Lübeck: „La Bohème“, Giacomo Puccini

© Olaf Malzahn

Vorüber sind die fetten Jahre und der erste Lack ist auch schon ab – die Künstler-WG haust nicht auf dem Dachboden eines baufälligen Hauses im Pariser Quartier Latin – den vier Bohémiens ist es offenbar schon mal richtig gutgegangen. Das verrät der riesige historistische Kamin und die Garderobe der vier Kumpane, die offensichtlich genug Erfolg hatten, um sich irgendwann im 19. Jahrhundert eine repräsentative Wohnung leisten zu können – das ist „fin de siècle“ in den tiefsten Wortsinnen.

Das Quartett ist auch nicht mehr im Studentenalter, das verraten die teils maskenhaft geschminkten Gesichter. Vor allem bei Rodolfo kann das Bleiweiß das beginnende Alter eher schlecht als recht verbergen, die tief in den Höhlen liegenden Augen gemahnen bereits an einen Totenkopf. Das wirkt so ein bißchen wie in Thomas Manns „Tod in Venedig“, wenn Gustav von Aschenbach versucht, durch Schminke und Haarfärbung jünger zu wirken, als er ist – in Luchino Viscontis Verfilmung wird das besonders deutlich.

Jetzt allerdings frieren sie, oder, wie es in den sprachlich etwas anbiedernd modernisierten Übertiteln heißt, ihnen ist „arschkalt“, und einen Christbaum können sie sich auch nicht leisten – den muß das auf einen Ständer aufgespießte Drama Rodolfos mit seinen bleichen Papierbögen anstatt der grünen Zweige ersetzen.

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Diese „Bohème“ in der Inszenierung von Angela Denoke entlarvt Träume, die immer nur auf Illusionen bestanden, und spielt mit den klassischen Versatzstücken, ohne jemals der Kitsch-Gefahr zu erliegen. Die Produktion ist Werk treu, arbeitet aber die Charaktere und die Beziehungsstrukturen detaillierter heraus.

Etwas eitel sind die in die Jahre gekommenen „Jungs“, aber ihren Humor haben sie nicht verloren. Iurie Ciobanu singt und spielt mit seinem hellen, klaren Tenor den Rodolfo. Der Sänger ist der einzige Gast in Lübeck, gehörte aber, wie GMD Stefan Vladar auf der Premierenfeier meinte, ganz schnell zur „Familie“. Ciobanu schafft die Höhen spielend, ohne zu schmettern; es lebt stets echte Emotion in all dem, was aus ihm dynamisch kraftvoll oder auch in zartem piano strahlt. Für die berühmte Arie „Che gelida manina“ erhält er bereits begeisterten Szenenapplaus und Bravo-Rufe.

Ihm zur Seite steht sein Freund Marcello, dem Gerard Quinn mit seinem warmen Bariton einen sympathischen, eher väterlichen Charakter gibt. Da ist echte Freundschaft zu spüren, ebenso mit Jacob Scharfman als Schaunard. Auch er ist ja ein stimmstarker Bariton, wirkt aber jugendlicher als die anderen. In bewährter Weise verbindet er seine natürliche Noblesse mit humoristischen Aspekten, etwa, wenn er den Vermieter Benoît beruhigend massiert. Den nimmt niemand ernst; es ist mal wieder eine Paraderolle für Steffen Kubach, der es auch hier schafft, einer eher komödiantischen Partie menschliche Tiefe zu geben, zumal in seinem späteren Auftritt als Alcindoro. Das vierblättrige Kleeblatt vervollkommnet im wahrsten Sinne Changjun Lee als Colline mit einem großartig vollen Baß; seine Arie vom verabschiedeten Mantel gerät, wie bereits in der Einführungs-Soirée, zum tränenrührenden Bekenntnis persönlicher Trauer.

Tatsächlich wirkt die Mimì von Evmorfia Metaxaki ausgesprochen lebensfroh; ihr glockenheller Sopran überstrahlt mühelos die dynamisch herausfordernde Musik. Anders als in den meisten Inszenierungen tritt sie hier viel optimistischer und gesünder auf; ihre tödliche Krankheit kommt erst später zum Tragen. Auch in der Interaktion mit Rodolfo ist sie viel aktiver; die beiden begegnen sich auf Augenhöhe und wenngleich die wundervolle Sopranistin es schafft, eine ungemein frische Mädchenhaftigkeit erlebbar zu machen, ist sie doch eine selbstbewußte, aufrechte Frau und kein schwindsüchtiges, blasses Mädchen aus der Dach Bude.

Darin ist sie, ebenso wie im literarischen Vorbild, der Musetta ähnlicher und auch die ist hier weniger die selbstsüchtige Lebedame. Natalia Willot verkörpert eine zwar kokette junge Frau, die sich nimmt, was sie will, aber sie ist auch voller Anteilnahme und echter Empathie. Stimmlich ist sie den übrigen Mitwirkenden ebenbürtig, vor allem ihr Schrei in der Momus-Szene dringt durch Mark und Bein.

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Darin herrscht unter kupferroten Lichtfestons fröhliches Treiben mit dem Chor des Theater Lübeck unter Jan-Michael Krüger und dem von Gudrun Schröder geleiteten Kinder- und Jugendchor Vocalino. Die Kinder sehen in ihren wundervollen Kostümen aus wie kleine Nußknacker, vollführen tolle Kapriolen und spielen herrlich natürlich. Mark McConnell als Parpignol trägt eine Mischung aus Phantasie-Uniform und Tüll Rock; auch sonst erscheinen Figuren, die eher aus der demi-monde entschlüpft sind und der ganzen Szenerie, zusammen mit den Karussellpferden und den im Kreise laufenden Leuchtern eine karnevaleske Rummelplatzstimmung geben. Zuvor umhergeworfene Konfetti ersetzen den Kunstschnee, wodurch eine wirkungsvolle ästhetische Brechung entsteht.

Für die Kostüme wie auch das Bühnenbild sind Okarina Peter und Timo Dentler verantwortlich, und der gigantische Kamin, der auch Portal und Durchlaß ist, offenbart seine größte Bildmacht ausgerechnet von seiner Rückseite her, denn im melancholisch-trüben dritten Bild wirkt er mit seinen nackten, zerklüfteten Backsteinwänden wie eine Kriegsruine. Um diese Kehrseite einer schicken Fassade entsprechend zu inszenieren, braucht es einen guten Lichtmeister und mit seinen pointierten Einsätzen, die Libretto und Partitur gekonnt akzentuieren, hat sich Falk Hampel diesmal selbst übertroffen. Einer der stärksten Momente der Produktion besticht durch seine Dezenz und zugleich durch die Intensität des Ausdrucks: Als Mimì und Rodolfo versuchen, ihre unklare Beziehung zu definieren, erhebt sich zuerst der Schatten des eifersüchtigen Rodolfo übergroß auf der Backsteinwand. Mimìs Schattenriß wirkt daneben zuerst klein, wächst dann aber zu gleicher Größe wie der ihres Geliebten, bevor die beiden Silhouetten ineinander verschmelzen, ganz wie im berühmten Lied von Lili Marleen. Darin wird die tatsächliche Beziehung der beiden und ihre Sehnsucht nach dem Aufgehen im Miteinander ergreifend sichtbar. Die ohnehin detaillierte Personen- und Bewegungsregie erhält hier eine weitere Dimension.

Im Hintergrund funkeln die Sterne, wiederum kupferrot – oder ist es die Farbe von Rosenblüten und Blut?

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Das letzte Bild beginnt vor dem Vorhang, wodurch, ohne Ablenkung durch Requisiten oder anderen Beteiligte, eine gestraffte Reduktion auf Wort und Ton entsteht. Hier geht es allein um individuelle Reaktionen auf gescheiterte Beziehungen und den Versuch, bei allem Unvermögen dennoch die Lebensfreude nicht zu verlieren. Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter Stefan Vladar malt auch in dieser Szene das große Bild von Träumen, fehlgeschlagenen Lebensmodellen und starken Emotionen; das gleichermaßen engagiert und sensibel spielende Orchester holt alles aus der Partitur an Zartheit, Dramatik und Leidenschaft heraus, was Puccini facettenreich in dieser Musik zum Leben gebracht hat.

Sehr lebendig wirkt auch Mimìs letzter Auftritt durch die geöffneten Kamintore vor einem verschwommenen Hintergrund, der etwas an die gewalzten Farbschicht-Bilder Gerhard Richters erinnert. Aufrecht schreitet sie nach vorne, der Bühnenboden ist von roten Rosenblättern übersät. Hätte man sie regnen lassen, wäre das Hildegard-Knef-mäßig kitschig gewesen; so erinnern die Blüten an die zerfallene Lebensenergie auf einem barocken Vanitas-Gemälde.

Aufrecht, wie sie kam, stirbt Mimì auch, in den Armen Rodolfos, der das natürlich erst nicht merkt. Der Verzicht auf das in doppeltem Sinne abgewetzte Sofa gibt dieser Mimì einen bis zuletzt spürbaren Lebenswillen, aber macht auch klar, daß sie doch um ihr Ende weiß und den Tod mit letzter Energie stehend empfängt.

Schließlich sinken die Liebenden zu Boden, liegen in zärtlichster Nähe beieinander und – sehr langer Gedankenstrich! – während des aufbrandenden, langanhaltenden Beifalls werden viele Taschentücher gezückt. Ganz großes Theater – hingehen, mitweinen und begeistert sein!

Andreas Ströbl, 28. April 2024


La Bohème
Giacomo Puccini

Theater Lübeck

Premiere am 26. April 2024

Inszenierung: Angela Denoke
Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Nächste Vorstellungen: 3., 26. und 29. Mai

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