Bayreuth: „L’Incoronazione di Poppea“, Claudio Monteverdi

Die Diskrepanz könnte kaum größer sein, auch wenn für einen unvoreingenommenen Beobachter unter dem Zeichen des „Barock“ alles eins scheint.

Fotos (C) Andreas Harbach

Das Markgräfliche Opernhaus wurde 1748 eingeweiht: als Bau des Absolutismus, der die These erhob, dass alle Gewalten vernunftgemäß im Zentrum der Monarchie zusammenlaufen. Die Oper, genauer: das Musikdrama von der Krönung der Poppea wurde gut 100 Jahre zuvor komponiert und repräsentiert sowohl musikalisch als auch thematisch eine völlig andere Welt. Musikalisch, weil es bei Claudio Monteverdi, dem eigentlichen Erfinder der Gattung „Oper“ noch keine strikte Trennung zwischen Rezitativ und Arie, ja selbst kaum so etwas wie „Arien“ gibt, thematisch, weil das Krönungsstück sich seltsam unentschlossen zu dem verhält, was der gesunde Menschenverstand als „Moral“ und „Vernunft“ bezeichnen würde. Theorie (einer vernunftgeleiteten, stoizistischen Politik) und Praxis (der sog. Liebe, also des Wirkens des kleinen teuflischen wie himmlischen Gotts Amor) stehen beim Librettisten Francesco Busenello, aber vor allem beim Komponisten des Eigentlich spätestens am Ende quasi dialektisch gegenüber. Im puren Wohlklang der sich umschmeichelnden und umschlingenden Stimmen des tyrannischen Kaisers und seiner Geliebten, die sich gerade zum Kaiserthron hochgeschlafen und -intrigiert hat, herrscht finalmente allein die pure Freude am Liebesspiel der Geschlechter. Vergessen die Tatsache, dass die Mätresse erfolgreich den Chefberater Seneca beseitigen ließ, vergessen der Umstand, dass Nero seine legitime Gemahlin ins Exil schickte (wo sie, das erzählt nicht die Oper, sondern Tacitus) dank Nero auf schreckliche Weise ums Leben kommt. Doch die Liebe ist stärker als der Tod (der Anderen).

Fotos (C) Andreas Harbach

Schön also, dass nach dem „Orfeo“, Monteverdis erster Oper, das Pilsener Tyl-Theater nun endlich auch Monteverdis letzte Oper als Gastspiel für die Musica Bayreuth ins ausverkaufte Markgräfliche Opernhaus geschickt hat – schön auch deshalb, weil sich die Werke in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Mit der monumentalen „Poppea“ hatte der alte Meister, kurz nach der wunderbaren „Rückkehr des Odysseus“, einen neuen Standard des quasi realistischen Komponierens erreicht. Nicht allein im Vergleich zu einer „normalen“ Opera seria, gar zum „L’Huomo“ Andrea Bernasconis und Wilhelmines von Bayreuth, der hier vor einer Woche zu erleben war, ist die „Poppea“ ein Reißer voller musikalisch-szenischer Überraschungen, ja: ein Hauptwerk der Operngeschichte, das für viele Kenner nicht allein die bedeutendste Oper des 17. Jahrhunderts, sondern bis zu Mozart die einzige Oper ist, die es mit der Musikdramatik des späten 18. und noch des 19. Jahrhunderts aufnehmen kann. Nikolaus Harnoncourt, dem wir wichtige frühe Einspielungen des Werks verdanken, hat sogar den Vergleich mit Verdi gezogen. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass die „Incoronazione“ so reich ist, dass es sich jede Aufführung leisten kann, nicht weniger als 90 Minuten wegzuschneiden – so wie in Pilsen und Bayreuth, wo aus dem dreieinhalb Stunden langen Stück eine zwei Stunden lange Geschichte gemacht wurde, ohne dass der Kenner den Eindruck hätte, dass Wesentliches fehlte. Das macht: der Umstand, dass die für Monteverdis und Busenellos Musikdramatik so wichtigen Kontraste zwischen Hoch und Niedrig, Licht und Schatten, Tragödie und Komödie erhalten blieben. Dem Politthriller stehen immer noch die zärtlich-heiteren Duette der sonstigen Paare Ottone-Drusilla, Page/Hoffräulen) zur Seite. Amor regiert hier wie dort die Szene, auch wenn sich Ottone (das ist so ein Pluspunkt der Dramaturgie einer intelligenten Oper der Spätrenaissance) durchaus nicht sicher ist, ob seine schnelle Wendung zur aparten Drusilla seine Herzschmerzen betreffs Poppea beseitigen werden. Es ist schließlich – Stichwort: Dialektik – nicht uninteressant, Madame Amor nicht im typischen Habit des törichten Kinds, sondern als Schwarze Dame auftreten zu lassen. Jana Piorecká hebt sich also schon farblich von ihren allegorischen Begleiterinnen namens Tugend und Glück ab, die in reinem Weiß ihre Wichtigkeit ohnmächtig beteuern. Dem Kostümbildner Aleš Valášek gebührt also Lob für seine gelungene Mischung aus Historizität und sehr gelinder Moderne. Dass Monteverdis „Poppea“ weit weniger von Gestern ist als ein vor Tugendbeschwörungen nur so triefender „L‘Huomo“ wusste man ja schon vorher.

Fotos (C) Andreas Harbach

In Bayreuth genügen nun nicht mehr als acht Musiker, um die Partitur in ihr Recht zu setzen. Damit sitzen nicht mehr Musiker vor der Bühne als nötig; mag man es bedauern, dass diesmal die Bläser fehlen, so haben wir es bei den wenigen Streichern, den zwei Cembali und der Laute mit einer normalen kleinen venezianischen Bürgertheater-Besetzung zu tun, die unter dem Leiter Vojtěch Spurný den Raum des Opernhauses akustisch völlig ausfüllt und in der Flexibilität der farblichen Wechsel die Figuren und dramatischen Wendungen relativ individuell begleitet (es wurde also nicht, wie beispielsweise bei Ivor Bolton an der Münchner Staatsoper, jeweils eine Begleitart für eine Szene gewählt). Zum Vokal-Ensemble treten zwei Tänzerinnen hinzu, die – man mag das „tschechisch“ nennen – manch Szene mit ihren von Martin Šinták choreographierten, teils gravitätischen, teils bewegteren Schritten akzentuieren, illustrieren, nicht zuletzt mit den zugleich symbolischen wie realen Rosen in ihren Händen ornamentieren. Monteverdi schrieb zwar keine „balli“, also keine Tänze vor, aber die oft zum Tanz drängenden Rhythmen einzelner „Sinfonie“ und Passagen erlauben es, auch dem stilisierenden Ornament einen Platz zu geben – über das letzten Endes der Geschmack zu entscheiden hat. Die Hauptsache bleiben eh die Sängern zumal man darauf verzichtet hat, das Pilsener Bühnenbild nach Bayreuth zu transportieren. So spielt man in der bekannten Kulisse nach Galli Bibienas Bühnenbildentwurf zu Hasses „Ezio“, die als Römischer Kaiserpalast glänzend durchgehen. Die Hauptsache machen also Nero und Poppea: er als fast dauerschreitender Monarch, dessen gemessenem Schritt man nicht die Bosheit seiner Taten ansieht (Nur im Gespräch mit Seneca, der ihm zu Recht vorwirft, das Recht autokratisch zu vergewaltigen, gerät er außer sich), sie als relativ zurückhaltend agierende Frau, bei der nicht sicher ist, ob sie Nero liebt oder allein an der Macht interessiert ist. Allein vor dieses dieses Dilemma der Interpretation hat bereits der Komponist seine Hörer gestellt… Der Rest ist ein ruhiges Liegen auf dem Bühnenboden, das keine Deutung mehr verlangt. Nero ist Vojtěch Pelka, dessen Sopran sich so ins Gehör einschmeichelt wie Poppea ihre erotische Zuneigung formuliert. Lucie Kaňková singt Poppea als energisches „Weibchen“: als eine Frau, die weiß, was sie will; sie tut es mit einer moderneren Stimme, und auch bei der wichtigen Rolle des Ottone, gar noch bei Octavia, haben wir es mit gegenwärtigeren Vokalstilen zu tun: Bedřich Lévi führt seinen Counter leicht und geschmeidig, während Barbora De Nunes-Cambraia in ihren wenigen, aber äußerst prägnanten Auftritten eine auch stimmlich attraktive Frau auf die Bühne bringt: Eine Hochdramatische! – bei der die Frage nach der „Historisch informierten Aufführungspraxis“ unwichtig wird. Denn Musiktheater ist immer Gegenwart, gleichgültig, wie es klingt (oder nach Meinung der Puristen zu klingen hat).

Fotos (C) Andreas Harbach

Bleibt als letzte Hauptrolle der Seneca des Josef Kovačič: ein profunder, markant artikulierender Bass; dass sein Tod schon vor Poppeas Idee, ihn zu mobben, durch ein aus dem Bühnenboden herabschwebendes Gemälde („Der Tod des Seneca – um 1871 von Manuel Domínguez Sánchez gemalt, zu besichtigen im Prado) angekündigt wird, darf als Regieeinfall Tomáš Ondřej Pilařs in Form eines kurzen epischen Vorverweises gewertet werden. Schön auch die stimmlich und szenisch elegante Drusilla der Karolina Janu, die auch als Tugend auftritt, während die Dame Amor als in den Pagen verliebtes Hoffräulein dramaturgisch hintersinnige Dienste tut. Bleibt die travestierte Rolle der Arnalta, der komischen Alten, die ihre giftig-weisen Kommentare zum Spiel abgibt: Tomáš Kořínek macht das, mit einer riesigen Handtasche bewehrten und schließlich mit einem neureichen („Wir sind Kaiserin!“) Glitzerfummel ausgestattet, so, dass er den einzigen (und vielleicht einzig möglichen) Abgangsapplaus des Abends geschenkt bekommt – bevor schließlich der herzliche Applaus das gesamte Team erreicht.

Frank Piontek, 14. Mai 2023


L‘Incoronazione di Poppea

Opera musicale von Claudio Monteverdi und Francesco Busenello

Besuchte Aufführung am 12. Mai 2023

Premiere am 20. August 2020 (Pilsen)

Inszenierung: Tomáš Ondřej Pilař

Choreographie:  Martin Šinták

Musikalische Leitung:  Vojtěch Spurný

Musiker des DJKT (Tyl-Theater Pilsen)