Berlin: Benjamin, Beethoven, Rachmaninow

Die drei grossen B (Violinkonzerte)

George Benjamin
SUDDEN TIME, für grosses Orchester

Ludwig van Beethoven
VIOLINKONZERT in D-Dur

Sergej Rachmaninow
SINFONIE NR.2 in e-Moll

Selbstverständlich werden Konzertprogramme nicht willkürlich zusammengestellt, und schon gar nicht beim Deutschen Symphonie Orchester Berlin. Doch was verbindet so unterschiedliche Werke wie Benjamins SUDDEN TIME aus dem Jahre 1993, Beethovens VIOLINKONZERT (entstanden 1806) und Rachmaninows ausladende 2. SINFONIE (1908), dass man sie gemeinsam auf ein Konzertprogramm setzt? Die Antwort ist im Titel des jüngsten Werkes enthalten: TIME, das Erforschen der Zeit, ihrer Abläufe, ihrer Wirkung. Zeit, die sich in ihrer Entfaltung dehnt, verkürzt, zusammenbricht, verweilt. Bei George Benjamin stand ein Naturerlebnis (Donnerschlag) zwischen Wachsein und Traum am Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen der subjektiv wahrgenommenen Zeitdauer. Bei Beethoven ist es der auffallend lange erste Satz seines Violinkonzerts, der die Zeit braucht, um sich zu entfalten, um seine Geschichte zu erzählen. Rachmaninow gestand man über viele Jahre hinweg die Zeit nicht zu, die er benötigte, um seine erzählerische Kraft in die sinfonische Struktur seiner zweiten Sinfonie zu bannen – das Werk wurde oft um bis zu einer halben Stunde gekürzt aufgeführt. Dabei ist es gerade dieses lang anhaltende Versinken in die Melancholie seiner Tonsprache, welches die Faszination dieses Werks ausmacht. Musik von bezaubernder Schönheit, tiefer Empfindung, elegischen Gesten. Da türmen sich (Gefühls-) Wogen auf, herrliche solistische Kantilenen (Solovioline, Klarinette) und sich aufbäumende Tutti-Passagen wechseln sich ab. Höhepunkte reihen sich aneinander, Zeit zum Aufatmen bleibt kaum. Robin Ticciati und das blendend die Stimmungen dieser Sinfonie evozierende Deutsche Symphonie Orchester Berlin bescheren dem begeisterten Publikum einen Hörgenuss der Extraklasse: Das ist sentimental, ja, aufwühlend, ja, aber nie kitschig oder zu süss. Filmmusik vom Allerfeinsten, bevor es überhaupt Filme gab. Klar strukturiert und mit leicht diabolischem Ton wird nach dem emotionalen ersten Satz das Scherzo durchwandert, unterbrochen vom fiebrig-nervösen Trio, immer präzise den Rhythmus haltend. Hervorragend hier die Streicher im Wechsel von Pizzicati zu gestrichenen Passagen. Wunderbar seufzend und schmachtend erklingt das Adagio, mit Steigerungen, die schlicht zum Heulen schön sind. Wild und draufgängerisch schliesst sich das lärmig-jubelnde Finale an, man sitzt an der Stuhlkante, weil immer noch eine Schraubendrehung folgt. Ticciati bereitet die unzähligen klanglichen Kulminationen mit spannungsgeladener Intensität vor – der Jubel ist gross.

Gross war er auch vor der Pause nach Beethovens Violinkonzert. Mit Christian Tetzlaff war wohl einer der führenden Interpreten der Gegenwart für dieses Konzert engagiert worden. Tetzlaff schafft es, auch dem mit diesem Konzert sehr vertrauten Hörer neue Aspekte des Werks zu eröffnen. Seine Interpretation hat etwas beinahe Trotziges, ich würde es als Sensibilität gepaart mit Attacke bezeichnen. Neben den fulminanten Trillerorgien horcht Christian Tetzlaff aber auch immer wieder dem Klang nach, will ihn noch tiefer erforschen. Das ist hochspannend, lässt mehrmals echt aufhorchen – und die Zeit, die Beethoven für die pastorale Entwicklung braucht, wird nie lang, auch nicht in diesem überlangen Satz. Christian Tetzlaff spielt seine eigene Kadenz, welche er auf der Grundlage von Beethovens Kadenz der Umarbeitung des Violinkonzerts für Klavier erarbeitet hat, mit dem geradezu ereignishaften Einbezug der Pauke in diese Kadenz. So ergibt sich hier ein zwar humoristisch-tänzerischer Duktus, der aber auch den erwähnten trotzigen Einschlag nicht verhehlt. Herrlich dann der zweite Satz mit den fantastischen Pianopassagen, fein und zart hingetupft, wie in einem pointillistischen Gemälde. Eine singend-luftige Liebeserklärung, souverän im Ausdruck, alles Manieristische jedoch knapp vermeidend. Faszinierend der nahtlose Übergang ins finale Rondo, Exaktheit und virtuoses Passagenwerk verleihen dem Satz einen beinahe musikantischen Charakter. Beeindruckend dabei (in allen drei Sätzen und auch in der Zugabe) sind die dynamische Bandbreite, die energiegeladene Attacke und die vibrierende Spannung von Tetzlaffs Spiel. Zusammen mit dem DSO unter der nicht minder energiegeladenen Leitung von Robin Ticciati wird man regelrecht in eine aufregende Interpretation von Beethovens einzigem Violinkonzert hineingezogen.

Da gestaltete sich der Zugang zu Benjamins SUDDEN TIME beim ersten Anhören doch erheblich schwieriger. Das viertelstündige Werk, welches den Abend eröffnet hatte, bestach wohl mit klanglichen Finessen (ganz wunderbar die Solobratsche in der höchsten Lage), Schattierungen (hervorgerufen durch verwischte Mehrstimmigkeit), Dehnungen zur Unendlichkeit, dann wieder gewichtige Einwürfe des Blechs, Verdichtungen zu eruptiven Passagen und apartem Timbre des fernöstlich anmutenden Schlagwerks. Doch um die Komposition zu würdigen, müsste man sie sich wohl mindestens zweimal hintereinander anhören. Die Reaktion des Publikums auf dieses Werk war dann auch nur freundlich zurückhaltend.

Kaspar Sannemann 20.11.2018