Zürich: „La Rondine“, Giacomo Puccini

Ein geschmacklich interessanter, süßer Cocktail mit leicht bitterem Abgang, das ist der Dolce amaro. Man nehme 3 cl Averna, 2 cl Orangenlikör, 2 cl Espresso und Rohrzuckersirup und fertig ist ein süffiger Drink, der dem Gaumen schmeichelt und gerne Lust auf mehr macht. Ganz ähnlich geht es einem mit Puccinis selten aufgeführter lyrischer Komödie LA RONDINE am Opernhaus Zürich: Viel Süße, etwas Rasse, dem Ohr schmeichelnde Melodik und ein Hauch von bitterer Melancholie. Man kann sich über zwei Stunden Spieldauer daran laben, ohne – im Gegensatz zum Cocktail – am nächsten Tag mit Kopfschmerzen aufzuwachen.

(c) Monika Rittershaus

Marco Armiliato entlockt zusammen mit der Philharmonia Zürich dieser Partitur Klänge, die so wunderschön, so vielfältig, manchmal fein und delikat ziseliert sind, manchmal auch lüpfig und schräg in Walzern auftrumpfen können, dass man sich einfach gehen lassen kann und die Ohren mit grosser Lust darin baden lässt. Armiliato kitzelt all die Raffinesse aus der Partitur, die Puccinis Schwalbe (LA RONDINE) zu einem traumverlorenen Flug ansetzen lassen, eine unterhaltsame, etwas nostalgische Reise, der man sich gerne anschließt.

Der Regisseur Christof Loy hat die Story, die eigentlich im Zweiten Kaiserreich angesiedelt ist, etwas näher an unserer Zeit herangeholt. Die wunderschönen Kostüme von Barabara Drosihn lassen auf Ende der Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts schließen. Eine sehr passende Zeit, um das Hauptthema der Geschichte zu erzählen: Die Verknalltheit eines jungen Mannes in eine reifere Frau mit großer sexueller Erfahrung, eine Situation, die in vielen Büchern und Filmen des 20. Jahrhunderts thematisiert wurde, von Joseph Roths RADETZKYMARSCH, Webbs THE GRADUATE (verfilmt mit Dustin Hofmann), SUNSET BOULEVARD, über Simmels LIEBE IST NUR EIN WORT bis zu André Cayattes Film MOURIR D’AIMER mit Annie Girardot. Loy setzt die Thematik als Traum Magdas um. Sie hängt einer verpassten Chance in ihrer Jugendzeit nach, ist in ihrer jetzigen Situation, wo sie sich vom reichen Bankier Rambaldo aushalten lässt, ohne ihn zu lieben, in einem goldenen Käfig gefangen und erblickt im jungen, naiven Ruggero eine Chance, das Verpasste nachzuholen. Der Raum, den Etienne Pluss entworfen hat, weist hohe Wände in zartem Altrosa auf, einen Durchgang mit Vorhang in der Bühnenmitte, der im ersten Akt in eine Art Alkoven führt, im zweiten Akt den Blick freigibt auf die Straße vor dem Lokal „Bullier“ mit den Lichtgirlanden und im dritten Akt den Blick aufs Meer vom Hotelzimmer in Nizza aus, um im Salon Rambaldos zu enden, wo Marta aufwacht, von ihrem Traum Abschied nimmt und mit einem schwebenden, sehnsuchtsvoll und fatalistisch zugleich gehauchten Ah sich in die Faust beißt und zu Rambaldo zurückkehrt. Loy lässt das Geschehen darin mit einer stupenden Genauigkeit ablaufen, so wie man es von ihm gewohnt ist. Da ist keine einzige leere Operngestik zu sehen, jede kleinste Regung ist durchdacht, jeder Blick, jede Gefühlsregung auf Situation und Musik bezogen und mit genauestem Timing gesetzt. So umgesetzt beginnt die Geschichte zu interessieren, nachdem ich in der von mir rezensierten Aufführung an der Deutschen Oper Berlin den Aspekt der mangelnden Relevanz der Handlung noch bemängelt hatte. Man hat viel Text auf der Übertitelungsanlage zu lesen in diesem Konversationsstück; es lohnt sich, das Libretto bereits vor dem Besuch der Aufführung genauestens zu studieren, um sich während der Vorstellung vermehrt auf die subtile Inszenierung konzentrieren zu können.

(c) Monika Rittershaus

Ermonela Jahos wunderbare Stimme versetzt in pures Verzücken. Ihre Interpretation der Magda ist von überwältigender Eindringlichkeit, die darstellerische Zeichnung einer Frau in all ihren Zwiespälten zwischen dem Verlangen nach gesicherter Existenz (ohne Liebe) und dem Verlangen nach dem Nachholen der verpassten Leidenschaft in den Armen eines geliebten jungen Mannes. Ihre schwebenden Phrasen, das gekonnte Auf- und Abschwellen der Töne, ihre herrlich erfüllten Piani und die (wenigen) leidenschaftlichen, stets fantastisch kontrollierten Ausbrüche beglücken das Ohr und das Herz. In ihrem Monolog im ersten Akt zeichnet sie ein tief empfundenes Seelenporträt – und man spürt, dass Puccini den ROSENKAVALIER von Strauss genau gekannt und studiert hatte. Benjamin Bernheim ist ihr ein kongenialer Partner als Ruggero. Seine stimmlichen Qualitäten sind schlicht überragend, diese Stimme gehört mit zu den schönsten im lyrischen Tenorfach, die derzeit zu erleben sind. Er spielt den Ruggero leicht schlaksig, zeigt die jugendliche Unbeholfenheit im Trubel des Cafés „Bullier“, die stürmische Leidenschaft im Duett im zweiten Akt und vor allem im Schlussakt, wo er dann auch zu Tode betrübt ist, nachdem Magda ihm eröffnet hat, dass sie nie und nimmer den Ansprüchen seiner Mutter – von der Ruggero so sehr und unnatürlich schwärmt – genügen können wird. Um den musikalisch deutlich schwächer geratenen dritten Akt etwas aufzumotzen, hat man für Ruggero Puccinis Lied Morire an den Anfang gesetzt, erstens natürlich, um dem Tenor eine Arie zu geben, aber es macht auch musikalisch und dramaturgisch Sinn: Puccini hatte dieses Lied (mit anderem Text) in seiner zweiten Fassung der RONDINE Ruggero im ersten Akt als Solonummer gegeben. Der Text zu Morire nach einer erfüllten Liebesnacht mit Magda am Anfang des dritten Aktes passt aber sehr gut zu diesem Adoleszenten, der sich da ins naive Philosophieren über Tod, Träume und Leben stürzt und Bernheim singt das mit grandioser Gestaltungskraft.

Immer wieder unterstellt man LA RONDINE eine Operette zu sein. Sie ist es definitiv nicht. Es ist eine melancholische, lyrische Oper, eigentlich überhaupt nicht lustig. Ich habe während der Aufführung einmal geschmunzelt und einmal gelacht. Gelacht an der Stelle, wo das zweite Paar sich mal wieder neckt im dritten Akt, der Dichter Prunier seine Lisette, die als Varietésängerin nach nur einem Auftritt gescheitert ist, nun wieder als Zofe Magda anbietet. Nachdem er Lisette zutiefst gedemütigt hat, fragt er sie A che ora sei libera stasera? Das war umwerfend lustig. Juan Francisco Gatell ist großartig als Dichter Prunier, sein leicht ansprechender Tenor bewältigt die vielen Parlando-Passagen mit einer geschmeidigen, eleganten Leichtigkeit. Als Lisette ist ihm Sandra Hamaoui eine umwerfende Partnerin in ihrer Quirligkeit und Schlagfertigkeit – die Adele aus der FLEDERMAUS lässt grüßen. Das ist wahrscheinlich auch das Problem der Oper Puccinis: Es sind so viele Anleihen aus anderen bekannten Werken darin verarbeitet, dass sie sich auch mit diesen Vorlagen messen lassen muss. Neben ROSENKAVALIER und FLEDERMAUS (Ausbrechen aus langweilig gewordenen Beziehungen, Verkleidungen) ist die Grundkonstellation aus TRAVIATA offensichtlich und schließlich auch der Eskapismus aus Giordanos FEDORA (Fedora setzt sich mit dem Liebhaber Loris ins Berner Oberland ab, Magda mit Ruggero nach Nizza).

(c) Monika Rittershaus

Einmal mehr sind im Opernhaus Zürich die kleineren Rollen, die aber sehr wichtig sind für die Gesamtwirkung der Produktion, herausragend besetzt. Von der leicht unheimlichen Präsenz des Magdas sexuelle Dienste in Anspruch nehmenden Bankiers Rambaldo (Vladimir Stoyanov) über die differenziert gezeichneten und ganz herrlich singenden Freundinnen (Yuliia Zasimova, Meeta Raval, Siena Licht Miller) zu der Kellnerin von Annabelle Kern, die am Ende des zweiten Aktes eine bezaubernde Ariette gestaltet. Des Weiteren bereichern Nathan Haller, Stanislav Vorobyov, Amin Angharan und Yannick Bosc in kleineren Rollen das wunderbar spielfreudige Ensemble.

Ja, der musikalisch so substanzreiche Dolce amaro mundete vorzüglich – und man wachte am nächsten Morgen ohne Kater, aber immer noch in leicht melancholischer Stimmung auf und wünschte sich eigentlich, dass Magda den Mut zum Ausbruch aus dem goldenen Käfig gewagt und Ruggero endlich seine ungesunde Mutterbindung abgelegt hätte.

Kaspar Sannemann, 21. September 2023


La Rondine
Giacomo Puccini

Zürich, Opernhaus
20. September 2023

Regie: Christoph Loy
Dirigat: Marco Armiliato
Philharmonia Zürich