Dresden, Konzert: „Sächsische Staatskapelle“, unter Herbert Blomstedt

Der italienische Komponist Francesco Morlacchi (1784-1841) war von 1811 bis zu seinem Tode der Hofkapellmeister der italienischen Oper in Dresden. Am Palmsonntag des Jahres 1827 dirigierte er ein Konzert, dessen Erlös der Unterstützung für die Witwen und Waisen ehemaliger Musiker der Königlich musikalischen Kapelle diente. In der Folge begründete das Orchester die Einrichtung eines „Unterstützungsfonds für die Witwen und Waisen ehemaliger Musiker“ der aus dem Ertrag eines am Palmsonntag zu veranstaltenden Konzertes finanziert werden sollte und begründete damit die Tradition der Palmsonntagskonzerte der heutigen Sächsischen Staatskapelle. Mit dem Verein der „Witwen- und Waisenkasse der Sächsischen Staatskapelle e.V.“ lebt diese Tradition weiter.

In den letzten Jahren hatte das Engagements des Orchesters bei den Salzburger Osterfestspielen die Situation der Palmsonntagskonzerte etwas schwieriger gestaltet. Der Chefdirigent, ein leistungsfähiger Kern der Musiker und Teile des Stamm-Publikums richteten am letzten Sonntag vor der Karwoche in Salzburg die Osterfestspiele aus. Die Programmgestalter hatten zwar stets ein interessantes Konzertprogramm arrangiert, aber es blieb offen, die Tradition der Palmsonntagskonzerte mit Chefdirigaten, wie zu Amtszeiten von Herbert Blomstedt  und Sir Colin Davis (1927-2013), weiter zu führen.

(c) Matthias Creutziger

Bereits in seinem 10. Palmsonntagskonzert des Jahres 2012 führte, zu jener Zeit als Gastdirigent, Herbert Blomstedt das Schicksalslied des Johannes Brahms (1833-1897) mit einer Symphonie Anton Bruckners (1824-1896), damals seiner „Fünften“, zusammen.

Die „Psalmensymphonie für Chor und Orchester“ Igor Strawinskys (1882-1971) gilt als Auftragswerk des Musikdirektors des Boston Symphonie Orchestra“ Sergej Koussevitzky (1874-1951) zur 50-jährigen Jubiläums-Saison 1930/31 der Kapelle. Koussevitzky ließ dem Komponisten für die Wahl der Mittel und der Form völlige Freiheit. Nur der Abgabetermin der Partitur war exakt festgelegt. Der tiefreligiöse Strawinsky hatte sich 1926 wieder der russisch-orthodoxen Kirche angenähert. Er plante schon länger eine Vertonung von Psalmen mit Orchester und nutzte den Auftrag der Bostoner zur Umsetzung dieser Intension. Der Titel „Symphonie of Psalms“ ist nur erklärbar, weil Koussevitzky mit einem populären Orchesterwerk gerechnet hatte. Denn mit der klassisch-romantischen Symphonie verbindet die Komposition nur die zyklische Form. Dem Wortsinn „Symphonia= Zusammenklang“ wäre allerdings das gleichwertige Zusammenspiel eines gemischten Chores mit dem außergewöhnlich instrumentiertem Orchester entsprochen. Auch die Instrumentierung des Orchesters lässt vermuten, dass eine Übereinstimmung von Auftrag und Intuition des Komponisten nur zufällig waren. Der Verzicht auf Violinen, Bratschen und Klarinetten, dafür zwei Klaviere, massiveren Schlagwerk- sowie Bläsereinsatz gestalten den Orchesterklang recht spröde und trocken.

Als Texte nutzte Strawinsky die Psalmen 38, 39 und 150 der seit dem 7. Jahrhundert gebräuchlichen lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata. Er erläuterte „es ist keine Symphonie, in die ich Psalmen zum Singen eingebaut habe. Im Gegenteil, ich symphoniere den Gesang der Psalmen“.

Der betagte Ehrendirigent der Kapelle Herbert Blomstedt ließ sich zwar zum Dirigentenplatz begleiten, aber nicht führen. Kaum hatte er seinen Sitz eingenommen, schienen alle körperlichen Einschränkungen von ihm abzufallen und er dirigierte unter vollem Einsatz beider Arme den Chor und das Orchester.

(c) Matthias Creutziger

Herbert Blomstedt interpretierte mit dem Sächsischen Staatsopernchor und der Sächsischen Staatskapelle Strawinskys Glaubensbekenntnis. Nach der Einleitung mit ihren schroffen Akkordschlägen ließ Blomstedt den Chor den Psalm 38 mit einem monotonen, aber intensiven Klangflehen mal steigern und dann wieder abschwellen bis einen gewaltigen Ausbruch des „patres mei“ das Klangbild löste. Eine sensibel musizierte Holzbläser-Fuge führte ohne Pause zum zweiten Teil mit seinem besonders ausdrucksvollen kunstvoll entwickelten Chorsatz. Mit feierlicher Größe und Klarheit schloss Herbert Blomstedt den einprägsamen Ruf des abschließenden „Laudate“ an und verband mit seiner Interpretation Spannung mit hinreißender Energie. Die Leuchtkraft der aufsteigenden Tonreihen der Soprane vereinigte sich mit den rhythmischen Ballungen des Orchesters zu einem zuversichtlichen Finale. Der von André Kellinghaus vorzüglich vorbereitete Staatsopernchor sang seinen schwierigen Part rhythmisch sehr genau, dabei sauber mit Fülle und Glanz in der Intonation.

Von Anton Bruckners (1824-1896) Werken ist seine 6. Symphonie zweifelsfrei das „Aschenputtel“, denn sie wurde nicht nur zu seinen Lebzeiten arg vernachlässigt. Begeistert von den Eindrücken der umfangreichsten Reise seines Lebens durch Süd-Deutschland und der Schweiz, komponierte er das  A-Dur-Werk als einen Lobgesang auf die Schönheiten der Erde. Damit unterscheidet sich die „Sechste“ von seinen anderen Symphonien, die vor allem von seinem Weihbedürfnis, seinem Inneren angeregt waren.

Als ich bei der Vorbereitung auf das Konzert, die mir erreichbaren Einspielungen Herbert Blomstedts der Symphonie anhörte, war ich fasziniert, welche unterschiedlichen Aspekte der oft verkannten Brucknerkomposition der Interpret im Laufe seiner langen Dirigententätigkeit entwickelt hatte. Auch in Blomstedts Dirigat des heutigen Palmsonntagskonzertes waren interessante, bisher noch nicht gehörte  Facetten zu entdecken.

Im Kopfsatz ließ er den Streicherrhythmus außergewöhnlich feinfühlig beginnen und gönnte seinen Hörern einen entspannten Einstieg. Aus diesem dämmernden Zwielicht entwickelte er, wie an einem Morgenspaziergang mit einem Sonnenaufgang, den vollen Glanz des Orchesters mit einer prachtvollen Oboen-Betonung. Mit dem Adagio nutzte Blomstedt die Klangtiefe der Streicher der Staatskapelle für eine großzügige emotional modulierte Klangentwicklung, ohne dabei in ein pedantisches Ergießen zu verfallen.

Das wunderbar breite dynamische Spektrum Blomstedts offenbarte sich am imposantesten mit dem Scherzo, wo Bruckners Kontraste von den Musikern mit Begeisterung in den Konzertraum transportiert wurden. Den täuschend bestrickenden Anfang des Finales mit seiner Siegesfanfare auf die Themen der vorangegangenen Sätze zurückzuführen, ohne dabei die Spannung zu verlieren, war das Meisterstück der Darbietung. Das Thema des ersten Satzes fast überbetont aufleuchten zu lassen, den Adagio-Rückgriff gerade nicht zu unterschlagen und mit vom Scherzo Kompaktes abzuschließen, war schon eine Besonderheit. Verursacht doch offenbar diese Finalsatz-Konstruktion die geringe Beliebtheit der Brucknerschen Sechsten.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass das vollständig besetzte Auditorium stehend applaudierte. Herbert Blomstedt ließ es sich nicht nehmen, Publikum und die Musiker seinerseits zu würdigen und noch mehrfach, dann aber am Arm der Assistentin des „Noch-Chefdirigenten“, auf das Podium zurückzukommen.

Thomas Thielemann, 1. April 2023


Semperoper Dresden

1. April 2023

Igor Strawinsky: Psalmensymphonie

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 6 A-Dur WAB 106

Musikalische Leitung: Herbert Blomstedt

Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Leitung: André Kelling

Sächsische Staatskapelle Dresden