Hamburg: „Manon“, Jules Massenet

NO RISK, NO FUN

So lautet das Lebensmotto vieler junger Menschen. Das war zur Zeit, als der Abbé Prévost sein moraliserendes Lehrstück "La Véritable histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut" verfasste (1731) nicht anders als hundertfünfzig Jahre später, als sich Jules Massenet des Stoffs annahm und eines seiner schönsten und ergreifendsten Werke für die Opernbühne schuf. Und auch heute kennen wir alle aus eigener Erfahrung oder aus den Medien, welche Risiken man für etwas Vergnügen oder einen kurzen Moment "Berühmtheit" in Kauf zu nehmen bereit ist. So verwundert es nicht, dass sich diese Oper ganz besonders für eine szenische Umsetzung eignet, die sie näher an unsere Zeit bringt. Das haben der Regisseur David Bösch, der Bühnenbildner Patrick Bannwart, der Kostümbildner Falko Herold und der Lichtdesigner Michael Bauer dann auch auf geradezu kongeniale Weise getan. Diese hoch spannende Produktion ist exemplarisch für intelligentes, wohl durchdachtes Musiktheater für das Hier und Heute.

Jedes der sechs Bilder wird durch eine kurze Videosequenz (schwarzweiß gedreht) eingeleitet, darin wird mit einem Titel versehen und das Leben einer Katze spielt darin auch eine allegorische Rolle. Diese Katzenidee ist nicht etwa eine absurde regietheaterliche Kopfgeburt, sonder beruht auf einer Stelle im Libretto, wo Manon sich an die Katze erinnert, die zu den Anfängen ihrer Liebe in der kleinen Wohnung in Paris mit ihr und Des Grieux zusammengelebt hatte. Manon läuft die Katze im ersten Bild zu. Zu Beginn des zweiten Bildes sitzt die Katze am Fenster, springt dann auf den Schreibtisch, hinterlässt üble Tintenkleckse auf dem Brief, den Des Grieux an seinen Vater schreibt. Für das dritte Bild haben sich die Videodesigner Patrick Bannwart und Falko Herold eine ganz besondere Zeichentrickfilm Sequenz ausgedacht: Eine Revue-Katze, die sich kaleidoskopisch vervielfacht. Vor der Szene in der Kirche St.Sulpice sehen wir Fotos von Manon und der Katze, später stellt Des Grieux dann wirklich einen Futternapf hin. Die zweitletzte Filmeinleitung kommt ohne Katze aus man vermisst sie schon schmerzhaft (wir sehen nur eine rotierende Pistole und Roulettetische. Bevor sich der Zwischenvorhang zum letzten Akt öffnet, wissen wir dann auch warum:

Die Kamera folgt Katzenspuren im Schnee und bleibt an dem leblos im Blut liegenden Katzekörper hängen. So konsequent durchdacht und umgesetzt ist die gesamte Inszenierung. Jeder Charakter wird detailreich gezeichnet, z. B. der spielsüchtige Lescaut, der zu Beginn in seiner Lederjacke und den engen Jeans und seinem jungenhaften, nonchalanten Auftreten noch eine gewisse Sympathie genießen könnte, dann jedoch neben der Spielsucht zusehends mit Alkohol- und Drogenmissbrauch (erst Kokain schnupfend, dann intravenös noch härteres Zeugs zu sich nehmend) verbunden mit unkontrollierten Gewaltsausbrüchen jegliche Empathie verspielt. Björn Bürger spielt ihn mit phänomenaler Darstellungskraft und lässt mit seiner sicher geführten und markant timbrierten Baritonstimme aufhorchen. Ein starkes Rollenportrait liefert auch Daniel Kluge als rachsüchtiger (kann man irgendwie verstehen), stinkreicher Guillot-Morfontaine ab. Sein heller Tenor passt perfekt zum leicht erzürnbaren Charakter dieses Schürzenjägers. Nobler klingt der Bariton seines Saufkumpanen de Brétigny, der schließlich die luxussüchtige Manon mit seinem Reichtum blendet und ihr für kurze Zeit (in dieser Inszenierung) den Ruhm als Sängerin in einem Glitzerkasino ermöglicht. In weiteren mittleren und kleineren Rollen überzeugen Wilhelm Schwinghammer als Vater Des Grieux, Norea Sun als Poussette, Ulrike Helzel als Javotte, Kady Evanyshyn als Rosette, David Minseok Kang als gerne mit dem Fleischerbeil drohender Wirt und Florian Panzieri und Han Kim als Gardisten. Sie alle machen diese Oper zu einem aufregenden, spannenden Theaterabend.

Endlich darf man in der Oper wieder einmal ein auf jede Szene angepasstes, stimmiges Bühnenbild blicken, muss sich nicht mit einem Einheitsbühnenbild in einer sterilen "Schöner Wohnen" Sitzlandschaft abfinden. Das bedingt zwar (dank ausgeklügeltem Konzept) kleinere Umbaupausen, die man aber gerne in Kauf nimmt, wenn man dadurch einer Drehbühne in Dauerbewegung für einmal entgehen kann. Wunderbar ist gerade die Szene in der Kirche St.Sulpice gelungen, wo hinten dran bereits wieder der Glitzervorhang der Spielhölle des Hotels de Transylvanie droht. Hier ist dem Regisseur eine ganz besonders plausible Wendung für die NO RISK – NO FUN Thematik eingefallen: Sie spielen Russisches Roulette im Hotel! Dabei erschießt Manon den Guillot. So wirkt auch ihre Verhaftung glaubwürdiger.

DAS LIEBESPAAR

Elbenita Kajtazi ist eine Name, den man sich unbedingt merken muss. Was für eine wunderschöne, jugendlich-frische Stimme, ein Sopran, der mit seiner ungetrübten Leuchtkraft perfekt zu der erst naiv geschwätzigen Göre (Je suis encore tout étourdie) und später zu dem vergnügungssüchtigen Teenager passt. Immer aber wieder findet sie auch zu ausdrucksstarker, inniger Lyrik und Selbstreflexion (Voyons, Manon und Adieu notre petite table). Die mit Koloraturen geschmückte Arie "Je marche sur tous les chemins" im dritten Bild meistert sie mit Bravour im Glitzeroutfit und mit weißem Hermelinmantel im Kasino. Das "N’est-ce plus ma main?" im Kirchenbild ist dermaßen überzeugend vorgetragen, dass man sehr wohl begreift, wenn Des Grieux die eben erst erworbene Soutane bereits wieder an den Nagel hängt, um ihr in den Vergnügungsstrudel zu folgen. Benjamin Bernheim ist dieser Des Grieux, der der femme fatale verfallene junge Mann, der ihretwegen auch bereit ist, jedes Risiko einzugehen. Bernheim vermag in jeder Rolle seines klug ausgewählten Repertoirs zu begeistern, aber die des Des Grieux in MANON scheint ihm ganz besonders zu liegen, seine Interpretation ist zum Niederknien. Die Stimme strahlt mit bestechender Sicherheit, gekonnt setzt er die voix mixte ein (En fermant les yeux) und dringt mit der tief empfundenen Emphases in "Ah! Fuyez, douce image" tief in diee aufgewühlte Seele vor. Die Duette der beiden Protagonisten sind ein klanglicher Hochgenuss, der vom Publikum zu Recht mit vielen Bravi-Rufen gewürdigt wurde.

Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters stand Nicolas André, der es auf fantastische Art verstand, raffinierte Stimmungen zu zaubern, ohne allzu aufdringlichen Parfumduft zu verbreiten (was bei Massenet schnell mal passieren kann). Die Premiere dieser Produktion fiel 2020/21 in die Corona-Pandemie. Deshalb hatte man darauf verzichtet, den Chor auf die Bühne zu holen. Das hat man nun für die Wiederaufnahme beibehalten, der Chor singt aus den vorderen Logen im ersten und zweiten Rang. So nimmt er eine fast antike Rolle des Kommentierens ein. Passt!

Diese wunderbare, begeisternden Aufführung ist leider nur für zwei Vorstellungen in dieser Spielzeit geplant, die letzte findet also bereits am 24. September statt. Unbedingt empfehlenswert, die Besetzung ist Weltklasse, die Inszenierung eine Wucht und das Werk einfach wunderschön. Wenn am Ende die beiden Liebenden sterben und Manon mit den Worten "Et c’est là l’histoire de Manon Lescaut" das Leben aushaucht, ist man echt be- und gerührt.

P.S.: Die beiden Artikel des Dramaturgen Detlef Giese im Programmheft über die Inszenierung und über das Werk sind meisterhaft verfasst – so muss ein Programmhefte gemacht werden!

Kaspar Sannemann, 22.9.22

Bilder (c) StOp Hamburg