Frankfurt: „Tamerlano“, Georg Friedrich Händel

Die Vorstellungen der Premierenserie von Händels Tamerlano vor drei Jahren waren bereits im Voraus sämtlich ausverkauft. Wir hatten der Produktion seinerzeit den OPERNFREUND-Stern verliehen. Nun gibt es eine der im Bockenheimer Depot seltenen Wiederaufnahmen. Eine gute Gelegenheit für alle, die beim letzten Mal keine Karten mehr abbekommen haben, eine faszinierend unkonventionelle Produktion zu erleben, welche die Möglichkeiten dieser besonderen Spielstätte ausreizt. In bester Tarantino-Manier hat R. B. Schlather ein intensives Kammerspiel inszeniert, bei welchem hinter einer trashigen Oberfläche mit oft schrägem Humor der blanke Horror lauert.

Mitten im Bühnengeschehen: Das Orchester sitzt im Käfig, (c) Monika Rittershaus

Die eigentliche Handlung geht so: Der Tatarenfürst Tamerlano hält den von ihm besiegten Osmanenherrscher Bajazet und dessen Tochter Asteria gefangen, die er begehrt, obwohl er der Prinzessin Irene versprochen ist. Sein Verbündeter Andronico soll für ihn um Asterias Hand werben, ist aber selbst in diese verliebt. Asteria, die Andronicos Liebe erwidert, geht zum Schein auf das Werben Tamerlanos ein, nutzt aber die so erreichte Nähe zum Herrscher, um auf diesen einen Giftanschlag zu verüben. Der Anschlag scheitert. Tamerlano schwört Rache, der gedemütigte Bajazet kommt ihm mit seinem Selbstmord zuvor, was wiederum Tamerlano versöhnt.

Es ist ein typisches Barock-Libretto mit verwickelten Liebeshändeln und unglaubwürdigem Lieto fine. Das funktioniert im fiktiven orientalischen Mittelalter des Originals so gut und schlecht wie in der vom Produktionsteam gewählten us-amerikanischen Gegenwart. Die Methode des Regisseurs ist dabei nicht eine bloße zeitliche Transformation, sondern ein experimentelles Durchspielen der Affekte einer Barockoper vor der Folie heutiger Popularkultur. Die nüchternen Kulissen lassen den Ort des Geschehens unbestimmt. Davor treten die Protagonisten in Kostümen auf, die wie Erinnerungsfetzen aus filmischen Vorbildern wirken. Neben dem Titel-Anti-Helden als Kreuzung aus Groucho-Marx und Cowboy sieht man Andronico im dritten Akt in American-Football-Montur, muß Bajazet einen orangefarbenen Gefängnis-Dreß tragen, hantiert Tamerlano mit einem Baseballschläger herum wie Robert de Niro als Al Capone.

Des Wahnsinns fette Beute: Lawrence Zazzo als Tamerlano, (c) Barbara Aumüller

Dieser Ansatz glückt auf faszinierende Weise, weil die (fast) ausnahmslos vorzüglichen Sänger allesamt auch glänzende Darsteller sind. Erneut brilliert Countertenor Lawrence Zazzo als gefährlich wahnsinniger Gewaltherrscher. Erneut begeistert eine grandiose Elisabeth Reiter als zwischen Wut und Verzweiflung changierende Asteria. Mit makelloser Technik präsentiert sie die Koloraturen, schleudert zornige Tonkaskaden gegen ihren Peiniger, erzeugt aber zugleich in ruhigeren Passagen eine ans Herz rührende Innigkeit. Jede Emotion wird musikalisch beglaubigt, jede Phrase mit Ausdruck erfüllt. Erneut aber – und das ist auch schon unser einziger Kritikpunkt – irritiert Yves Saelens als Bajazet, der zwar ein ausdrucksstarker Darsteller ist, dessen Tenor jedoch mit den technischen Anforderungen der Partie nur mäßig zurechtkommt. In seinen Bravourarien mogelt er sich wieder durch bestenfalls angedeutete Koloraturen und zerreißt allzu oft durch überbetont artikulierte Konsonanten und aus der Grunddynamik herausfallende Akzente die Gesangslinie. Daß er seine Sterbearie am Schluß jedoch wie zuletzt sehr ergreifend gestaltet, läßt seine Gesamtleistung in günstigerem Licht erscheinen. Cecilia Hall dagegen übertrifft als Irene ihre in guter Erinnerung gebliebene Leistung aus dem Premierenzyklus. Ihr Rollenporträt hat weiter an Souveränität gewonnen, ihr Mezzosopran an Farbe. Einen Sonderpreis verdient sie für das Kunststück, bei ihrer glänzend präsentierten Auftrittsarie einen Kaugummi im Mund zu balancieren, ohne daran zu ersticken. Als einzige Neubesetzung in einer Hauptpartie gefällt Dmitry Egorov mit angenehm timbriertem Countertenor als Andronico. Mit tadelloser Technik und differenzierter Gestaltung rundet er die Besetzung vorzüglich ab.

Grandios: Elisabeth Reiter als Asteria, im Hintergrund auf der Bank: Cecilia Hall (Irene) und Jarret Porter (Leone), am Käfig: Lawrence Zazzo, (c) Barbara Aumüller

Karsten Januschke hat wie zuletzt die musikalische Leitung. Das in einem Metallkäfig im Bühnenraum optisch präsente Orchester wird unter seiner prägnanten Leitung zu einem weiteren Hauptdarsteller. Selbstverständlich spielt es historisch informiert, dabei aber unakademisch flexibel, und fungiert teils als Impulsgeber, teils als Echokammer der von den Sängern durchlebten Affekte.

Der Abend überzeugt auch beim Wiedersehen durch die unkonventionelle Frische der Inszenierung und begeistert musikalisch mit einer herausragenden Besetzung.

Michael Demel, 2. Dezember 2022


Georg Friedrich Händel: „Tamerlano“

Oper FrankfurtBockenheimer Depot

Bericht von der Wiederaufnahme am 1. Dezember 2022
(Premiere am 7. November 2019)

Inszenierung: R. B. Schlather
Musikalische Leitung: Karsten Januschke
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Weitere Vorstellungen am 5., 8., 10., 14., 16. und 18. Dezember 2022