Dresden: 5. Saisonkonzert der Sächsischen Staatskapelle

16. Dezember 2019 in der Semperoper

Von Beethovens „beinah Nullter“ zu seiner eventuell „zehnten Symphonie“

Der Musikwissenschaftler und Theologe Fritz Stein (1879-1961) fand 1909 in der Jenaer Universitätsbibliothek die Partitur einer Symphonie, bei der auf einer der Stimmen der zweiten Violine „par Luis van Beethoven“ zu lesen war. Nun hatte der junge Beethoven geäußert, dass er sich in seiner Bonner Zeit an einer Symphonie in C-Dur nach dem Vorbild von Haydns Sinfonie Nr. 97 versucht habe.

Mit der Unterstützung von Max Reger gelang es, das Fundstück in den Konzertplänen zu platzieren. Im Jahre 1911 erschienen die Noten sogar bei Breitkopf & Härtel im Druck und Reger arrangierte die Symphonie für Klavier zu vier Händen. Da aber Beethoven selbst 1795 seine ersten drei großen Klaviertrios als sein Opus 1 deklariert hatte, blieben die Nummerierungen der Reihe der neun Sinfonien unangetastet. Auch Bestrebungen, den Fund als Symphonie Nr. 0 einzuordnen, blieben ohne Erfolg, obwohl von Ludwig Schiedermair in seinem Buch „Der junge Beethoven“ 1925 seine Beethoven-Zuordnung bestätigt schien. Trotz der aufkommenden Zweifel an der Urheberschaft Beethovens, wurde das Werk als „Beethovens Jenaer Sinfonie“ gespielt. Die Ausformung der Bläserstimmen im vierten Satz hatte maßgebliche Musikwissenschaftler auf die Beethoven-Zuschreibung gebracht. Noch 1956 veröffentlichte die Deutsche Grammophon eine Vinyl-Einspielung der „Sinfonie C-dur (Jenaer Sinfonie)“ der Sächsischen Staatskapelle unter Franz Konwitschny. Der ausgewiesene Beethovenkenner Konwitschny kann aber die „Jenaer“ nur für eine Jugendsünde Beethovens gehalten haben. Die Regionalbibliothek Neubrandenburg archivierte erstaunlicherweise noch 1957die Partitur der Zuschreibung unter der Registriernummer 2651.

Erst als 1968 im Archiv des Benediktiner-Stiftes Göttweig Teile der Partitur mit einer eigenhändigen Signatur „Symphonia Authore Witt, Capellmagister Würzburg“ des tatsächlichen Schöpfers der Komposition Friedrich Witt (1770-1836) aufgefunden wurden, konnte der Streit der Musikwissenschaftler von H.C. Robbins Landon (1926-2009) beigelegt werden und Beethoven endgültig von der Zuschreibung des recht einfachen Werkes befreit werden.

Mit dieser kleinen Reminiszenz begann am 249. Geburtstag des Titanen für mich das Beethovenjahr 2020.

Die sächsische Staatskapelle eröffnete mit ihrem 5. Symphoniekonzert unter Christian Thielemann ihre Beethoven-Ehrung 2020. Auf dem Programm standen die drei ersten Symphonien des Bonner-Wiener-Meisters.

Ludwig van Beethoven wurde in einer Zeit gewaltiger politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, in deren Folge sich Europa massiv veränderte, hineingeboren. Eigentlich eine Situation, die sich für die gegenwärtige Menschheit durch Globalisierung und Klimaveränderungen in vergleichsweise ähnlicher Situation entwickeln werden wird. Beethovens Symphonien befassten sich mit den die Gesellschaft existenziell berührenden Problemen. Das Beethoven-Jahr 2020 wird uns massiv mit der gewaltigen Entwicklung der Neuner-Symphonien-Reihe beschäftigen. Wohl jeder Dirigent mit Namen hat in seiner Schaffenszeit eine oder mehrere Gesamtaufnahmen der Beethoven-Symphonien eingespielt. Sie halten die im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen des Beethoven-Bildes authentisch fest und sind so zu kulturhistorischen Dokumenten geworden. Wer aber heute Beethoven neu entdecken möchte, hat es angesichts der inzwischen geschaffenen gewaltigen Musik nicht leicht. Deshalb war unsere Spannung vor dem ersten in der Saison von Christian Thielemann bei der Staatskapelle geleiteten Konzert besonders hoch.

Die ersten beiden Symphonien werden oft als „Nach-Haydnsche Fingerübungen“ bewertet, was offenbar mit dem „ Jenaer Missverständnis“ zusammenhängen könnte. Denn bereits der Schritt von der ersten zur zweiten Symphonie ist ebenso groß, wie der von der Zweiten zur Dritten.

Die erste Symphonie in C-Dur des 29-jährigen Ludwig van Beethoven, 1799 bis 1800 als Opus 21 entstanden, bezieht sich in Anlage und Instrumentation noch deutlich auf die Vorbilder Mozart und Haydn. Deshalb war es durchaus angängig, dass Christian Thielemann vor allem diese Symphonie in einer romantisierenden Interpretation darbot und die Haydn-Anklänge nicht leugnete. Er markierte nicht den strukturell denkenden Analytiker, sondern zeigte sich als Stimmungsmusiker und Meister raffinierter Steigerungen. Trotzdem hatte alles Gewicht und selbst in der Ersten entdeckt man Anklänge an die revolutionäre Kraft der Eroica.

Diese heldischen Aspekte mit der Hinwendung zur dritten Symphonie verstärkte der Dirigent mit seiner Orchesterführung der zweiten Symphonie in D-Dur op. 36. Für Leichtigkeit oder gar Humorblieb bei dieser Auslegung kaum Raum. Den Interpreten interessiert das Erhabene und nicht das Tänzerische. Markant und kaum zurückhaltend wurden die Akzente gesetzt. Dabei blieb der Schönklang nicht auf der Strecke, wobei Christian Thielemann nicht nur Beethovens brillante Oberfläche zum Klingen bringt, sondern auch die Tiefen auslotete. Besonders beeindruckend gelangen die langsamen Passagen, denen anschließend Stauungen und prägnante Steigerungen des Tempos folgten.

In der dritten Symphonie in Es-Dur op. 55 glaubte man in Thielemanns dynamischen und variablen Spannungsbögen Vorausweisungen auf Anton Bruckner zu hören. Diese Mischungen aus Zelebrieren und Eskalieren waren nach meiner Auffassung keine billigen Effekte, sondern eine Beethoven-Auslegung auf der Höhe unserer Zeit.

Der Dresdner Klang der Staatskapelle erwies sich wieder einmal als reich, tiefgründig und ausgewogen. Die Holzbläserverströmten einen widerhallenden Glanz und die Blechbläser musizierten rund und weich. Nichts klang gepresst, grob oder rau, unabhängig wie laut das Orchester spielte. Es gab hinreißende Soli von Flöte, Oboe und Trompete. In diesem Orchester war kein schwaches Glied auszumachen, doch die Streicher waren sicherlich seine größte Pracht. Dazu ein Dirigent, der ihrer würdig war.

Frenetischer Beifall und stehende Ovationen dankten dem Dirigenten und den Musikern.

Und da wir drei Beethovensymphonien mit Interpretationen, die auf der Höhe unserer Zeit angekommen waren, erleben durften, hier noch etwas aktuelles für den Verehrer des Titanen: finanziert von der Marketingabteilung der Telekom, haben Musikwissenschaftler mit der Leiterin des Bonner Beethovenarchivs aus den dort archivierten Skizzenbüchern Beethovens dessen Ideen und Notizen für eine geplante zehnte Symphonie extrahiert. Ein Projektteam mit einem Filmkomponisten, einem Musikwissenschaftler, einem Musiker und mehreren Informationstechnikern versucht nunmehr, mit Arbeitsprinzipien der künstlichen Intelligenz dem Genie Beethovens auf die Schliche zu kommen. Aus den Fragmenten soll eine zehnte Symphonie Beethovens rekonstruiert werden. Ein Algorithmus wird die vielen Lücken der skizzenhaft hinterlassenen vielen Fragmente ausfüllen und soll zu einer aufführungsreifen Partitur gestaltet werden. Eine Uraufführung durch das Beethovenorchester ist für den 28. April 2020 in Bonn vorgesehen.

Die Meinungsvielfalt zum Vorhaben ist eine Gewaltige!

Thomas Thielmann 17.12.2019

Bilder (c) Matthias Creutziger