Lüttich: „Turandot“

Lieber Opernfreund-Freund,

Puccinis unvollendet gebliebene „Turandot“ wird derzeit in Lüttich gezeigt – und zwar als das Fragment, als das der Komponist sie bei seinem Tod hinterlassen hat. Der heute meist gekürzt widergegebenen Komplettierung des Werkes durch seinen Schüler Franco Alfano wird oft angelastet, dass sie nicht alle Anweisungen aus den Skizzen Puccinis sklavisch umsetzt. Das alternative Ende, das Luciano Berio 2002 komponierte, gestaltet zwar die Kussszene gemäß Puccinis Angaben musikalisch ausführlich und setzt zum vermeintlichen Happy End ein musikalisches Fragezeichen, konnte sich allerdings auf den Bühnen nie so richtig durchsetzen. Deshalb ist vielleicht das klügste, was man mit diesem Werk machen kann, es als Fragment zu belassen. Schließlich rang Puccini selbst sehr mit der Wandlung der eiskalten Prinzessin hin zur liebenden Frau, so dass seine Musik mit dem Tod Liùs endet. Außerdem wertet diese Version die Rolle der Sklavin auf, die Puccini als Gegenpol zur unnahbaren Prinzessin ersann, und stellt sie in ihrer Bedeutung mit der Titelfigur auf eine Stufe.

Überhaupt fällt José Cura, der neben der Interpretation des Calaf in dieser Produktion auch Regie und die Gestaltung der Bühne übernommen hat, so einiges kluges ein zu diesem Werk. Turandot selbst als Henkerin zu zeigen, macht sie viel stärker zur Täterin; Puccini selbst am Schluss neben der toten Liù umgeben von all seinen Schöpfungen sterben zu lassen, verschafft dem Publikum Gänsehaut und zeigt auf beeindruckende Weise nicht nur das Ende der Oper, sondern auch das des Komponisten und damit seiner Komposition. Die Minister Ping, Pang und Pong steckt er über weite Strecken in die Kostüme von Harlekin und Co. aus Commedia dell’Arte (die liebevoll-detailreiche garbeitet sind von Fernand Ruiz) und schafft so den Schulterschluss zu Carlo Gozzi, berühmtem Verfechter der Commedia dell’Arte und gleichzeitig Schöpfer der literarischen Vorlage zur „Turandot“. So gelingt es dem Argentinier, obwohl er nur das Fragment zeigt, doch die ganze Geschichte um und über „Turandot“ zu erzählen.

Und doch will er bisweilen zu viel. Über die schlüssige Lesart dann noch eine Rahmenhandlung zu stülpen, in der eine Schulklasse (dargestellt vom hervorragend singenden und von Véronique Tollet einstudierten Kinderchor) im Rahmen eines Projektes Turandots Geschichte erzählt, ist ebenso überflüssig wie die groben und allzu plakativen, teilweise an eine Dorfdisco erinnernden Lichteffekte von Olivier Wéry oder die omnipräsenten amazonenhaften Ninjakämpferinnen (die zudem aus Japan kommen und deshalb in Peking wenig zu suchen haben). Die allgegenwärtige Schulklasse verengt mit den käfigartigen Bühnenaufbauten zudem den Bühnenraum dermaßen, dass es nicht zu wirklicher Bewegung und Interaktion kommt und so die Geschichte recht statisch erzählt wird. Dennoch ist dem Multitalent Cura ein sehenswerter Puccini-Abend gelungen, der sich darüber hinaus auch durchaus hören lassen kann.

Paolo Arrivabeni schlägt mitunter recht gemessene Tempi an und gibt der vielschichtigen Partitur so die Möglichkeit, sich ausgiebig zu entfalten, allerdings bleibt so das Feuer, das die Musik an mehr als einer Stelle eigentlich auszeichnet, da und dort dann eher ein Flämmchen. Außerdem lässt er die Auftrittsarie der Turandot „In questa Reggia“ so fast zum Trauermarsch verkommene und bringt Tiziana Caruso damit an den Rand ihrer konditionellen Möglichkeiten, die mit Mühe, Not und viel Druck die Töne gerade so lange gehalten kriegt, dass ihr eben nicht die Luft weg bleibt. Das ist schade, verfügt die gebürtige Italienierin doch über eine nuancenreiche, kraftvolle Stimme. Zwar hat die an diesem Abend absolut nichts Kaltes und Unnahbares, sondern klingt eher warm und seelenvoll, überzeugt aber so vor allem am Ende des zweiten und im dritten Akt. José Cura in der Rolle des Calaf meistert diesen Puccini mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Das „Nessun dorma“ singt er ohne legliche Anstrengung und überzeugt darüber hinaus fast noch mehr in den eher leisen Passagen seiner Partie. Star des Abends (neben dem Weltstar) ist die junge

Heather Engebretson als bedauernswerte Sklavin Liù. Sie stattet die Rolle mit dermaßen viel Seele aus, dass es eine wahre Freude ist.

Dazu kommen eine unglaubliche Stimmbeherrschung, sichere Höhe und unzählige Farben – wunderbar! Luca dall’Amicos Timur ist stimmlich eindrucksvoll und darstellerisch ebenso präsent wie Roger Joakims Mandarin. Patrick Delcour, Papuna Tchuradze und Xavier Rouillon sind ein überzeugendes Ministergespann und legen viel Spielfreude an den Tag, Gianni Mongiardino komplettiert das Ensemble als solider Altoum. Der Damenchor scheint personell fast ein wenig unterbesetzt, überzeugt aber zusammen mit den Herren durchaus. Pierre Iodice hat hier die Einstudierung übernommen.

Das Publikum im bis auf den letzten Platz ausverkauften Haus applaudiert begeistert und bejubelt zu Recht vor allem Herrn Cura und Frau Engebretson, die als Ensemblemitglied in Hamburg übrigens auch hierzulande öfter zu hören ist.

Ihr
Jochen Rüth

28.9.2016