Zürich: „Die Walküre“, Richard Wagner

Oder eben in Walhall (wobei dieses Walhall im neuen Zürcher Ring von verängstigten „gefallenen“ Helden bevölkert wird, von mit Spielzeugschwertern bewehrten Memmen, die so gar nicht mehr heldenhaft wirken!) Also bleiben wir beim Bild des „Olymp“ – ein Gipfel, der musikalisch und inszenatorisch erklommen, ja erstürmt wurde.

Eine wahrliche heldische Grosstat ist nämlich dem Opernhaus Zürich gelungen: Die vom Premierenpublikum heftig akklamierte und einhellig bejubelte Neuinszenierung von Wagners erstem Tag aus DER RING DES NIBELUNGEN war eine Wucht, eine Aufführung, die einfuhr, aufwühlte, berührte, die lange nachhallte und die man kaum je vergessen wird. Was hier auf der Bühne geboten wurde, war Wagner-Gesang vom Allerfeinsten, Sublimsten, schlicht überwältigend. Dafür gehört allen Ausführenden Dankbarkeit und allerhöchsten Respekt. Beginnen wir unten im Graben, wo die Philharmonia Zürich einen reichhaltigen, bewegten und bewegenden Teppich ausrollte, eine klanglich präzise musizierte, transparente und hoch emotionale Architektur offenbarte, ein starkes Fundament, das den Gesang trug, bereicherte, psychologisch untermalte, in seinem Vorwärtsdrang vollkommen austariert schien. Der Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda erreichte eine stupende klangliche Balance, ging mit Feuer und Intelligenz an die Partitur heran, wählte für mein Empfinden genau die richtigen Tempi, so dass den Sängern genügend Raum blieb, um ihre Phrasen auszugestalten und sich doch in keinem Moment Langatmigkeit einstellte. Bestechend war sein Umgang mit den (Leit-) Motiven, da wurden Stimmen hörbar gemacht, von denen man bei anderen Aufführungen kaum Notiz genommen hatte.

© Monika Rittershaus

Die Besetzung der Partien war geradezu phänomenal stimmig und alle, aber wirklich alle auf der Bühne vermochten zu begeistern und für sich einzunehmen. Um keine „Rangordnung“ und damit falsche Interpretationen meiner Eindrücke aufkommen zu lassen, gehe ich die Würdigung der Leistungen in der Reihenfolge des Besetzungszettels durch: Eric Cutler sang einen Siegmund zum Niederknien: Wie wunderbar strahlte sein ebenmässiger und vortrefflich fokussierter Tenor in „Winterstürme wichen dem Wonnemond“, wie leidenschaftlich war sein Agieren – ein Wälsung, wie man ihn sich vorstellt. Seine „Wälse“-Rufe verstand er bezwingend stark und lange gehalten zu in den Saal zu singen. Christof Fischesser gestaltete den Hunding mit wunderbar geführter Bassstimme, sonorem in sich ruhendem Klang, das überheblich Patriarchalische der Figur differenziert herausarbeitend. Tomasz Konieczny als Wotan waltete im ersten Aufzug stumm in der Rolle des Gottes als Arrangeur, als Magier, der die Begegnung des Wäslungenpaars inszeniert, der versucht, die Welt nach seinem Willen zu formen, seine hinterhältigen Pläne entgegen seinen eigenen Gesetzen und Verträgen umzusetzen. Dieses Agieren muss er im zweiten Aufzug in der hochspannenden Auseinandersetzung mit Gemahlin Fricka büssen. Die Offenbarung seines Scheiterns wird in seinem Geständnis gegenüber der Lieblingstochter Brünnhilde hörbar: Konieczny gestaltete die Erzählung Wotans mit einer noch kaum je erlebten Authentizität des Vortrags, einer totalen Verausgabung, die betroffen machte. Diese Darstellungs- und Gesangskunst von Tomasz Konieczny wurde von ihm selbst im dritten Akt nochmals übertroffen: Wotans Abschied von Brünnhilde (was eigentlich bereits schon den Abschied als allmächtiger Gott darstellte) war von einer tief berührenden Emotionalität, das ging sowas von unter die Haut, dass ich ein Aufschluchzen unterdrücken musste. Innerhalb von Minuten alterte dieser Mann um Jahrzehnte, war total gebrochen, verlieh der Stimme einen fahlen „Altersklang“, dass man zuerst vermeinte, den Sänger hätten wirklich die Kräfte verlassen. Doch dann kamen noch die mit Autorität und Kraft gesungenen Befehle an Loge, den Brünnhilde-Felsen mit einem Feuerring zu umgeben, den nur der stärkste Held werde durchschreiten können! Tomasz Konieczny hat uns mit dieser gewaltigen Leistung überwältigt, ja erschüttert. Dies gelang auch Daniela Köhler als Sieglinde. Zusammen mit Eric Cutler riss uns das Zwillingspaar im ersten Akt in einen ekstatischen und erotischen Gefühlsstrudel, sie zeigte sich als trotzige, mutige Gemahlin Hundings. Die Erzählung „Der Männer Sippe sass hier im Saal “ und der Aufschwung „Du bist der Lenz“ waren von leuchtender Schönheit geprägt. Und mit ihrem Dank an Brünnhilde im dritten Akt, diesem so herrlich auftrumpfenden „Oh hehrstes Wunder“ hatte sie sich endgültig in unsere Herzen gesungen.

© Monika Rittershaus

Das Rollendebüt von Camilla Nylund als Brünnhilde war mit grosser Spannung erwartet worden. Die ihre Partien klug auswählende Sängerin hat genau den richtigen Zeitpunkt gewählt, um sich dieser Herausforderung zu stellen. Ihre Brünnhilde klang wunderbar sauber und strahlend. Das „Hojotoho“ zu Beginn des zweiten Aufzugs kam mit jugendlicher, beinahe übermütiger und doch exakt auf Linie bleibender Frische daher. In ihrer Liebe zum Vater, der dann (nach Wotans Kehrtwende) in mutigen Trotz umschlägt, wirkte Camilla Nylund überaus intensiv und mit lyrischen Einwürfen beeindruckend gestaltend. Wunderschön formte sie ihre Todesverkündigung an Siegmund, eine der vielen Perlen der Partitur, damit zog sie das Publikum vollständig in ihren Bann. Im dritten Aufzug war sie total ergreifend in ihrer Entgegennahme von Wotans Strafe und dem bewegenden Abschied vom Vater. Ihr „War es so schmählich, was ich verbrach“ läutete diese emotionalste Szene der WALKÜRE mit zu Herzen gehender Innigkeit ein. Eine weitere starke Frauenfigur, die mit ihrem Festhalten an Gesetzen und Verträgen, ihrer glasklaren und unverrückbaren politischen Logik, das ganze Drama in Gang setzt, ist Wotans Göttergattin Fricka. Patricia Bardon gestaltete die interessante Partie mit herbem, bestimmtem Mezzosopran und ging (wenn auch als gebrochene) Siegerin aus ihrem Wortduell mit Göttervater Wotan hervor.

Das bringt mich zu einem weiteren Aspekt, der diese WALKÜRE zu einem aussergewöhnlichen Ereignis werden liess: Andreas Homokis exakte Personenführung war exemplarisch, gerade auch in der oben erwähnten Szene Wotan-Fricka im zweiten Aufzug. Mit welcher Intelligenz und gestischen Intensität er diese Szene einer zerrütteten Ehe inszenierte, war atemberaubend. Vergebliche Schmeicheleien Wotans, deren Entlarvung durch Fricka, ihr doch vorhandenes Bedürfnis nach Liebe des Gatten, ihre Enttäuschung, die in Wut und kalte Berechnung umschlägt, das alles hatte Homoki mit packender, feinsinniger Subtilität umgesetzt, wie so viele zwischenmenschliche Handlungsstränge an diesem Abend. Natürlich befinden wir uns immer noch in den leeren, mit weissgestrichenen Wänden ausgestatteten Räumen der Villa aus dem Rheingold, auch der riesige lange Tisch ist noch da, das Gemälde der Burg (gegen Ende des zweiten Aufzugs ist der Rahmen leer). Alle Szenen der Oper spielen in diesen Zimmerfluchten. Auch die Szenen, die eigentlich draussen spielen sollten, werden in die Villa geholt, der Winterwald mit den kahlen Bäumen und dem Schneefall (wunderschönes Bild), der Walkürenfelsen, der wie ein gigantisches Stück Holzkohle aussieht, auf dem Brünnhilde gegrillt wird, die Weltesche, in der das Schwert Notung steckt. Die Walküren (mit herausragender Kraft und lodernder Intensität sangen Sarah Cambridge, Julie Adams, Justyna Bluj, Anna Werle, Simone McIntosh, Susannah Haberfeld, Freya Apffelstaedt und Nana Dzidziguri) jagen mit eisernen Pferdeköpfen und Schild durch die leeren Räume, stürmen über Tische und Stühle, scheuchen übermütig lachend die armen ehemaligen und nun gefallenen Helden in ihren windigen Nachthemdchen durch die Räume und machen sich über sie lustig. Frauenpower total, nichts da von den den Helden versprochenen Wunschmaiden auf Walhall. Natürlich dreht sich die von Christian Schmidt entworfene Bühne nach wie vor unermüdlich, doch es hat sich bereits ein Gewöhnungseffekt eingestellt und ich fühlte mich davon eigentlich gar nicht mehr gestört, denn die Bewunderung für die exakte Personenregie und die funktionierende, beinahe wortwörtliche Umsetzung des Textes überwog. Diese WALKÜRE war in keinem Moment langatmig, sondern blieb vom stürmisch aufwühlenden Sturm des Vorspiels bis zum ergreifend verklärenden Feuerzauber am Ende eine fesselnde Musiktheateraufführung der Extraklasse!

Kaspar Sannemann, 19. September 2022

Aufführungen in Zürich: 18.9. | 21.9. | 29.9. | 2.10. | 5.10. | 8.10. | 18.10.2022