Vorstellung am 19.05.2019
Jean-Philippe Rameau war – nur was sein Schaffen im Bereich der Oper anbelangt – ein Spätzünder, erlebte doch seine erste Oper HIPPLOYTE ET ARICIE ihre Premiere erst, als der Komponist bereits das für die damalige Zeit stattliche Alter von 50 Jahren erreicht hatte. Doch dass diese Oper des Spätzünders auch heute noch so richtig zünden kann, durfte man gestern Abend im Opernhaus Zürich erleben, mit einer Aufführung, die geradezu exemplarischen Charakter hatte und vom Premierenpublikum zu Recht begeistert akklamiert wurde.
Dabei konnte man sich während gut zweier Stunden reiner Musik von der Ausserordentlichkeit des französischen Barockkomponisten überzeugen lassen, einer Musik mit Ausnahmecharakter, reichhaltig im Ausdruck und weit über das Zeitalter hinausweisend. HIPPLOYTE ET ARICIE hat bereits den Charakter einer durchkomponierten Grossform, eines Musikdramas. Nicht wie Händel mit seinen schnellen Rezitativen und den unendlichen Da Capo-Bravour-Arien gestaltete Rameau seine Tragédies Lyriques. Bei Rameau ist es ein nahtloser Fluss, von lyrischen, erhaben deklamierenden Rezitativen zu Ariosi und Arien, oft mit Monolog-Charakter und introspektivisch in die Seele schauend. Die Dirigentin Emmanuelle Haïm war sehr darauf bedacht, diesen Fluss nicht abreissen zu lassen, die durchkomponierte Form zu wahren, was ihr hervorragend gelang. Da gab es (wie bei einer Wagner-Oper) keinen Zwischenapplaus, der musikalische Faden riss nie, die Spannung über die fünf Akte hinweg blieb gewahrt und bannte die Zuschauer. (Noch selten erlebte man so wenige Nebengeräusche – Husten, Rascheln, Tuscheln – aus dem Zuschauersaal.) Das hauseigene Barockorchester La Scintilla spielte mit fantastischer Lebendigkeit, stupender Präzision und Emmanuelle HaÏm begeisterte mit ihrem (man möge mir den Ausdruck bei einer Dirigentin verzeihen) viril-zupackenden Interpretationsansatz. Gerade im zweiten Akt, der in der Unterwelt spielt und einige von Rameaus so sensationellen (weil weit über seine Zeit hinausreichenden und damals auch verstörenden) Passagen enthält, trat dieser Aspekt besonders hervor.
Den dramatischen Fluss der Musik aus dem Graben unterstützte die sich in Zeitlupe unaufhörlich drehende Bühne von Ben Baur. Er hatte eine bestechend konzipierte, halb offene Rotonde auf die Bühne bauen lassen, welche die verschiedenen Schauplätze in perfektem Timing aufscheinen oder aus anderer Perspektive betrachten liess. Die Regisseurin Jetske Mijnssen verlegte das Geschehen von der Antike in die Entstehungszeit der Oper, also ins französische Rokoko, verortete die Ereignisse in einen adeligen Drei-Generationen-Haushalt, wobei die Götter Diana und Neptun die Grosseltern darstellten, Thésée und Phèdre die mittlere Generation und Hipplyte und Aricie die Jugend. Die Regisseurin hat dabei sachte in die Handlung eingegriffen, dem „Helden“ Thésée eine Bisexualität angedichtet und damit seinen ergreifenden Arien im Hades, wo er um seinen Freund Perithous trauert, eine sinnvolle und berührende Bedeutung zukommen lassen. Von diesem Ansatz her war die Entscheidung auch richtig, den Prolog der Oper zu streichen (Rameau hat das in späteren Fassungen auch getan), welcher den Göttern Amor, Diana, Jupiter und den Waldbewohnern vorbehalten ist. Jetske Mijnssen und Emmanuelle Haïm haben aus den verschiedenen Fassungen der Oper eine wunderbar spielbare, kurzweilige Version erarbeitet. Besonders hervorzuheben sind die traumhaft schönen Rokoko-Kostüme von Gideon Davey, mit den geradezu royalen Stickereien, den Panier-Reifröcken, Perücken und kostbaren Schuhen.
Die Werkstätten darf man einmal mehr zu herrlichen Rabenvögel-Kostümen (im zweiten, dem Hades-Akt) beglückwünschen. Sie scheinen nach MACBETH und WINTERREISE zu wahren Raben-Experten zu werden. Dem Lichtgestalter Franck Evin ist es hervorragend gelungen, die Szenen im Salon in ein warmes (Kerzen-)Licht zu tauchen und im Hades eine gespenstische Kälte zu evozieren. Der Regisseurin Jetske Mijnssen ist es gelungen, die Charaktere bestechend genau zu zeichnen, ohne das Ganze zu überfrachten. Damit gab sie der Musik Rameaus den geforderten Raum, um deren Wirkung zum Entfalten zu bringen. Dabei konnten sich Dirigentin und Regisseurin auf herausragende Sängerdarsteller verlassen, viele mit überzeugenden Rollendebüts. So Stéphanie D’Oustrac als von ihrer Liebe zum Stiefsohn besessene Phèdre (bei den zunehmenden Liebe ihres Gatten zu Perithous mehr als verständlich). Stéphanie D’Oustrac sang die Phèdre mit dem gebotenen Furor in ihren Racheschwüren, aber vermochte auch zu berühren in ihrer Verzweiflung über die unerwiderte Liebe zu Hippolyte. Dieser wurde von Cyrille Dubois mit wunderschön ausgeglichenem Tenor gesungen, durchaus – wo geboten – auch selbstbewusst und energisch auftrumpfend.. Auch für Mélissa Petit war die Aricie ein Rollendebüt. Ein sehr gelungenes, denn ihre über reiche Tongebung verfügende Sopranstimme vermochte die Rolle bewegend auszufüllen. Rollendebüts gab’s auch bei den Grosseltern, Diana und Neptun. Hamida Kristofferson versprühte grosse Autorität als King (oder Queen) Mum, mit ihrer gewaltigen Perücke, den ausladenden Paniers ihres Reifrocks und der strengen Brille auf der Nase. Wenwei Zhang sang neben der kleinen Rolle des Neptun (Thésées Papa) auch den Pluton im Hades – und war dabei quasi auch die strafende Stimme des (moralisierenden) Vaters, der seinem Sohn die Verfehlungen (sexueller und anderer Art) vorhält. Klasse! Der einzige in der Familie, der in seiner Rolle nicht debütierte, war Edwin Crossley-Mercer als Thésée. Sein durchschlagskräftiger Bariton und seine differenzierte Darstellung offenbarten ein feinsinniges Porträt des Helden Theseus – einerseits bewunderte man seinen Mut, zu seiner homosexuellen Neigung zu stehen, den „Freund“ auch im Hades nicht im Stich zu lassen.
Andererseits war man dann doch entrüstet, dass ausgerechnet er sich so über Phèdres (nicht vollzogene!) Untreue dermassen entsetzte, ihrem Suizid fast teilnahmslos zuschaute und sie erst in seine Arme nahm, als es zu spät war. Ganz anders war da die (lesbische?), sich aufopfernde Oenone, welche durch dick und dünn zu ihrer Herrin Phèdre hielt und von Aurélia Legay mit einnehmender Stimme gestaltet wurde. Grosses Gewicht erhielten in dieser Inszenierung die drei Parzen (Schicksalsgöttinnen). Rameau hat ihnen in den beiden Terzetten im Hades-Akt nicht nur seine fortschrittlichste (enharmonische) Musik in die Kehlen geschrieben, sondern sie auch gleich mit Männerstimmen besetzt. Jetske Mijnssen nun machte aus diesen drei Parzen nun die katholischen Strippenzieher am Hof. In ihrer schwarzen Priesterkleidung geistern sie unheimlich und wo geboten mit gnadenloser Brutalität durch die Akte. Nicholas Scott, Spencer Lang und Alexander Kiechle machen das hervorragend und beängstigend. Spencer Lang sang zudem auch noch grossartig die Furie Tisiphone zu Beginn des Hades-Aktes. Zum Glück wurden in dieser Zürcher-Fassung die Divertissements (Gesangs- und Balletteinlagen) nicht gestrichen. Der Choreograph Kinsun Chan und Jetske Mijnssen gestalteten diese damals der Tradition entsprechenden Einschübe mit geschickt in den dramturgischen Ablauf eingebetteten Ideen, so dass diese nie als Fremdkörper wirkten. In diesen Divertissements, auch als „Merveilleux“ bezeichnet, treten Hirten, Matrosen und Jagdgesellschaften auf, immer angeführt von der aufhorchen lassenden Sopranistin Gemma Ní Bhriain, welche die Priesterin der Diane (hier eher eine Gouvernante der Familie), die Matrosin und die Jägerin mit beglückendem Sopran sang. Davidson Hegglin Farias tanzte mit beeindruckender Präsenz die stumme Rolle von Thésées Geliebtem Perithous. Der (hier relativ kleine besetzte) hervorragend singende Chor der Oper Zürich wurde ergänzt mit sechs Haute-Contres Tenören, welche zu dem wunderbaren Gesamtklang des Chores entscheidende Farben beisteureten (Einstudierung: Janko Kastelic).
Wie es bei solch eskalierenden Familienkonflikten halt so abläuft – ein Happyend gibt es nur in den seltensten Fällen (Rameau hatte im Gegensatz zu Racines Vorlage ein solches vorgesehen). Jetske Mijnssen traut zu Recht dem das neue Herrscherpaar bejubelnden Finale nicht und lässt die Oper in Eiseskälte, ja geradezu psychischer Grausamkeit enden. Sobald Hippolyte auf dem Thron sitzt, ist von seiner Liebe zu Aricie nichts mehr zu spüren (die Gene des Vaters, der ja in seinem „Heldenleben“ wahrlich von einer Beziehung in die nächste gesprungen ist und sich dabei nie scheute über Leichen zu gehen, schlagen voll durch). Die arme Aricie kann sich nur mit Mühe beherrschen und nimmt ihren Platz stumm und bedrückt an der Seite des neuen Regenten Hippolyte ein.
Fazit: Beglückendes, intelligentes und spannendes Musiktheater – ein überwältigendes Plädoyer für Rameaus grandioses Werk.
copyright: T+T Fotografie Toni Suter
Kaspar Sannemann 20.5.2019