Frankfurt: „Die lustige Witwe“, Franz Lehár

Premiere am 13. Mai 2018

Hanna Glawari auf Naxos

Am Ende ist es dann doch eine große Operettensause geworden. Danach hatte es zunächst nicht ausgesehen. Wenn Regisseur Claus Guth inszeniert, darf niemand erwarten, daß einfach nur die Handlung bebildert wird. Ohne doppelten Boden, ohne weitere Deutungsebenen geht es bei ihm nicht. Da Guth aber, wie er als Gast bei der Spielzeitpressekonferenz verraten hatte, Geschmack am Operettenhumor gefunden hat und die Qualitäten gerade der „Lustigen Witwe“ besonders schätzt, hat er sich einen Trick ausgedacht: Er bedient lustvoll sämtliche Klischees von falscher Folklore über schmissige Tanzeinlagen bis zu schenkelklopfender Komik samt Slapstick und dreht insbesondere die Klamaukschraube noch ein paar Windungen weiter. Aber er stellt durch eine Rahmenhandlung eine Fallhöhe her, die Tiefgang erlaubt und der Operettensüße gerade soviel Bitterkeit beimischt, daß sie die Intelligenz der Zuschauer nicht beleidigt, ohne ihnen den Spaß zu verderben. Die Methode dazu ist nicht völlig neu und bei zahlreichen anderen Stücken bereits erfolgreich erprobt worden: Man stellt das eigentliche Stück als Handlung in der Handlung vor und läßt die Darsteller in der Rolle von „Darstellern“ gleichsam aus dem Rahmen treten. Man mag dabei zunächst an Cole Porters „Kiss me, Kate“ denken.

Bei näherem Hinsehen erweist sich Guths „Witwe“ aber als Verwandte der „Ariadne auf Naxos“. Hier wie da wird das Porträt einer verlassenen Frau präsentiert. Die „wüste Insel“ der Ariadne ist für die Darstellerin der „Witwe“ die Garderobe, in der ein aufdringlich lärmendes Metronom ihre trostlose Einsamkeit vermißt. Wie bei Hoffmannsthal-Strauss in einem Vorspiel als Rahmen für die eigentliche Oper die Protagonisten als Darsteller und kapriziöse Opernsänger präsentiert werden und diese erste Ebene schließlich mit der zweiten Ebene der Opernaufführung verschmilzt, so daß am Ende nicht einmal mehr die Darsteller wissen, ob die Stimmungen und Gefühle ihrer Figuren nicht doch ihre eigenen sind, so hat sich Guth ein Filmset für den Dreh der Operette ausgedacht, bei dem die Schauspieler mit den von ihnen dargestellten Figuren verschwimmen. Den gesamten ersten Akt bis zur Pause läßt sich Guth damit Zeit, diese Idee auszubreiten. Er verweigert zunächst die Ouvertüre, sondern zeigt Marlis Petersen in der Titelrolle, wie sie in ihrer Garderobe gelangweilt Einsingübungen vollführt. Man erfährt, daß die Sängerin mit dem männlichen Hauptdarsteller Iurii Samoilov eine vergangene Beziehung verbindet, der die Petersen noch immer nachtrauert, während Samoilov die Erinnerung mit Alkohol und leichten Mädchen zu vertreiben sucht. Die beiden sprechen sich immer wieder als „Marlis“ und „Iurii“ an, um dann unvermittelt zu „Hanna Glawari“ und „Graf Danilo Danilowitsch“ zu werden. Dabei werden dann wie nebenbei die ersten Operettenschlager abgearbeitet, so daß etwa das berühmte „Heut geh‘ ich ins Maxim“ in der Künstlergarderobe erklingt. Man wechselt von Garderobe zu Filmkulisse, chargiert in die Filmkameras hinein, tritt dann wieder aus den Kulissen heraus und mimt den Mimen. So entsteht ein zunächst etwas anstrengendes Stop-and-Go. Kaum ist mal eine Operettennummer in Gang geraten, unterbricht ein Regisseur-Darsteller („Studiolicht!“) und reißt den Zuschauer aus der schwelgenden Gemütlichkeit. Das zieht sich mitunter. Die Kritik daran hat Claus Guth gleich mitinszeniert, indem er den Regisseur-Darsteller (großartig mit blasiertem Wiener Akzent:

Klaus Harderer) ausrufen läßt: „Das ist hier nicht ‚Die Entdeckung der Langsamkeit‘, sondern ‚Die lustige Witwe!‘“ Schöner hätten wir es nicht sagen können, und so gehen wir gut unterhalten, aber nicht restlos überzeugt in die Pause.

Danach aber fackelt der Regisseur ein wahres Feuerwerk ab. Der erste Aufzug diente lediglich als notwendige Exposition, um nun die fein herausgearbeiteten und deutlich präsentierten Stränge kunstvoll zu verweben und durcheinander zu wirbeln, daß es eine Freude ist. Zu sehen sind von Ramses Sigl schwungvoll choreographierte Tanzszenen, deren Schmiß und genau an der Musik orientierte Präzision Claus Guth in seiner lebendigen Personenregie fortführt. Zu sehen ist das perfekte Timing, welches Komödien benötigen, und das so schwer zu verwirklichen ist. Zu sehen sind aber auch fein dosierte tragikomische Momente, die noch nachhallen, wenn der überdrehte Operettentrubel verklungen ist. Da ist zum Beispiel der schöne Einfall, im ersten Aufzug einen Klavierbegleiter (Mariusz Klubczuk) auftreten zu lassen, der mit der Operndiva deren Partie einstudiert. Man sieht ihn später schüchtern zwischen den Kulissen herumstehen. Er hält eine rote Rose in der Hand, die er der heimlich von ihm verehrten Hauptdarstellerin überreichen will. Beinahe hätte man ihn übersehen. Zum kleinen Theatercoup wird später seine unerwartete stille Solonummer während des Vorspiels zum letzten Akt. Da tritt er vor den heruntergelassenen Zwischenvorhang, hält wieder eine einzelne rote Rose in der Hand und übt deren Übergabe. Dann geht er ab, um gleich wieder an der selben Stelle zu erscheinen, dieses Mal mit einem kleinen Rosenstrauß. Wieder verschwindet er unverrichteter Dinge, noch einmal kehrt er zurück, und nun trägt er einen üppigeren Rosenstrauß vor sich her. Die kleine heiter-melancholische Caprice von unerfüllter Sehnsucht findet am Ende ihre große tragische Entsprechung. Nach dem vor den Filmkameras zelebrierten Operetten-Happy-End glaubt Hanna/Marlis, nun auch ihre Beziehung zum Darsteller des „Danilo“ glücklich wiederhergestellt zu haben. „Iurii!“, schmachtet sie ihn mit seinem tatsächlichen Namen an. Er aber antwortet mit „Hanna“. Ein Operetten-Ende gibt es nur im Film. Die Sehnsucht von „Marlis“ bleibt unerfüllt.

Marlis Petersen (Hanna Glawari) und Iurii Samoilov (Graf Danilo)

Die musikalische Umsetzung verbindet sich perfekt mit der ambitionierten Regie. Joana Mallwitz animiert das Opernorchester zu Schmelz und Präzision, läßt die Tanzrhythmen luftig und – wo nötig – knackig schwingen und bereitet den Sängern für die beiden musikalischen Höhepunkte des Abends einen wunderbar zart gewebten Teppich. So gelingt Marlis Petersen und Iurii Samoilov das unverhoffte Kunststück, das Duett „Lippen schweigen“ mit zarter Innigkeit von süßlichem Kitsch zu befreien, so daß man es ohne Peinlichkeit genießen kann. Noch stärker aber wirkt das „Vilja-Lied“, bei dem die Dirigentin Tempo und Lautstärke zurücknimmt und Marlis Petersen melancholische Silberfäden spinnt. Das Publikum lauscht mit angehaltenem Atem.

Überhaupt bleiben vokal und darstellerisch keine Wünsche offen. Neben der außerordentlichen Petersen erweist sich Iurii Samoilov als Idealbesetzung für den Danilo. Er verfügt über einen jugendlich-saftigen Bariton mit geradezu tenoral-cremiger Höhe. Sogar sein slawischer Akzent (er ist gebürtiger Ukrainer) paßt perfekt zur Rolle eines Diplomaten aus einem Balkanstaat. Barnaby Rea kann als „Baron Zeta“ sein komödiantisches Talent einmal mehr unter Beweis stellen. Martin Mitterrutzner ist mit schmelzendem Tenor ein fabelhafter „Rosillon“. Besonders muß man die Leistung von Elisabeth Reiter bewundern. Sie ist kurzfristig in der Rolle der „Valencienne“ eingesprungen, zeigt jedoch keinerlei Unsicherheiten und belebt die Szene mit ihrem spritzigen Sopran und ansteckender Spiellaune. Die übrigen Rollen sind aus dem Ensemble tadellos besetzt. Der von Tilman Michael in gewohnter Güte präparierte Chor bewältigt auch seine choreographischen Aufgaben mit Hingabe.

Bühnenbildner Christian Schmidt nutzt die große Frankfurter Drehbühne, um gleich drei unterschiedliche Spielorte in geschmeidigen Übergängen zu präsentieren. Künstlergarderoben, Ballsaal und Außenfassade des Filmstudios stehen nebst Kulissenzwischenräumen zur Verfügung und werden von Olaf Winter punktgenau in das passende Licht gesetzt.

Ein kritisches Wort muß hier noch zur Akustik gesagt werden. Zwar hat die Oper Frankfurt endlich eingesehen, daß Sprechtexte in den Weiten ihres Zuschauerraumes untergehen, und hat die Darsteller mit kleinen Mikrophonen zur elektronischen Verstärkung der Sprechpassagen (nicht des Gesanges) ausgestattet. Jedoch erweist sich die Qualität der Lautsprecher einmal mehr als unbefriedigend. Unnatürlich klingt das, leicht blechern und leider ohne hinreichend gute Trennschärfe. Immerhin gehen so die Pointen nicht völlig verloren, und irgendwann im Laufe des Abends hat man sich schließlich daran gewöhnt. Die Gesangstexte jedoch bleiben zu einem großen Teil unverständlich, und das liegt offenbar nicht am mangelhaften Artikulationswillen der Sänger, sondern wieder einmal daran, daß die Kulissen zwar prima aussehen, aber nach oben offen sind und jedenfalls in den Ballsaalszenen eine zu große räumliche Tiefe ohne ausreichende Reflexionsflächen aufweisen. Gut, daß es Übertitel gibt.

Insgesamt: Die neue Frankfurter Operettenproduktion ist klug ausgetüftelt, lebendig inszeniert und üppig ausgestattet. Da nicht zuletzt hinreißend musiziert wird, endet diese Premiere in begeistertem, ungebrochenem Applaus für alle Beteiligten.

Michael Demel, 16. Mai 2018

Bilder (c) Monika Rittershaus

PS

Eine vorzügliche Audio-Einführung der Frankfurter Opern-Dramaturgie ist online verfügbar. Weitere Vorstellungen gibt es am 18., 20. und 27. Mai sowie am 3., 13., 16., 22. und 25. Juni.