Hamburg: „Wilhelm Tell“

besuchte Aufführung 26. März 2016

Rechtspopulist statt Freiheitskämpfer

Unter „Grand opéra“ verstand man im Frankreich des 19. Jahrhunderts Opern meist über historische Ereignisse für virtuose Gesangssolisten, grosse Chöre und Doppelchöre, mit eingängigen Melodien und grossem Orchester, das auch Ballette begleitete und Natur- und Schlachtenszenen musikalisch untermalte. Quasi erfunden hat diese Gattung – ganz unterschiedlich zu seinen früheren Opern – Gioachino Rossini mit seiner letzten Oper in vier Akten „Guillaume Tell“ auf einen Text von Etienne de Jouy und Hippolyte Bis. Als literarische Vorlage verwendeten sie – zum Teil mit veränderten Namen – Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“

Diese „grosse Oper“ wurde jetzt in der Staatsoper Hamburg aufgeführt unter der musikalischen Leitung von Gabriele Ferro in der Inszenierung des Schweizers Roger Vontobel.

Da die Regie des letzteren einen anderen Wilhelm Tell als den Freiheitskämpfer zeigt, wie wir und auch wohl die Autoren der Oper ihn zu kennen glauben, soll zuerst die musikalische Seite gewürdigt werden, denn darin lag vor allem die Stärke der Aufführung

Nicht dem Titelhelden ist die musikalische Hauptpartie anvertraut, sondern einem Liebespaar in Romeo-Julia-Verhältnis, aber hier mit „happy end“. Arnold, Sohn des Schweizers Melchthal, – ungefähr Ulrich von Rudenz bei Schiller – und die habsburgische Prinzessin Mathilde – ungefähr Berta von Bruneck bei Schiller – lieben sich. Arnold wird nun zerrissen zwischen dieser Liebe und Pflicht, für die Freiheit seines Volkes zu kämpfen, dies um so mehr nach der Ermordung seines Vaters durch Habsburger Soldaten. Stimmlich erfordert diese gefürchtete Partie einen ganz hohen Tenor. 19 mal hat er, wie Jürgen Kesting im Programmheft angibt, das hohe C und zweimal sogar das um einen Halbton höhere cis zu singen. Dies bewältigte Yosep Kang mit einer fast unglaublichen Treffsicherheit und anscheinend ganz mühelos. Auch Legato-Bögen und verschiedene Stimmfärbungen, etwas weicher p, wenn seine Liebe zu Mathilde ausgedrückt werden sollte, heldischer bei Kriegsgesängen. Wenn er im vierten Akt die Schweizer auch mit hohen Spitzentönen zur Rache aufrief, klang das wie eine Vorwegnahme der Stretta aus dem „Troubadour“

Ebenso vollendet sang Guanqun Yu seine geliebte Mathilde. Schon in ihrer Auftritts – „Romanze“ im zweiten Akt bewies sie ihr Können mit Legato im p, sauber getroffenen Spitzentönen und perlenden Koloraturen. Das Duett der beiden Liebenden im zweiten Akt und das über Trennungsschmerz zu Beginn des dritten Akts waren die musikalischen Höhepunkte des Abends, vom Publikum als „Traumpaar“ für diese Oper mit entsprechendem Zwischenapplaus gefeiert. Insofern war es folgerichtig, die Pause erst nach dem zweiten Duett der beiden beginnen zu lassen

Für die Titelpartie fehlten Sergei Leiferkus zu Beginn etwas Durchschlagskraft für die ganz tiefen Töne, sein Französisch war ziemlich unverständlich. Wohl regiebedingt wirkte er etwas ältlich, ganz ergreifend gelangen ihm Bitten an Gessler und Segnung seines Sohnes vor dem Apfelschuß in p – Kantilenen. Diesen Sohn Gemmy, bei Rossini sein einziger, sang als Hosenrolle Christina Gansch mit leuchtendem Sopran, deutlich verständlich auch zusammen mit Chor und Orchester. Hier war man erinnert an ihren ebenso geglückten Ascanio (Ascagne) in den „Trojanern“ im Herbst. Mit in allen Lagen volltönendem Baß gab Vladimir Baykov den bösen Gessler, rollengemäß auch mit schneidend scharfen Tönen. In ihrem kurzen Auftritt als Gemmys Mutter Hedwig beeindruckte wie gewohnt Katja Pieweck mit ihrer weichen volltönenden Altstimme. Von allen war ihr Französisch am meisten verständlich. Mit würdevollem Baß sang Kristinn Sigmundsson den alten Melchthal, spielen mußte er ihn als gebrechlichen nur mit medizinischer Betreuung auftretenden Pflegefall. Die kleineren Partien waren passend besetzt mit dem wie immer verläßlich singenden Jürgen Sacher als Harras, mit dem mit grossem Baß den besserwisserischen Walther Fürst darstellenden Alin Anca, mit Nicola Amodio als Fischer und Bruno Vargas als Leuthold.

In weiten Teilen ist Guillaume Tell eine Choroper, das zeigten erfolgreich der Chor verstärkt durch den Extrachor der Herren in der Einstudierung von Eberhard Friedrich, exakt auch dann, wenn er vielfach geteilt und a capella sang. Allerdings durfte er regiebedingt auch immer ruhig in Gruppen stehend singen.

Gabriele Ferro leitete das musikalische Geschehen, er ist ja kein auf italienische Oper beschränkter Dirigent. So kann sich der Verfasser an ein Konzert unter seiner Leitung als ganz junger Gastdirigent in Münster im Jahre 1970 erinnern, wo er Dvořák dirigierte und Christoph Eschenbach mit Beethovens erstem Klavierkonzert begleitete. Für „Tell“ wählte er zunächst breite Tempi, einige Wackler gab es nur zu Beginn, vielleicht auch, weil z.B. der populäre letzte Teil der Ouvertüre von der bereits auftretenden Festgesellschaft des ersten Aktes förmlich zertrampelt, wurde. Dann steigerte er Tempo und Beweglichkeit bis zum Schluß. Von den Orchestersoli waren vor allem die Bläser, hier die Hörner im p, und die Celli in der Ouvertüre und in Tells Szene vor dem Apfelschuß zu loben.

Für dieses musikalische Geschehen gab den Rahmen die Inszenierung von Roger Vontobel. Wie das bei Opern inszenierenden Schauspiel-Regisseuren vorkommt, inszenierte er nicht die Musik mit Text, sondern eine Interpretation des Stoffes, die er der Oper überstülpte. Letztlich ging es ihm darum, auf rechtskonservative, auch fremdenfeindliche Stimmung in der heutigen Schweiz hinzuweisen, als deren Protagonisten er Tell darstellen wollte. Damit der unbedarfte Besucher dies auch kapierte, gab es im Programmheft dazu eine lange Erklärung von Dramaturg Albrecht Puhlmann , passender sind Inszenierungen, die der Zuschauer ohne solche Belehrungen versteht. Um Tell zu einem fremdenfeindlichen Volksverhetzer umzufunktionieren, wurde die Macht der Bilder bemüht, vor allem des Panoramabilds eines Malers Ferdinand Hodler aus dem 1915, das in kraftmeierischer Pose den Rütli-Schwur darstellt und den gesamten Bühnen-Hintergrund einnahm. (Bühnenbild Muriel Gerstner). Bis zum Rütli-Schwur war es zum größten Teil verdeckt (en état de restauration) , nach dem Schwur erstrahlte es in voller Grösse, von Gesslers Schergen wurde es schwarz übermalt, zum Finale stellten dann Tell und seine Schweizer lebend das Bild nach (Restauration finie) Von diesem Bild stammten auch das verdächtige Grüssen mit erhobenem Arm der Schweizer untereinander – nun wußten wir endgültig, was gemeint war! Für die Naturszenen gab es reichtlich Bühnennebel.

Klaus Bruns kostümierte Gesslers Soldaten wie gewohnt in schwarz mit Kalaschnikows, die Schweizer in bunt, Tell und Gesser zunächst in ganz ähnlichen Zivilanzügen. Schwarz-gelb mit entsprechendem Schal war Mathilde gekleidet – in diesem Fall die Farben Habsburgs. Um Arnold von seiner Liebe zu Rachegefühlen hin abzulenken, tauchte der ermordete Melchthal mit grosser Wunde am Kopf ähnlich Hamlets Vater immer wieder auf. Zum Schluß töteten die Schweizer Gessler und seine Mannen, indem sie sie mit roter Farbe bestrichen. Tell sollte eben weniger geübter Seemann und Bogenschütze sein, deshalb mußte er sich beim Apfelschuß auch von einem Überläufer aus Gesslers Armee helfen lassen, als vielmehr Ruhm-süchtiger Patriarch,

Das Haus war nicht ausverkauft (Ostern und Fußball!) Die Besucher applaudierten passend mit Bravo-Geheul dem jungen Liebespaar, dann Gemmy, Hedwig, Gessler, Tell, den anderen Solisten und dem Dirigenten auch stellvertretend für das Orchester.

Sigi Brockmann 28. März 2016

Fotos Brinkhoff/Mögenburg