Hamburg: „Turandot“

Vorstellung am 16.3.2022

Peinliche Buhrufe

Einem Happy End einer Geschichte traut man heutzutage kaum noch, zu düster sind Zeitgeist und Realität der Gegenwart. So macht auch die Regisseurin Yona Kim in ihrer Neuinszenierung von Puccinis letzter Oper das Märchen um die "von Eiseskälte umgürtete" chinesische Prinzessin zu einem Gänsehaut erregenden Schauerstück. Sie misstraut der letzten von Puccini noch gebilligten Fassung des Librettos – für einmal zu Recht. Denn Puccini rang 1924 nicht nur um sein Leben (Kehlkopfkrebs), sondern auch um das Ende seiner Oper TURANDOT. Knapp drei Monate vor seinem Tod haderte er noch immer mit der Fassung des Schlussduetts, sah schwarz, wie er seinem Librettisten Adami schrieb. Ein Ende zu komponieren schaffte der Todkranke nicht mehr. Bei der Uraufführung eineinhalb Jahre später brach Toscanini die Vorstellung nach der letzten Note aus Puccinis Feder (dem Tod Liùs) ab. Zwei Tage später wurde dann die vom Komponisten Franco Alfano vollendete Fassung gespielt, mit dem leidenschaftliche Liebe zwischen Turandot und Calaf vorgaukelnden Schlussduett. Diese Fassung (mit einem kleinen Strich) wurde nun auch in Hamburg gespielt, wobei wie erwähnt dem Paar der glückliche Ausgang verweigert wird: Turandot erdolcht Calaf und wird wohl danach selbst von den Schergen des Kaisers hingerichtet. Yona Kim bietet uns eine genau auf Musik und Text basierende Interpretation der Schauergeschichte, deren Grundthema die Liebe ist, nicht auf Rosamunde-Pilcher-Art, sondern die im Programmheft vermerkte Definition der Dreifaltigkeit der Liebe des Marquis de Sade aufnehmend: "Das Zartgefühl ist der Schatten, die Wollust der Körper und die Grausamkeit der Geist der Liebe."

Liù stellt also das Zartgefühl der Reinheit dar, Calaf ist von Begierde, von Eroberungs- und Wollust getrieben und Turandot verteidigt ihre feminine und sexuelle Selbstbestimmung mit unerbittlicher Grausamkeit. Das gigantische Bühnenbild von Christian Schmidt mit der angedeuteten Art-déco Architektur und die faschistische Elemente verwendenden Kostümen von Falk Bauer evozieren ein bedrückendes Klima der Angst und der Gewalt. Die grotesken Figuren der drei Minister Ping, Pang und Pong mit ihren wie Gruselclowns geschminkten Gesichtern und die gespenstischen Bewegungen des Chores verstärken das gruselige, parabelhafte Geschehen noch zusätzlich. Yona Kim hat auch in der szenischen Gestaltung der Auftritte herausragende Arbeit geleistet, hat Vorder-, Mittel- und Hinterbühne konsequent genutzt und so das Auge wirkungsvoll auf das Wesentliche gelenkt. Überraschenderweise haben sie und der Dirigent Giacomo Sagripanti die musikalische Zäsur, welche nach dem Tod Liùs entsteht, nicht überspielt. Liù wird aufgebahrt, mit weißen Chrysanthemen bedeckt, zugleich werden Fotografien von Puccinis Leichnam projiziert und es folgt eine Generalpause, bevor das Alfano-Finale einsetzt.

Die gesamte Aufführung besticht durch einen geradezu unheimlichen Sog. Dieser Sog reicht von dem mit überraschend schnellen Tempi aufwartenden Dirigat von Giacomo Sagripanti und dem überaus transparent aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, über den kraftvoll und mitreißend singenden Chor der Staatsoper zu den lupenrein intonierenden Alsterspatzen (Einstudierung: Eberhard Friedrich und Luiz de Godoy) und der phänomenalen Besetzung. Anna Smirnowa singt die hochdramatische Titelpartie mit bombensicher attackierender, stählerner Kraft, ungefährdeten, trompetenhaften Tönen, lässt an wenigen Stellen aber auch eine verborgene Verletzlichkeit und oft ihren gewaltaffinen Charakter durchschimmern. Das ist einfach grandios. Ein Ereignis der Sonderklasse bietet der ebenso strahlkräftige Tenor von Gregory Kunde als Calaf. Der Sänger hat seine Karriere dermaßen klug aufgebaut, dass er nun mit 68 Jahren über eine Schönheit des Timbres und eine sagenhafte Technik verfügt, die einen bass staunen machen und das Ohr erfreuen. Da könnte sich manch jüngerer (und höher gehandelter) Tenor eine Scheibe von abschneiden. Guanqun Yu hat als Sympathieträgerin in dieser düsteren Gesellschaft das Publikum natürlich von Anfang an auf ihrer Seite – verdientermaßen, denn sie sorgt mit ihren beiden wunderbar einfühlsam gestalteten Arien und den lichten Einwürfen in den Massenzenen für exquisite musikalische Momente, eine Reminiszenz an die typischen Puccini-Frauengestalten wie Mimì oder Cio Cio San. Eine gewichtige Rolle in der Oper spielen die beiden Vatergestalten, über deren Bedeutung die Regisseurin im Programmheft mit kluger Analyse eingeht. Liang Li als Calafs Vater Timur bringt seine unmöglichen Anforderungen an den Sohn mit seinem warmen, runden Bass vor. Der alte, gebrechliche Kaiser Altoum hat genauso egoistische Forderungen an seine Tochter Turandot. Jürgen Sacher zeichnet ein gelungenes Porträt dieses Machtmenschen. Die Commedia dell’Arte Figuren von Ping, Pang und Pong bringen normalerweise etwas Humor und Sarkasmus in die Handlung. In dieser Inszenierung tragen sie zum grotesken Grauen bei, eine Hand ist bei ihnen blutbefleckt die andere schwarz behandschuht. Mal in Bowlerhüten, dann in sommerlichen Strohhüten geben sie ihr opportunistisches Wesen preis. Roberto de Candia, Daniel Kluge und Seungwoo Simon Yang gestalten dieses Gruseltrio hervorragend. Blutbefleckt sind auch die Hände des Mandarin, der von Chao Deng mit grosser Eindringlichkeit gesungen wird.

Neben der beabsichtigten bitteren Note des Endes schlich sich in der gestrigen Vorstellung eine noch bitterere Note während des Applauses ein: Da buhten doch tatsächlich ein paar wenige, aber lautstarke Flegel die Russin Anna Smirnowa aus, die verständlicherweise sichtlich irritiert war. Die Buhs konnten nicht ihrer künstlerischen Leistung an diesem Abend gegolten haben (denn die war phänomenal!), sondern bezogen sich schlicht auf ihre Nationalität. Das ist ein abscheuliches Verhalten gegenüber Künstlern, das ich zutiefst verurteile. Wir leben tatsächlich in düsteren, unreflektierten Zeiten!

Kaspar Sannemann, 17.3.2022

Bilder (c) Hans Jörg Michel