Frankfurt: „Tristan und Isolde“, Richard Wagner

Bericht von der Premiere am 19. Januar 2020

Symphonische Dichtung mit Singstimmen und Neonröhren

Es ist wie so oft bei Tristan-Aufführungen: das Orchester dominiert den Gesamteindruck. Nach tastendem Beginn stellt sich schnell der typische Frankfurter Weigle-Sound ein: klar, stark, unsentimental. Ein satter Streicherklang ohne Larmoyanz bildet die Basis, vorzügliche Holzbläser mischen sich im Tutti ideal und überzeugen in den Solostellen. Das Blech tönt voll, ohne je zu dröhnen. Sebastian Weigle gestattet seinen Musikern kein traumverlorenes Schwelgen, hält die Zügel bei aller Flexibilität in Tempo und Dynamik straff in der Hand. Zu hören ist eine große symphonische Erzählung mit viel Sinn für Wagners Klangfarben. Hellhörig arbeiten die Musiker Details heraus, die sonst allzu oft im großen Rausch untergehen. Nur ein Beispiel: Wenn zu Beginn des zweiten Aufzugs die Hörnerrufe des Fernorchesters nahtlos von den Holzbläsern übernommen werden, gelingt Weigle mit seinen Musikern in wunderbarer Perfektion ein Effekt des organischen Umfärbens, den man so selbst aus den geglücktesten Einspielungen nicht kennt. Man hört geradezu mit Isoldes Ohren, wenn sie dazu singt: „Nicht Hörnerschall tönt so hold, des Quelles sanft rieselnde Welle rauscht so wonnig daher.“ Dabei verliert Weigle aber die Gesamtdisposition nie aus dem Blick. Die Partitur wird hier nicht zum Anlaß eines rauschhaften Klangexzesses genutzt, sondern in ihrer Komplexität und ihrer melancholischen Schönheit ausgeleuchtet.

Rachel Nicholls (Isolde) und Vincent Wolfsteiner (Tristan)

Gegen die Kraft dieser Musik haben es Bühnenbilder immer schwer. Johannes Leiacker nimmt sich bis an die Grenze der Bildverweigerung zurück. Alle drei Akte läßt er in einem hohen, weißen und vollständig schmucklosen Raum spielen, der lediglich auf halber Höhe von einem Fries aus Neonröhren umsäumt wird. Im ersten Akt läßt er darin an dünnen Drahtseilen eine schwarze Plattform herab, welche Isolde als Floß in einer kalten Umwelt dient. Der Kahn, mit dem Tristan einst schwer verwundet zu ihr gefahren kam, um durch ihre Zauberkünste geheilt zu werden, steht als einziges konkret zuordbares Erinnerungszeichen am Rande des abstrakten Gebildes.

Der zweite Aufzug präsentiert die Plattform dann in der Bühnenmitte aufrecht stehend. Sie erinnert in dieser Form ein wenig an den Monolithen aus Kubricks 2001: A Space Odyssee, nur daß ihm hier die geheimnisvolle Aura fehlt, und er schlicht als Raumteiler dient.

Der dritte Aufzug schließlich präsentiert in der Bühnenmitte aufeinander liegende schwarze Trümmerplatten, vor denen der Kahn aus dem ersten Aufzug angedockt hat. Dies ist der stärkste Bildeindruck des Abends. Und es ist der zugleich am wenigsten originelle, wird doch damit auf das allzu oft zitierte Bild Das Eismeer von Caspar David Friedrich angespielt, dessen volkstümliche Bekanntheit als Gescheiterte Hoffnung hier geradezu klischeehaft deutlich in Erinnerung gerufen wird.

Vincent Wolfsteiner (Tristan), Christoph Pohl (Kurwenal) und Romain Curt (Englischhorn)

Auch für die Regie bleibt nur wenig zu tun. Obgleich der Komponist sein Werk als „Handlung“ bezeichnet hat, wird über weite Strecken von den Protagonisten überhaupt nicht gehandelt. Regisseurin Katharina Thoma beschränkt sich im ersten Aufzug zunächst darauf, ihre Protagonisten dezent zu charakterisieren. Dabei kann man in homöopathischen Dosen sogar so etwas wie eine weibliche Regiehandschrift erkennen: Wenn Isolde etwa in wörtlicher Rede Tristan zitiert, wird dies zur gestischen Parodie männlicher Breitbeinigkeit, samt machohaftem Griff in den Schritt. Die Liebestrank-Szene gerät ein wenig albern zur saufseligen Whiskey-Probe. Im zweiten Aufzug vertraut die Regisseurin ganz der Musik und läßt das Liebespaar um den sich langsam drehenden Monolithen herumschleichen.

Im dritten Aufzug immerhin hat sich Katharina Thoma dann doch verpflichtet gefühlt, noch so etwas wie eine Deutung nachzuliefern. Sie läßt Tristans Eltern als schwarze, gesichtslose Schatten auftreten. In Pressegesprächen vor der Premiere hat die Regisseurin dazu bemerkt, daß sie bei Tristan eine Bindungsunfähigkeit entdeckt habe, die aus einer frühkindlichen Traumatisierung, bedingt durch den Verlust beider Eltern, herrühre. Das wolle sie zeigen. Sie zeigt es aber nicht. Wer den gedanklichen Überbau nicht kennt, der mag wohl erraten können, daß die stumme Frau in Schwarz Tristans Mutter ist. Inwiefern sie auf seine Psyche eingewirkt haben mag, kann man der Szene jedoch nicht entnehmen. So dient die Hinzufügung nur einer Unterstreichung des Textes, in dem Tristan beklagt, daß die Mutter bei seiner Geburt verstarb. Drastisch dagegen wird Tristans Todessehnsucht illustriert. Er reißt sich vor Isoldes Ankunft nicht bloß librettogerecht den Verband von der Wunde, sondern sticht mit einem Dolch erneut hinein.

Claudia Mahnke (Brangäne) und Rachel Nicholls (Isolde)

In diesem dritten Aufzug erweist sich nun, daß Vincent Wolfsteiner der Monsterpartie des Tristan vollauf gewachsen ist. Vom Stimmtimbre ist er eher ein Charaktertenor als ein Heldentenor. Er kann einen kopfresonanzbetonten, hellen Klang aber zu kraftvoller Lautstärke führen, mit der er mühelos noch die brausendsten Orchesterwogen durchdringt. Auch verfügt er über eine bombensichere Höhe, allerdings um den Preis einer glanzlosen Mittel- und Tiefenlage. Das alles ist bekannt. Mit welchen Kraftreserven Wolfsteiner aber im Schlußteil aufwarten kann, das nötigt Respekt ab. Bis zum letzten Ton kann er mit musikalischen Mitteln differenziert und leidenschaftlich gestalten, wo andere ausgebrannt mit letzter Mühe die Ziellinie erreichen.

Daß Rachel Nicholls als Isolde beim Schlußapplaus einige saftige Buhs kassieren würde, konnte man ahnen. Gerade der abschließende Liebestod hatte die Schwächen ihrer Stimme gnadenlos bloßgelegt: zu hell und zu schlank für das hochdramatische Fach, durch zu großen Druck mitunter hart, fahl in der Mittellage, bei einigen Spitzentönen sogar regelrecht schrill. Hier hat sich wieder einmal ein Sopran mit lyrischer Grundanlage am schweren Fach vergriffen und betreibt seit Jahren Raubbau an den eigenen stimmlichen Ressourcen. Natürlich sind die Buhrufe im Hinblick auf ihre Gesamtleistung unfair. Gerade in den beiden ersten Aufzügen hatte sie gestalterische Intelligenz gezeigt. Aber der Liebestod ist nun einmal eine Wunschkonzertnummer, die jeder Opernliebhaber in exemplarischen Tonträgerversionen mit Ausnahmesängerinnen (die Flagstad, die Nilson, die Norman, die Price!) im Gedächtnis abgespeichert hat. Da wird kein Pardon gegeben.

oben: Rachel Nicholls (Isolde) und Vincent Wolfsteiner (Tristan), unter dem Podest: Claudia Mahnke (Brangäne; vorne links) und Christoph Pohl (vorne rechts) mit Herrenchor sowie Andreas Bauer Kanabas (König Marke; am rechten Bildrand)

Und weil man es hatte kommen sehen, hatte man sich für einen kurzen Moment gewünscht, daß die wunderbare Claudia Mahnke als Brangäne nach ihren letzten Worten an Isolde einfach mild und leise weitersingt, ihre warme Stimme so fluten und leuchten läßt, wie zuvor in ihrem Wachgesang im zweiten Aufzug. Waren nicht viele große Isolden der Vergangenheit von Martha Mödl bis Waltraud Meier ebenfalls Mezzosoprane? Die Mahnke war bislang klug genug, ihre Grenzen nicht auszuloten. Und so ist sie nun in Frankfurt wie zuletzt in Köln als exemplarische Brangäne zu hören: mit stabiler Mittellage, üppigem, aber gut kontrolliertem Vibrato und einer sicheren, attraktiven Höhe. Dazu kommt eine ausgezeichnete Textverständlichkeit. In dieser Rolle bewegt sich das Frankfurter Ensemblemitglied im internationalen Spitzenfeld.

Dort ist jetzt auch Andreas Bauer Kanabas mit seinem Marke angekommen. Sein sonorer Baß hat zuletzt an Volumen gewonnen, ohne an Differenzierungsmöglichkeiten zu verlieren. Selten hat man dem überlangen Klagegesang des gehörnten Königs am Ende des zweiten Aufzugs so gebannt zugehört.

Christoph Pohl als Gastsänger gibt mit kernigem Bariton einen soliden, aber recht eindimensionalen Kurwenal. Iain MacNeil läßt ihn als Melot mit seinen wenigen Tönen im Vergleich blaß aussehen. Michael Porter als Seemann muß aufpassen, daß er seinen lyrischen Tenor nicht mit zu großem Kraftaufwand zu künstlicher und ungesunder Größe aufbläht. Einen tadellosen Eindruck macht das Opernstudiomitglied Tianji Lin mit leichtem und elegantem Tenor als Hirte.

Sein makelloses und ergreifendes Englischhornsolo darf Romain Curt auf offener Bühne präsentieren.

Insgesamt war es ein guter, aber kein großer Abend, der sich insbesondere wegen der profilierten Orchesterleistung, einer außerordentlichen Brangäne und einem herausragenden Marke gelohnt hat. Die unspektakuläre szenische Umsetzung vermag jedoch nicht zu begründen, warum man ihretwegen die bewährte Regiearbeit von Christof Nel absetzen mußte.

Michael Demel, 20. Januar 2020

Bilder: Barbara Aumüller