Musikalisch ist es ein Otello im XXL-Format: Schon der Sturm, den Sesto Quatrini zu Beginn mit Chor und Orchester entfesselt, hat Orkanstärke und überwältigt das Publikum mit seiner Wucht. Zu hören ist aber nicht bloßer Lärm, sondern eine ungemein spannende Schilderung vom Kampf eines Schiffes gegen die Naturgewalten. Die Musiker malen das in kräftigen Farben und spielen sich schier die Seele aus dem Leib. Nach der glücklichen Landung bahnt sich Alfred Kim in der Titelpartie den Weg durch die Menge und schmettert sein „Esultate!“ in den Raum, als wäre das nicht eine der heikelsten Auftrittsarien für einen Heldentenor in der gesamten Opernliteratur. Die Mühelosigkeit, mit der das ehemalige Frankfurter Ensemblemitglied noch in die exponiertesten Höhen klettert, ist ebenso imponierend wie sein Stimmvolumen. Er bietet einen Otello ohne Kompromisse. Wenn man rummäkeln wollte, könnte man sich mehr Geschmeidigkeit in der Mittellage wünschen, doch wo gibt es derzeit einen Tenor, der diese Partie mit ähnlicher Souveränität und bis zum Ende ohne Ermüdungserscheinungen singen könnte? Dabei versteht sich Kim durchaus auf differenzierte Rollengestaltung, etwa in zärtlichen Tönen gegenüber Desdemona, seiner brütenden Eifersucht oder der Verzweiflung am Ende.
Die übrige Besetzung ist nicht minder stark bis hin zur kleinen Rolle der Emilia, die nun wie in der Premiere 2011 von Claudia Mahnke mit ihrem glutvollen Mezzosopran gegeben wird, für den sie außerhalb ihres Stammhauses von Bayreuth über Berlin bis New York gebucht wird. Das ist der schiere Luxus, und ihr Stammpublikum dankt es ihr im Schlußapplaus. Phänomenal ist Iain MacNeil, der sich den Jago neu erarbeitet hat. Mit seinem kraftvollen, virilen Bariton muß er keine musikalischen Kompromisse eingehen. Die bösartige Durchtriebenheit seiner Figur kann er ganz aus der Musik entwickeln und beglaubigt gerade durch die Attraktivität seiner Stimme, die über nahezu tenorale Höhensicherheit verfügt, die Verführungskraft des Intriganten. Die Möglichkeit, diesem Juwel im Frankfurter Ensemble solch eine wichtige Rolle anbieten zu können, war sicherlich ein Antriebsgrund für die Intendanz, diese eigentlich bereits abgesetzte Produktion erneut auf die Bühne zu bringen.
Einen weiteren Grund mag die zweite Debütantin geliefert haben: Nino Machaidze singt ihre erste Verdi-Desdemona, nachdem sie vor wenigen Wochen hier bereits erneut in der Rossini-Version reüssieren konnte (lesen Sie dazu auch das OF-Interview mit der Sängerin). Musikalisch und auch vom Rollenprofil sind die beiden Partien völlig unterschiedlich angelegt. Daher war die spannende Frage, ob die vom Belcanto herkommende Sängerin nun bei Verdi ebenso würde überzeugen können wie bei Rossini. Sie kann, und mehr noch sie übertrifft ihre kürzlich präsentierte Leistung. Wie selbstverständlich verströmt sich ihr Sopran, dessen fruchtiges Timbre auch dieser Partie Individualität verleiht. Ihrem Filet-Stück, dem Lied von der Weide mit dem anschließenden Gebet im Schlußakt, bleibt sie an Innigkeit nichts schuldig und wird dabei vom Dirigenten auf Händen getragen, der das Orchester zurückdimmt, ohne die Klangtextur dünn wirken zu lassen. Da bleiben keine Wünsche offen. Schließlich singt auch Michael Porter in dieser Wiederaufnahme seinen ersten Cassio. Wer ihn tags zuvor als quirligen Pedrillo in Mozarts Entführung aus dem Serail erlebt hat, staunt nicht schlecht, wie fabelhaft sein saftiger Tenor zu dieser Verdi-Partie paßt. Da zeichnet sich ein Fachwechsel ab. In ihren Rollen bewährt sind Kihwan Sim mit seinem noblen Baßbariton als Lodovico und Magnús Baldvinsson als knorriger Montano. Jonathan Abernethy rundet die starke Besetzung mit seinem lyrischen Tenor als Rodrigo ab.
Im reizvollen Kontrast zu der enormen Kraft der musikalischen Seite steht die Inszenierung von Johannes Erath. Karg ist die Bühne, Zypern ein Floß, das aus groben Planken zusammengehauen ist, leicht abschüssig. Außer ein paar Stühlen braucht es nichts, um darauf ein kammerspielartiges Drama von sich fortlaufend steigernder Intensität zu entwickeln. Punktgenau mit der Musik synchronisierte Lichtwechsel beleben dabei die Szene. An dieser Inszenierung ist kein Gramm Fett zu viel. Sie hält dabei eine ausgewogene Balance von Realismus und Stilisierung.
Gelungen ist etwa das Einfrieren der Bewegungen der übrigen Darsteller während Jagos nihilistischem Credo, ein Kabinettstück das beiläufige Wecken von Otellos Eifersucht durch Jago bei Zeitungslektüre und Espresso. Der Chor zu Desdemonas Auftritt im zweiten Akt gerät zur Begräbnismusik. Desdemona liegt wie in einem offenen Grab am Boden, auf das der Kinderchor rückwärts zuschreitet, um es mit den im Lied besungenen Lilien, Symbolen der Reinheit, zu bekränzen. Diese surreale Szene nimmt das Ende der unschuldig ermordeten, reinen Braut vorweg und zeigt das Wesen der Tragödie: Das unentrinnbare Schicksal der Protagonisten steht von Anbeginn fest. Mit Interpretationen hält sich Erath ansonsten wohltuend zurück. Auch der wohl unvermeidbare Regietheaterfirlefanz, allem voran etwa die auf der Bühne aufgereihten Soldatenstiefel, wirkt hier beinahe wie ein ironisches Zitat und ist so dosiert, daß das Vorantreiben der Handlung nicht gestört wird. Im Hintergrund der Bühne steht auf einem Regal eine matt glänzende Bambi-Figur. Sie staubt bedeutungslos vor sich hin, als wolle der Regisseur die Anhänger eines platten Bebilderungsplüschs verhöhnen.
In einem Punkt jedoch reduziert diese Wiederaufnahme die Original-Regie: In der Premiere und allen bisherigen Wiederaufnahmen trat der „Mohr von Venedig“ als Weißer auf, versuchte gleich zu Beginn aber, ein schwarzes Alter Ego zu erdrosseln. Diese „schwarze“ Identität war aber wortwörtlich nicht totzukriegen und begleitete Otello als unaufdringlicher Schatten bis an sein Ende. Schließlich griff Otello zu seinem Double, die Schwärze färbte ab und er beschmierte damit symbolisch sein eigenes Gesicht. Das alles fehlt nun, wohl im vorauseilenden Ausweichen vor Blackfacing-Vorwürfen. Das Alter Ego gibt es zwar immer noch, aber es wird von einem jungen Schauspieler mit weißer Hautfarbe dargestellt. Wer die Originalinszenierung nicht kennt, wird die Funktion dieser hinzuerfundenen Figur kaum begreifen.
Diese Wiederaufnahme lohnt sich bereits für die großartigen Gesangsleistungen in allen Hauptpartien, die von einem spannungsgeladenen Dirigat befeuert werden. Daß die Sänger allesamt glaubwürdige Darsteller sind, macht die Produktion auf der bewußt reduzierten und effektvoll ausgeleuchteten Bühne auch zu einem szenisch spannenden Erlebnis. Das Publikum zeigt sich im Schlußapplaus zu Recht begeistert.
Michael Demel, 1. Juli 2024
Otello
Dramma lirico von Giuseppe Verdi
Oper Frankfurt
Vorstellung am 30. Juni 2024
Premiere am 4. Dezember 2011
Inszenierung: Johannes Erath
Musikalische Leitung: Sesto Quatrini
Frankfurter Opern- und Museumsorchester