Graz: „Tosca“

Hohes musikalisches Niveau!

(1. Vorstellung der Wiederaufnahme einer Produktion aus der Saison 2014/15)

Die letzten Auslastungszahlen der Oper Graz, die die Theaterholding öffentlich gemacht hatte, stammen aus der Spielzeit 2016/17 – da besuchten rund 173.000 Gäste 296 Vorstellungen im knapp 1400 Plätze fassenden Opernhaus. Dazu ein interessanter Vergleich: Die Staatsoper Berlin hat etwa gleichviel Plätze und hatte laut einer Pressemeldung rund 235 000 Besucherinnen und Besucher in rund 300 Vorstellungen. Da sind also die Zahlen von Graz im Verhältnis zum renommierten und rund zwölfmal so großen Berlin durchaus beachtlich. Dennoch muss man natürlich ständig daran arbeiten, dass das Publikum das für die 300.000-Einwohner-Stadt Graz sehr große Opernhaus füllt. Und so ist es eine kluge Programmentscheidung, wenn die Intendantin Nora Schmid, die gerade erst in einer Pressekonferenz den interessanten Spielplan für die Saison-2019/20 vorgestellt hatte, zum Ende der laufenden Spielzeit den Publikumshit Tosca aus dem Fundus ihrer Vorgängerin, der nunmehrigen Bregenz-Intendantin Elisabeth Sobotka, hervorholt. In der Ankündigung heißt es dazu:

In der Wiederaufnahme der letzten Grazer Neuproduktion von 2014 sind alle drei Hauptpartien neu besetzt und Opernenthusiasten können sich auf drei Künstler freuen, die allesamt zum ersten Mal auf der Grazer Opernbühne zu erleben sind: die niederländische Sopranistin Annemarie Kremer, die in Österreich zuletzt in Linz als Isolde beeindruckt hat. Aus Armenien stammt Tenor Migran Agadzhanyan, der beim letztjährigen „Operalia“-Wettbewerb den zweiten Preis ersungen hat und dessen Karriere spannende Engagements wie Maurizio („Adriana Lecouvreur“) beim Festival in Baden-Baden, Don Carlo, Edgardo („Lucia di Lammermoor“) und Rodolfo („La Bohème“) in Sankt Petersburg am Mariinski-Theater, Prinz Juri („Die Zauberin“) in Lyon, Pinkerton („Madame Butterfly“) in Berlin und Stockholm und demnächst Don José („Carmen“) in Macerata beinhaltet. Als Scarpia ist der Bariton Jordan Shanahan zu Gast. Er stammt aus Hawaii, hat Posaune, Komposition und Gesang studiert und verfügt über ein Repertoire, das mittlerweile mehr als sechzig Partien umfasst, wie beispielsweise Don Giovanni, Rigoletto, Escamillo, Eugen Onegin, Telramund, und die Titelpartie in Wagners „Der fliegende Holländer“. Regisseur Alexander Schulin und Bühnenbildner Alfred Peter übertragen die genau definierten Schauplätze in eine optische Umsetzung, die die goldene Pracht des sakralen Raums ebenso zeigt wie die klaustrophobische Enge des Arbeitszimmers des Polizeichefs. In sämtlichen Hauptpartien neu besetzt, kehrt „Tosca“ unter der Leitung von Chefdirigentin Oksana Lyniv zurück auf den Spielplan der Oper Graz.

Es wurde ein musikalisch großartiger Abend, der im sehr gut ausgelasteten Haus vom erfreulich jungen Publikum am Ende zu Recht sehr akklamiert wurde. Der Erfolg jeder Tosca-Aufführung steht und fällt – unabhängig von allen Regiekonzepten – mit der Besetzung der drei Hauptfiguren und da ist Graz unbestreitbar ein Volltreffer gelungen! So seien sie in der Reihenfolge ihres Auftretens gleich zu Beginn gewürdigt:

Der armenische Tenor Migran Agadzhanyan ist erst 27 Jahre alt und hat schon beträchtliche Erfahrung auf internationalen Bühnen. Den Cavaradossi hatte er im Vorjahr mit viel Erfolg bereits in Parma gesungen. Von Beginn an freute man sich an seinem – vielleicht noch etwas eindimensionalen – stimmlichen Prachtmaterial mit bombensicheren Höhen. Die beiden exponierten Ausbrüche im ersten und im zweiten Akt gelangen makellos und ohne zu forcieren. Für Stimmfetischisten ist es vergnüglich, diese beiden Stellen von den Großen der Vergangenheit auf youtube hintereinander vergleichend anzuhören: La-vita-mi-costasse und Vittoria . Im ersten Akt gelangen Agadzhanyan auch schöne lyrische Phrasen. Im dritten Akt schien er mir nicht so konzentriert, und die hervorragend auf die Sänger achtende Dirigentin Oksana Lyniv hat da manche rhythmische Unebenheit souverän abgefangen. Der junge Mann wird jedenfalls seinen Weg auf den großen Bühnen machen.

Die holländische Sopranistin Annemarie Kremer hat ihren Weg auf die großen Bühnen bereits geschafft. Man hört und sieht ihre große gestalterische Erfahrung. Vor allem im 2. und 3. Akt bietet sie eine makellose stimmliche und darstellerische Leistung – die warm timbrierte, immer zentriert geführte Stimme spannt große Bögen mühelos und neigt auch bei den Spitzentönen nie zu Schärfe. Für sie gab es als einzige nach Vissi d’arte verdienten Szenenapplaus. Eine kleine Anmerkung und Einschränkung sei dennoch gestattet: die tiefere Mittellage ist ein wenig substanzarm und hatte es nicht immer ganz leicht, sich gegen das Orchester und den Tenorpartner durchzusetzen. Aber nochmals: das war eine große und berührende Leistung! Der dritte im Bunde war der aus Hawaii stammende Bariton Jordan Shanahanauch er trotz relativer Jugend schon vielfach international erfolgreich und kein Rollendebutant. Er verfügt über einen kernigen, dunkel timbrierten Bariton, der sich auch gegen Chor und Orchester im Tedeum durchzusetzen weiß und der im zweiten Akt seinen Part stimmlich souverän gestaltete – sehr schön seine lyrischen Passagen und eindrucksvoll die metallischen Spitzentöne. Wenn man diese Stimme hört, dann versteht man, dass ihn die Deutsche Oper am Rhein zum Rollendebut als Holländer eingeladen hat. Im Spiel bleibt er im konventionellen, aber durchaus intensiven Rahmen.

Die Nebenrollen sind mit den erprobten Ensemblestützen David McShane (Mesner), Martin Fournier (Spoletta) und Konstantin Sfiris (Sciarrone und Schließer) bestens besetzt. Dazu kamen neu der junge Russe Dimitrii Lebamba mit sonorem Bass als Angelotti (als Großinquisitor im Don Carlos, der die nächste Spielzeit eröffnen wird, kann man sich den jungen Mann noch nicht so recht vorstellen) und Aleksandra Todorovic als Hirt. Chor&Singschul‘ der Oper Graz (Bernhard Schneider und Andrea Fournier) machten ihre Sache verlässlich und gut. Den Grazer Philharmonikern und vor allem ihrer Chefdirigentin Oksana Lyniv gebührt diesmal ein besonderes Lob. Da erlebte man auch im Orchester prächtiges italienisches Musiktheater. Oksana Lyniv dirigierte ungemein konzentriert, stets mit den Solisten mitatmend, holte aus den schön spielenden Holzbläsern zarte und durchsichtige Klangfarben heraus, wählte für die großen lyrischen Momente breit ausladende, aber nie schleppende Tempi und wechselte bruchlos zu den dramatisch zugespitzten, mächtigen Orchesterausbrüchen, ohne dabei jemals die Solisten zuzudecken. Oksana Lyniv widerlegte mit ihrer Interpretation eindrucksvoll und überzeugend das oft zitierte und drastische Verdikt von Richard Strauss, Giacomo Puccinis Tosca sei notorischer Kitsch schlechter Sorte.

Und zuletzt muss noch ein Mann ausdrücklich vor den Vorhang geholt werden, der sich am Ende mit den Ausführenden nicht dem Publikum zeigte: Christian Thausing. Er arbeitet an der Oper Graz seit vielen Jahren als Regieassistent, wird fallweise mit kleineren selbstständigen Regieaufgaben betraut und hatte diesmal die „Szenische Einstudierung“ des Abends übernommen – „nach einer Inszenierung von Alexander Schulin“. Er hat die verkrampft originell sein wollende Inszenierung (Zitat aus einer Printmedium-Kritik der ursprünglichen Premiere des Jahres 2014) von den ärgsten Peinlichkeiten befreit und im Rahmen des Möglichen eine plausible, handwerklich saubere Fassung erstellt. Einige Punkte der ursprünglichen Inszenierung, die nun weggefallen sind, seien dankbar und erleichtert aufgezählt: der Mesner leidet nicht mehr unter permanenten spastischen Zuckungen; im 3. Akt treten die Akteure nicht mehr rückwärtsgehend auf; die Videoprojektion mit Toscas halbstündigem Todessprung (Zitat aus einer Premierenkritik) ist zwar erhalten, aber nur mehr sehr blass und andeutend sichtbar; Tosca springt am Ende nicht mehr von Scarpias Schreibtisch ins Nichts, sondern steht mit erhobenen Armen in der Bühnenmitte – gleichsam ein verklärter Liebestod. Christian Thausing ist das Kunststück gelungen, das Grundkonzept des Regisseurs zu erhalten, wonach der 3.Akt ein surreales Traumgeschehen ist – und dies handwerklich wesentlich überzeugender zu gestalten. Das ist die Leistung eines Praktikers im Opernalltag, die es verdient, gebührend gewürdigt zu werden. Nun ist das – zumindest ein wenig – repariert, was die renommierte österreichische Tageszeitung Die Presse in ihrer Kritik vom Oktober 2014 abschließend so beschrieben hatte: Keine Engelsburg, kein römisches Morgengrauen, nichts, Kirche und Scarpia-Zimmer verschachtelten sich zum Schluss-Tableau ineinander. Das stört zwar nicht empfindlich, bringt aber weder neue Facetten noch eine Verdeutlichung der Handlung. Schade.

Es ist jedenfalls sehr zu danken, dass ein publikumswirksames Stück wie Puccinis Tosca in einer musikalisch ausgezeichneten Besetzung nun wieder in Graz zu erleben ist.

Hermann Becke, 18. 5. 2019

Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch

Hinweise:


Trailer der Inszenierung – allerdings in der Besetzung des Jahres 2014


5 weitere Vorstellungen bis Juni – aus musikalischen Gründen: unbedingt hingehen!


Es lohnt sich, das reichhaltige Programmbuch für die Saison 2019/20 durchzuschauen – Oper: 5 Premieren und 1 Wiederaufnahme, Kurzopern: 2 Premieren, Operette/Musical: 2 Premieren und 1 WA, Ballett: 4 Premieren – Zusammengefasste Informationen darüber gibt es hier