Stuttgart: „Siegfried“

Besuchte Aufführung: Premiere der Neueinstudierung am 9.10.2022

Ernste Untertöne in einer heiteren Komödie

Richard Wagner hat Zeit seines Lebens immer gerne zurückgeblickt auf bereits von ihm Geschaffenes. Eine solche Rückschau vollführte jetzt auch die Stuttgarter Staatsoper, wenn sie im Rahmen ihres neuen Rings bei dem zweiten Abend der Tetralogie, dem Siegfried, nicht eine Neuproduktion zur Diskussion stellte, sondern auf die altbewährte, hervorragend gelungene Inszenierung des Regieduos Jossi Wieler/Sergio Morabito aus dem Jahr 1999, für die Anna Viehbrock das Bühnenbild und die Kostüme schuf, zurückgriff. Dieser Produktion begegnete man gerne wieder. Sie ist in hohem Maße gelungen.

Wieler und Morabito fassen den Siegfried entsprechend dessen Scherzo-Charakter zwar als Komödie auf, garnieren diese aber mit vielfältigen ernsten Untertönen. Einen gehörigen Schuss Sozialkritik lassen sie bereits zu Beginn in ihre Interpretation einfließen, wenn das biedere, Cordhosen und Strickjacke tragende Hausväterchen Mime als Einwanderer aus Nibelheim und der im Sportdress auftretende Rüpel Siegfried in einem schäbigen, heruntergekommenen Hinterhof hausen. Hier befinden sich ein Tisch, Stühle, ein Sofa, ein Elektroherd, eine Obstkiste und ein Malerkasten. Auch eine traditionelle Schmiede mit Amboss und Blasebalg fehlt nicht. Als Ausgestoßene aus der Gesellschaft führen die beiden Streithähne hier ein eher dürftiges Leben. Der sozialen Tristesse ihres Daseins korrespondieren aber auch etliche heitere Momente, mit denen das Regieteam diesen ernsten Kontext gekonnt angereichert hat. Vergnüglich ist schon der Auftritt des den Schriftzug Sieg Fried auf seinem T-Shirt tragenden Titelhelden in einem Bärenfell. Dieses Hemd wird im Lauf der Aufführung immer mehr mit Blut getränkt. Zum Schmunzeln gab auch die Szene Anlass, in der Mime etliche Jahrhunderte vor der Entdeckung Amerikas Kartoffeln schält. Nicht weiter verwunderlich ist, dass Siegfried der ihm von seinem Ziehvater aufgetischte Kartoffelsalat überhaupt nicht schmeckt und er ihn deshalb wütend zu Boden schmeißt. Wenn er aber gleich darauf beginnt, ihn schuldbewusst mit einem kleinen Handfeger wieder zusammenzukehren, wird deutlich, dass er auch eine sensible, reumütige Seite hat, die man von ihm so nicht erwartet hätte. Dem entspricht es, dass er sich besinnt und dann zum gemeinsamen Abendessen mit Mime wieder ruhig an den Tisch setzt. Der Höhepunkt an Komik wird im dritten Aufzug erreicht, in dem Brünnhilde am Tisch eines eleganten Gemaches sitzend erwacht. Einfach köstlich, wie sich Siegfried, der nun endlich das Fürchten gelernt hat, aus lauter Angst vor ihr in einen Schrank zurückzieht. Ungemein heiter war auch, wie die ehemalige Walküre im Folgenden alles daran setzte, ihn ins Bett zu kriegen, was sie am Ende auch schaffte.

Neben solchen komischen Einlagen gelingen Wieler und Morabito aber auch beklemmende und gesellschaftskritische Momente. So wenn der Wanderer als anonym die Welt durchschweifender ehemaliger Mafiaboss im Lederdress Mime als schwächstes Glied der Gemeinschaft mit der Wissenswette und vorgehaltener Pistole, die am Ende der Szene eine Ladehemmung hat, gleichsam eine Partie Russisches Roulette aufzwingt – eine äußerst krasse, aber doch sehr stimmige Deutung dieser oft in Langeweile erstickenden Auseinandersetzung zwischen Gott und Zwerg. Von Anfang an ist hier klar, dass Mime gegen Wotan keine Chance hat. Die vom Göttervater in kriminaltechnischer Manier an die Wand gemalten Körperumrisse symbolisieren das baldige Ende des Nibelungen – ein Kontrahent weniger im Kampf um den Ring.

In einem düsteren Ambiente findet der zweite Aufzug statt, den Wieler und Morabito in eine dunkel ausgeleuchtete Gefahrenzone verlegen, vor deren Zaun der Kettenraucher Alberich unruhig hin und her wandelt- die schnellen Stellungswechsel gelingen wohl mit Hilfe eines Doubles – und ungeduldig auf den Bezwinger des Wurms wartet. Fafner wird als ruhig auf einem Stuhl – dieser befindet sich unter einer fahles Licht ausstrahlenden Lampe – sitzender Bunkerwart vorgeführt, der in keinster Weise gefährlich wirkt und eigentlich nur in Ruhe gelassen werden will. Andererseits hat er die Aufgabe, unerwünschte Eindringlinge abzuwehren. Und diese Pflicht erfüllt er gewissenhaft, wenn er auch gegen Siegfried keine Chance hat. In diesem beklemmenden Umfeld kommt der Natur keine Funktion mehr zu. Sie ist zerstört. Hier gelingt den beiden Regisseuren ein eindringliches Plädoyer für den Naturschutz. Untermauert wird ihre Warnung an den sich gegenüber den Bedürfnissen unserer Umwelt acht- und gewissenlos verhaltenden Menschen durch die Zeichnung des Waldvogels als blindes Mädchen. Auch die karge Entbindungsstation mit den Wiegen der Walküren, in der Wotan Erda noch einmal trifft, hat schon bessere Tage gesehen. Der Abstieg der alten (Götter-) Generation wird angesichts solcher Bilder nur zu offenkundig. Ob die Welt sich aber unter dem mörderischen Haudrauf, der sich da am Ende etwas plump und nicht unlustig zu Brünnhilde auf das elegante Herrenbett stürzt, ändern wird, bleibt abzuwarten.

Bei den Sängern hielten sich Positiva und Negativa die Waage. Daniel Brenna war rein schauspielerisch ein ausgezeichneter Siegfried. Er hatte die regiemäßige Anlage der Figur trefflich verinnerlicht und auch tadellos umgesetzt. Rein gesanglich war er mit seinem total in der Maske sitzenden Tenor nicht überzeugend. In puncto gut gestützter Stimme und edlem Timbre war ihm der durchaus nicht böse, sondern recht sympathisch wirkende Matthias Klink in der Rolle des Mime stark überlegen. Mehr stimmliche Rundung hätte man sich von Tommi Hakala s Wanderer gewünscht. Ebenfalls lediglich mittelmäßig klang Alexandre Duhamel als Alberich. Insbesondere in der Höhe neigte er einige Male dazu, vom Körper wegzugehen. Eine sehr geradlinige Leistung erbrachte der wunderbar sonor singende David Steffens in der Partie des Fafner. Eine in jeder Lage sauber und gefühlvoll geführte, ansprechende Mezzosopran-Stimme, die problemlos bis zum hohen as heraufreichte, brachte Stine Marie Fischer für die Erda mit. Von der Sieglinde in der Walküre zur Brünnhilde im Siegfried gewechselt hat Simone Schneider. Ihr gelang ein fulminantes Rollendebüt. Mit herrlich italienisch geschultem, profundem, farbenreichem und höhensicherem dramatischem Sopran zog sie alle Register dieser schwierigen Rolle, als einer deren besten Vertreterinnen sie sich an diesem Abend erwies. Das war eine ganz phantastische Leistung! Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis sie auch die anderen beiden Brünnhilden singt. Wann wird man diese ausgezeichnete Sängern endlich einmal in Bayreuth erleben? Einen soliden vokalen Anstrich verlieh Beate Ritter dem Waldvogel.

GMD Cornelius Meister hatte das beherzt und gut gelaunt aufspielende Staatsorchester Stuttgart gut im Griff und animierte es zu einem imposanten, sehr intensiven, teils recht dramatischen, teils auch ausgesprochen lyrisch (Waldweben) anmutenden Spiel, das sich obendrein durch große Spannung auszeichnete.

Ludwig Steinbach, 10.10.2022