Ein Klassiker der Postmoderne
Péter Eötvös‘ „Tri Sestry“ nach einem Drama von Anton Tschechow ist eines der wenigen zeitgenössischen Musiktheaterwerke, die es ins Repertoire der Opernhäuser geschafft haben. Seit der Uraufführung an der Oper Lyon im Jahr 1998 stand das Werk bereits in drei Dutzend Städten auf dem Spielplan. Die Liste der Aufführungsorte umfaßt große wie kleinere Häuser. Zuletzt hatte es sogar die konservative und risikoscheue Wiener Staatsoper im Jahr 2016 herausgebracht – ein untrügliches Zeichen dafür, daß ein Stück zum Klassiker geworden ist.
Dabei handelt es sich keineswegs um ein gefälliges Werk. Schon die Vorlage von Tschechow ist sperrig. Sie schildert die Trostlosigkeit des Lebens in der russischen Provinz und das dumpfe Seelenleid von vier Geschwistern, den titelgebenden Schwestern und ihrem Bruder Andrei, die es fernab ihrer Heimatstadt Moskau dorthin verschlagen hat. Wer von ihnen nicht unglücklich verheiratet sind, ist wenigstens unglücklich verliebt. Sie haben ihre Träume aufgegeben und müssen sich mühsam mit ihren Schicksalen arrangieren. Abwechslung bringen lediglich die dort stationierten Soldaten. Bei Tschechow wird eine Zeitspanne von vier Jahren chronologisch erzählt. Eötvös hat aus der Vorlage zusammen mit seinem Librettisten Claus Henneberg wenige Momente herausdestilliert, die er zu insgesamt drei „Sequenzen“ neu zusammengesetzt hat, in denen die Grundgegebenheiten jeweils aus der Perspektive von einem der vier Geschwister beleuchtet werden. Die erste Sequenz ist der Schwester Irina gewidmet, welche sich dem Werben des Barons Tusenbach ausgesetzt sieht, dessen Liebe sie nicht erwidert, dem sie aber schließlich nachgibt, was jedoch folgenlos bleibt, weil er von seinem Widersacher Soljony im Duell getötet wird. Die zweite Sequenz nimmt die Perspektive des Bruders Andrei ein, der seine Hoffnungen auf eine Karriere als Professor zugunsten eines Verwaltungspostens aufgegeben hat und unter der Fuchtel seiner biestigen Ehefrau Natascha steht. Die dritte Sequenz widmet sich der Schwester Mascha, die unglücklich mit einem Lehrer verheiratet ist und noch unglücklicher in den ebenfalls verheirateten Offizier Werschinin verliebt ist.
In den drei Sequenzen gibt es wiederkehrende szenische Motive wie etwa das Zerbrechen einer Sanduhr und das somnambule Erscheinen von Andreis Frau Natascha mit einer Kerze, das an die Wahnsinnsszene von Lady Macbeth bei Verdi erinnert.
Musikalisch ist das Werk einer entspannten Postmoderne zuzuordnen. Es gibt mit einem zwischen Dur und Moll changierenden Dreiklang sogar einen wiederkehrenden tonalen Bezugspunkt, ohne daß es sich dadurch um eine tonale Komposition handeln würde. Teile des Textes werden gesprochen, andere in einem Parlandostil zwischen Sprechen und Singen bewältigt. Immer wieder aber gibt es längere ariose Passagen. Das eröffnende Terzett der drei Schwestern erinnert an Renaissance-Vorbilder. Eötvös’ Tonsprache überfordert den Zuhörer trotz ihrer Elaboriertheit nicht, weil sie ihm einen intuitiven Zugang ermöglicht. Originell gibt sich die Besetzung der Vokalpartien: Die drei Schwestern und Andreis Frau Natascha werden von Countertenören gesungen. Dies ist ein Moment der Verfremdung, das eine Abstrahierungen der gezeigten Schicksale aus ihrem Geschlechterrollenkontext bewirkt und zudem durchaus beabsichtigte Komik in sich birgt.
Das Orchester ist in zwei Gruppen aufgeteilt. Im Orchestergraben finden sich lediglich 18 Musiker. Ihre Soloinstrumente sind jeweils einer Figur zugeordnet, so die Holzbläser und Solostreicher einzelnen Familienmitgliedern, die Blechbläser den Soldaten und eine ganze Batterie von Schlaginstrumenten dem fiesen Hauptmann Soljony. Der Klang wird so sängerfreundlich transparent gehalten. Eine zweite, deutlich größer besetzte Orchestergruppe soll eigentlich hinter der Bühne Aufstellung finden. In Frankfurt hat man hierfür eine Empore gebaut, die sich über dem eigentlichen Bühnenbild erhebt. Dieses zweite Orchester sorgt in dramatischeren Momenten für größere Klangfülle.
Ray Chenez (Irina), David DQ Lee (Mascha), Mikołaj Trąbka (Andrei) und Dmitry Egorov (Olga)
Eötvös ist es insgesamt weniger um melodische oder motivische Arbeit gelegen als vielmehr um die raffinierte punktuelle Ausreizung von Klangfarben. Wie es sich für einen zeitgenössischen Komponisten gehört, spielen dabei Schlaginstrumente eine dominante Rolle. Die Partitur führt eine kaum überschaubare Fülle an Schlagwerk auf, neben Pauken, Becken und Triangeln auch Trommeln und Tomtoms in allen Größen, Templeblocks, Tamtams, Gongs, Röhrenglocken etc., und zeigt den Humor des Komponisten bei der Verwendung von rhythmisch klappernden Teetassen oder dem Einsatz von Kuhglocken (wenn der Zuhörer gerade den Eindruck gewonnen hat, was für eine dumme Kuh doch diese Natascha ist). Eine markante Klangfarbe steuert zudem ein elektronisch verstärktes Akkordeon bei, das zu Beginn jeder der drei Sequenzen zu hören ist.
Ausstatter Ashley Martin-Davis läßt das Stück in einer modernen Wohnküche spielen, in der auch ein paar Polstermöbel herumstehen. Zur Linken schließt sich ein Innenhof an, in dem sich ein Sandkasten und Klettergerüste befinden – Erinnerungen an eine glücklichere Kindheit. Die zweite Sequenz nach der Pause zeigt das gleiche Bühnenbild, jedoch an der Mittelachse gespiegelt. Dieser einfache Kniff macht die Änderung der Erzählperspektive auch optisch deutlich. Regisseurin Dorothea Kirschbaum bespielt diesen unspektakulären Raum mit einem darstellerisch hochengagierten Ensemble in traumwandlerischer Sicherheit. Jede Figur wird unaufdringlich, aber prägnant charakterisiert. Aktionen und Interaktionen befinden sich stets im Einklang mit der von der Musik vorgegebenen Erzählstruktur. Der inhärente Humor des Stückes wird dezent ausgespielt, ohne in Slapstick umzukippen. Die tragischen Momente werden ohne Pathos dargeboten und erreichen damit eine stille Eindringlichkeit. Sehr dezent kommen drei kurze Comicfilm-Einblendungen zum Einsatz, die in jeder der drei Sequenzen jeweils die unerfüllten Lebensträume der Protagonisten zeigen.
Die Sängerbesetzung läßt keine Wünsche offen. Die titelgebenden Schwestern sind mit drei Countertenören besetzt, die sich in ihrer Stimmfarbe gut voneinander abgrenzen und jeweils ausgezeichnet zur betreffenden Figur passen. So singt Ray Chenez die jüngste Schwester „Irina“ mit einem geradezu betörend schönen Mezzosopran, der sich in der ersten Sequenz regelrecht verströmen darf. Dimitry Egorov als älteste Schwester „Olga“ klingt dagegen herber und gereifter. David DQ Lee als „Mascha“ entspricht am ehesten dem von Countertenören erwarteten androgynen Klangbild, während man bei Chenez mit geschlossenen Augen nicht erraten würde, daß diese honigsüßen Töne von einem Mann stammen. Umso stärker wirkt der beabsichtigte Verfremdungseffekt, wenn die drei Sänger in den Sprechpassagen ihre natürliche, männliche Stimme gebrauchen. Wunderbar gelingt es Eric Jurenas, dem vierten Countertenor, die ordinäre „Natascha“ in ihrer Zickigkeit und Dominanz zu zeichnen. Alle vier sind von Kostümbildnerin Michaela Barth in jeweils charakteristische Frauenkleider gesteckt worden. Daß dies nicht zur Travestienummer gerät, ist keine geringe Leistung.
Mikołaj Trąbka (Andrei) und Orchester
Die männliche Hauptrolle des „Andrei“ ist mit Mikołaj Trąbka geradezu ideal besetzt. Er stellt optisch genau den schüchternen, jungenhaften Mann dar, der unter der Fuchtel seiner Frau steht. Umso erstaunlicher, ja geradezu überwältigend ist es dann, mit welch saftigem und kraftvollem Bariton er seinen großen Monolog in der zweiten Sequenz gestalten kann. Zuvor hatte bereits Barnaby Rea als „Soljony“ auf sich aufmerksam gemacht und dem Fiesling fast zu schöne Baßkantilenen spendiert. Als dritter Bariton zeigt schließlich Iain McNeil in der Rolle des von Mascha angehimmelten „Werschinin“, daß er mit seiner kernigen, gut durchgeformten Stimme dem Opernstudio eigentlich längst entwachsen ist. Aus der übrigen Besetzung sind noch hervorzuheben Mark Milhofer, der den „Doktor“ mit hellem, scharf konturiertem Tenor Profil verleiht, Thomas Faulkner als sonor-steifer Schulmeister „Kulygin“ sowie Alfred Reiter, der mit wenigen grummelnden Tönen als senile Dienerin „Anfisa“ seine Buffo-Qualitäten ausspielen kann.
Das Ensemble der Instrumentalsolisten im Orchestergraben wird von Dennis Russel Davies mit überlegener Souveränität mit dem Bühnengeschehen verzahnt. Die Koordination mit dem Bühnenorchester unter Nikolai Petersen gelingt bruchlos.
Der Oper Frankfurt ist eine mustergültige Aufführung gelungen, die in souveräner Selbstverständlichkeit den Rang dieses herausragenden Beitrags zum zeitgenössischen Musiktheater unterstreicht.
Am Ende nimmt ein glücklicher Komponist gemeinsam mit dem Ensemble den für alle Beteiligten ungeteilten und kräftigen Applaus entgegen.
Weitere Vorstellungen gibt es am 12., 14., 20., 23. und 30. September sowie am 3. Oktober.
Michael Demel, 10. September 2018
Bilder © Monika Rittershaus