Zürich: „Götterdämmerung“, Richard Wagner

O HEHRSTES WUNDER I: DAS ORCHESTER, EINE OFFENBARUNG. Nicht gesungen, aber vom Orchester mit berückender Emphase intoniert, taucht das von Sieglinde im dritten Akt der WALKÜRE gesungene Erlösungsmotiv erst ganz am Ende der Götterdämmerung wieder auf. Gianandrea Noseda und die Philhamonia Zürich zelebrieren dieses und anderer wichtige motivische Passagen nicht mit teutonischer Wucht und Protzerei, sondern spielen sie mit Empfindsamkeit, erfüllen diese wunderbaren Stellen mit innerer Kraft und auf Zug. Noseda horcht die Musik genauestens aus, spinnt die Phrasen fort, löst Dissonanzen aufs Herrlichste auf, findet immer wieder spannende Takte in der Orchestrierung, denen ganz besondere Aufmerksamkeit zu Teil wird. Mal hebt er schnatternde Fagotte hervor, grummelnde Bässe, lässt das wunderbar disponierte Blech gleißen und die hohen Streicher singen. Was da aus dem Graben aufsteigt, erfüllt mit höchstem Wagner-Glück.

(c) Monika Rittershaus

Und dieses Glück kommt nicht allein von den bekannten orchestralen Zwischenspielen wie Siegfrieds Rheinfahrt, Siegfrieds Tod oder eben mit dem im „Weltenbrand“ und mit dem Erlösungsmotiv kulminierenden Ende. Aufhorchen lassen zum Beispiel auch die Einleitung zur Waltrauten-Szene mit den diffizilen Holzbläser-Passagen oder das orchestral so packend untermalte Rache-Terzett am Ende des zweiten Aktes. Gianandrea Noseda hat seinen ersten RING mit Bravour vollendet, bekam von Akt zu Akt enthusiastischeren Auftrittsapplaus, in den selbstredend die Begeisterung über die Leistung des herausragenden Klangkörpers, den die Philharmonia Zürich bildet, eingeschlossen war.

O HEHRSTES WUNDER II: DIE SÄNGERISCHE BESETZUNG, MUT UND VERTRAUEN. Es gehört eine gewaltige Portion Mut dazu, eine neue Götterdämmerung in allen vier Haupt- und mehreren mittleren Rollen mit Rollendebütanten zu besetzen. Es ist ein Mut, der mit Vertrauen gepaart ist, Vertrauen in die eigene Urteilskraft (des Intendanten und Regisseurs Andreas Homoki), Vertrauen auch in die ausgewählten Künstler, dass sie dann auch in der Lage sein werden (die Verträge werden ja im Opernbetrieb Jahre im Voraus geschlossen), das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Und sie taten es allesamt.

(c) Monika Rittershaus

Camilla Nylund begeisterte bereits in der Walküre und in Siegfried als grandiose Brünnhilde; in der Götterdämmerung nun, der umfangreichsten und anspruchsvollsten Brünnhilden-Partie, war sie von atembraubender Souveränität, die Töne flossen mit einer stupenden Selbstverständlichkeit und unforcierter Schönheit aus ihrer Kehle. Und waren das Töne! Zum Niederknien. Gerade im zweiten Akt, wo sie des an ihr begangenen Verrats gewahr wird, findet Frau Nylund zu einer immensen Expressivität, hat trotz allem Powergesang die Kraft, eine zarte Fioritur auf dem Wort „Liebe“ einzuweben. Das ist bestechende gesangliche Kunstfertigkeit. Mit kluger Phrasierungskunst gestaltet sie den überaus anspruchsvollen Schlussmonolog (Starke Scheite schichtet mir dort am Rande des Rheins zuhauf!), füllt die Musik mit fein kalkulierten dynamischen Abstufungen, man bangt in keinem Moment um ihre Intonation oder die notwendige Kraft.

Klaus Florian Vogt legt ebenfalls ein Rollendebüt der Extraklasse hin. Auch bei ihm muss man nie um Kraft und Intonations- oder Höhensicherheit fürchten, da fließt alles mit einer verblüffenden Natürlichkeit und exzellenter Textverständlichkeit. Ein souveräner Held, der seine ihm von Wagner (und Homoki) auferlegte, etwas linkische Naivität aber beibehält, um dann – nach der Einnahme des Erinnerungstrankes – Erkenntnis zu gewinnen und quasi auf dem Sterbebett zu Tönen von bewegendster Reinheit zu finden (Brünnhilde! Heilige Braut! Wach‘ auf! Öffne dein Auge!) Wunderschön!

(c) Monika Rittershaus

David Leigh singt einen markanten, unheimlichen Hagen. Bleich, mit stränigem, langem Haar, schwarzem Bart und langem Kurzhaar-Pelzmantel gleicht der schlanke, großgewachsene Sänger einem archaischen, rächerischem Zombie. Er spinnt seine fatalen Ränke mit bezwingender, suggestiv manipulierender Stimme. Ebenfalls ein fantastisches Rollendebüt! Das kann man mit Fug und Recht auch von Daniel Schmutzhards Interpretation des Gunther sagen: Geschminkt und mit weibischer Perücke ausgestattet glich er auch im Bewegungsvokabular dem Schauspieler Lars Eidinger der in Babylon Berlin die Rolle des schwer gestörten Industriellensprosses Alfred Nyssen verkörperte.

Schmutzhard macht das fantastisch und ist von großartiger stimmlicher Präsenz; endlich mal einer, der dieser Rolle eindringliches Profil verleiht. Seine Schwester Gutrune, identisch wie ihr Bruder kostümiert, mit schwarzer Hose, Reitstiefeln und engem weinrotem Samtjacket, wird mit wunderbar gerundeter Stimme, die auch mal verliebt jubelnd aufblühen kann, von Lauren Fagan interpretiert. Sie ist genauso wie der bezwingende Alberich von Christopher Purves kein Rollendebütant. Purves gestaltet die Rolle des Nachtalben mit eindringlicher Suggestionskraft. Die grosse Szene Schläfst du, Hagen mein Sohn? mit dem beinahe geflüsterten Sei treu am Ende ist durchwegs spannend gestaltet. Eine der emotional aufwühlendsten Szenen ist der intensive Auftritt Waltrautes im ersten Akt: Sarah Ferede versteht es, eine leuchtende Glut in ihre Stimme zu legen, ihre und der Götter Not eindringlich vorzutragen – man staunt, dass sich Brünnhilde trotz dieser wunderbaren Töne nicht zur Herausgabe des Rings erweichen lässt. Eingeleitet wurde der Abend mit der Szene der Nornen; für Freya Apffelstaedt, Lena Sutor-Wernich und Giselle Allen waren diese von Wagner so schön geformten Melodien ebenso gelungene Rollendebüts wie diejenigen der Rheintöchter im dritten Akt, welchen Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan und Siena Licht Miller mit heiterem Spiel ihre geschwätzigen, schön harmonierenden Stimmen liehen. Markant intonierte der (Männer)- Chor der Oper Zürich (die Frauen haben lediglich einen kurzen Einwurf zu singen) Hagens folgsame, bärtige Mannen.

(c) Monika Rittershaus

KEIN HEHRSTES WUNDER – ODER DER FLUCH VON DREHBÜHNEN UND SCHWARZEN ZWISCHENVORHÄNGEN. Man hat sich im Verlauf der vorangehenden drei Abende an die weißen Wänder der Gründerzeitvilla (Ausstattung: Christian Schmidt), gewöhnt, ja es gab in der Walküre und in Siegfried viele spannende, witzige, überzeugende Momente. Die Götterdämmerung nun bot keine Überraschungen mehr. An den weißen Wänden hat der Zahn der Zeit genagt, sie haben Patina angesetzt, sind fleckig geworden. Wir begegnen auch vielen Elementen und Versatzstücken aus den vorangehenden Teilen der Tetralogie wieder: dem Walkürenfelsen, dem langen Tisch in Walhall, den Betten der Rheintöchter, dem Gemälde, das Walhall darstellt. Nach wie vor erfreut die genaue Zeichnung der Charaktere durch den Regisseur Andreas Homoki, das textgenaue Umsetzen des Plots. Da fehlen nicht die unverspeisten goldenen Äpfel oder Wotans Raben (Video: Tieni Burkhalter) von denen Waltraute berichtet, da tritt Loge als brennende Lohe auf (Stuntman) und Walvater Wotan sitzt depressiv am langen Tisch, später starrt er unbeweglich auf die im Gemälde brennende Götterburg Walhall.

Soweit so gut. Aber bald setzt in der Inszenierung das unvermeidliche Drehen der Wände auf der Drehbühne ein, identische Räume der Gibichungenhalle gleiten vorbei. Ganz schlimm wird es am Ende, wo die Musik so wunderbar aufblüht, die Motive erstrahlen: Da lässt Homoki den schwarzen Zwischenvorhang mehrmals runter- und hochgehen, um immer wieder ein anderes Bild erscheinen zu lassen. Mein Sitznachbar bemerkte: „Das ist ein Verbrechen gegen die Musik.“ Zwar etwas krass ausgedrückt, aber er hatte nicht ganz unrecht: Das ständige Nieder- und Hochfahren des schwarzen Vorhangs stört das Eintauchen und das gedankliche Verharren in der Musik. Während der schwarze Zwischenvorhang bei Siegfrieds Rheinfahrt und Siegfrieds Tod wohltuend unten verblieb und so die Möglichkeit des gedanklichen Versinkens in die Musik ermöglichte, verursachte er nun eine störende und dramaturgisch unnötige Unruhe. Während dreier Abende vor der Premiere konnte man sich an der Fassade des Opernhauses das Lichtspektakel des Rings ansehen. Was waren da für Wahnsinnsbilder zu dieser Schlussmusik und dem Erlösungsmotiv zu erleben: Aufblühende Pflanzen und eine totale Sonnenfinsternis bleiben in Erinnerung haften.

(c) Monika Rittershaus

Schon klar, dass man dies nicht auf der Bühne wiederholen, kein Spektakel, in das von Homoki beabsichtigte Kammerspiel einbauen wollte. So blieb am Ende nur das Bild der sich unerbittlich drehenden, leeren Räume zu den letzten Akkorden haften – Räume, die wir nach der Katharsis von Feuer und Wasser mit unserem Wollen und Willen selber mit lebenswerten Inhalten füllen müssen. Das immerhin war dann konsequent unspektakulär und stimmig, nur leider zu kurz.

Das Premierenpublikum erhob sich zu langanhaltendem Beifall beim Erscheinen des Dirigenten (die Mode scheint zusehends aus dem angelsächsischen Raum herüberzuschwappen), es bejubelte alle Ausführenden; das Inszenierungsteam musste sich auch verhaltenen, vereinzelten Missfallens Bekundungen stellen. Insgesamt aber gibt es keinen Grund, am nun vollendeten neuen Zürcher RING herumzumosern, das Gesamtkonzept ist überaus textgenau, stellenweise witzig, leichtfüßig inszeniert, ohne verkopften Überbau auf die Bühne gestellt. Für mich persönlich war dies musikalisch eine der packendsten und intensivsten Interpretationen meiner live erlebten Götterdämmerungen!

Kaspar Sannemann, 6. November 2023


Götterdämmerung
Richard Wagner

Opernhaus Zürich

Besuchte Premiere am 5. November 2023

Regie: Andreas Homoki
Musikalische Leitung: Gianandrea Noseda
Philhamonia Zürich