht. Orlando steigert sich in seiner Eifersucht in einen Wahn hinein und wird zum „rasenden Roland“ (Orlando furioso). Zoroastro will ihn durch eine Schocktherapie heilen, indem er ihn zum Mord an Medoro und Angelica anstiftet. Beide überleben durch Zoroastros Zauberkraft, Orlando erkennt die tödlichen Konsequenzen seines Liebeswahns, gibt sich geläutert und verzichtet auf Angelica. Lieto fine.

Das Bühnenbild von Johannes Schütz wird bestimmt von vier rechteckigen weißen Segeln aus semitransparentem Stoff, die kreuzförmig angeordnet sind und wie eine vertikalachsige Windmühle gedreht werden können. So ergeben sich vier Räume, durch deren transparente Wände Parallelaktionen sichtbar gemacht werden. Die Bewegung der Segel unterläuft zudem geschickt die im Bühnenbild angelegte Statik. Als Andeutungen eines Waldes werden Schattenrisse von Baumzweigen auf die weißen Flächen geworfen (Videoprojektionen von Georg Lendorff). Die Protagonisten sind durch ihre Kostüme (Raphaela Rose) genau charakterisiert. So erscheint Angelica, die chinesische (!) Prinzessin, mit verschwenderischer Stofffülle in einer rauschenden, apricotfarbenen Robe, die Schäferin Dorinda mit einem querovalen Reifrock, der burschikos von Hosenträgern gehalten und mit einem handfesten Streifenpulli kombiniert wird. Die Wirkung der Kostüme vor dem reduzierten Bühnenbild wird noch von einer effektvollen Lichtregie verstärkt (Joachim Klein), die zum einen für belebenden Schattenwurf auf die Segel sorgt, zum anderen mit wechselnden Farben die Stimmungen der einzelnen Szenen unterstützt.

Monika Buczkowska als Dorinda / © Barbara Aumüller

Als weiteres belebendes Element hat das Produktionsteam fünf Tänzer hinzugefügt, deren schwarze Kostüme auf spanische Hoftracht der frühen Neuzeit anspielen. Diese Tänzer sind als Geistwesen dem Zauberer Zoroastro zugeordnet, der mit ihrer Hilfe die Handlungsfäden im Hintergrund zieht. Dadurch erhält diese Nebenfigur zugleich eine zentrale Rolle, wird zudem der Handlungsverlauf zur psychologischen Versuchsanordnung eines Intellektuellen aufgewertet. Das Programmheft weist hier auf Parallelen zu den Prüfungen in Mozarts Zauberflöte hin, deren Initiator Sarastro nicht zufällig eine Namensähnlichkeit mit Zoroastro aufweise. Uns erinnert der strippenziehende Philosoph, der sich bei Händel mit einer Arie über den Lauf der Planeten einführt, auch an den Don Alfonso in Cosi fan tutte, der ja ebenfalls aus einer gewissen Geringschätzung von Liebesschwärmereien ein zynisches Menschenexperiment arrangiert.

Die Tänzer leiten die Protagonisten an, halten die Segelwände in Bewegung und reflektieren dazu immer wieder die in den Gesangsnummern zum Ausdruck kommenden Gefühle und Affekte, Posen und Bewegungen, die dem Formenrepertoire barocker Bildhauerei abgeschaut sind. Die Choreographie von Jenny Ogilvie tritt gleichberechtigt neben die Personenregie, ergänzt und verstärkt sie auf ideale Weise.

Zanda Švēde mit Tänzern / © Barbara Aumüller

Musikalisch erweist das Ensemble der Oper Frankfurt einmal mehr seine Exzellenz. An der wunderbaren Kateryna Kasper hatten wir zuletzt gerühmt, wie sie mit ihrer herrlich runden, honigsüßen Stimme Verzierungen, Melismen und Koloraturen in staunenswerter Makellosigkeit darzubieten weiß. Das ist nun wieder in der Partie der Angelica zu erleben, und es scheint so, als ob ihre Stimme weiter gereift ist, an Opulenz gewonnen hat, ohne an Beweglichkeit zu verlieren. Es ist Chronistenpflicht zu erwähnen, daß einige tiefe Töne, die Händel immer wieder zum Ausgangspunkt von Intervallsprüngen in die hohe Lage macht, zwar technisch geschickt integriert werden, aber mit robustem Brustton auffallend anders timbriert sind. Das schmälert jedoch keineswegs den Genuß an der Darbietung. War nicht auch die Callas bekannt für ihren Registerbruch zwischen Bruststimme und Mittellage? Mit der gleichen technischen Leichtgängigkeit und makellosen Verzierungskunst ist Monika Buczkowska als Dorinda der Kasper ebenbürtig. Das junge Ensemblemitglied bringt sich in ihrem ersten Frankfurter Premiereneinsatz in einer Hauptpartie mit frischem Sopran ein und würzt ihre starken Auftritte mit genau dem richtigen Maß an Humor. Wenn dieses Traumduo der Soprane sich kurz vor der Pause mit der weichen und klangsatten Counterstimme von Christopher Lowrey als Medoro zum Terzett vereint, ist das Händelglück vollkommen. Zanda Švēde kommt die Aufgabe zu, die Stimmungsschwankungen und den ausbrechenden Wahnsinn der Titelfigur zu beglaubigen. Das gelingt ihr mit ihrem dunkel timbrierten, samtigen Mezzosopran sehr überzeugend. Und endlich einmal kann Božidar Smiljanić seinen saftigen und doch beweglichen Baßbriton als Zoroastro in einer wichtigen Partie zur Geltung bringen.

Kateryna Kasper als Angelica © Barbara Aumüller

Simone Di Felice ist in Frankfurt als Kapellmeister zum souveränen Fachmann für historisch informierte Aufführungspraxis gereift. Er präsentiert mit dem gut vorbereiteten Orchester einen farbigen Barocksound, der es mit jedem Spezialensemble aufnehmen kann.

So fügt sich eines zum anderen an diesem kurzweiligen und beglückenden Abend: Bühnenbild, Licht- und Schattenspiel, Kostüme, Personenführung, Tanz, Gesang und Orchesterspiel auf höchstem Niveau. Alles ist gut durchdacht, geschmackvoll aufeinander abgestimmt, wunderbar ausbalanciert. Ein wahres Gesamtkunstwerk, für das als höchstes Lob gelten kann, daß es dem Komponisten ein Denkmal setzt.

Michael Demel, 31. Januar 2023


Georg Friedrich Händel: Orlando

Oper Frankfurt

Bericht von der Premiere am 29. Januar 2023

Inszenierung: Ted Huffman
Choreographie: Jenny Ogilvie
Musikalische Leitung: Simone Di Felice
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer

Weitere Aufführungen am 4., 10., 12., 18. und 25. Februar sowie am 4., 10. und 12. März 2023.