Stuttgart: „Medea“

am 08.01.2018

Wie zu einer dritten Person spricht Medea zu sich selbst, bevor sie zur grausamsten Tat schreitet, zu der eine Mutter wohl nur in äusserster, beinahe übernatürlicher Erregung fähig ist, nämlich der Ermordung ihrer eigenen Kinder. So fragt sie sich denn auch: „Was ist? Ich bin Medea … Ist’s an dir, noch zu hör’n die Stimme der Natur? … Mein war das Verbrechen, und mein soll es bleiben!“ Nein, auf die Stimme der Natur hört keine und keiner mehr in dieser archaischen Tragödie – damals nicht und heute erst recht nicht. Dies zeigen uns der Regisseur Peter Konwitschny und seine konzeptionelle Mitarbeiterin Bettina Bartz im Bühnenbild und mit den Kostümen von Johannes Leiacker mit unter die Haut gehender Drastik. Die Tragödie nimmt ihren gnadenlosen Verlauf innerhalb einer dekadenten Gesellschaft, welche den Bezug zur Natur und zu natürlichen Gefühlen längst über Bord (im wahrsten Sinne des Wortes) geworfen hat. Zwar sehen wir zur Ouvertüre einen beinahe kitschigen Prospekt einer griechischen Strandlandschaft, mit Blick aufs Meer und ägäische Inseln. Nur ein Paar weisse Damenpumps stehen verloren auf einer Betonplatte, die unter dem Prospekt hervorragt. Ein Stück Plastikmüll liegt verloren am Strand. Doch sobald sich dieser Prospekt zur ersten Szene hebt, wird klar: Die Idylle war trügerisch. Zum Vorschein kommt eine verschmutzte Küche auf einer gewaltig in Schieflage geratenen Ebene, nach hinten begrenzt durch zwei Wände, rechts und links davon sind schon weitere Plastikmüllberge zu sehen. Wenn dann im dritten Akt diese Wände auch noch verschwinden, sieht man, dass diese Küche einem Floss ähnelt, das ziellos dem Abgrund zusteuert, einem Abgrund der menschlichen Psyche, in dem keine Werte mehr gelten, ein Desaster einer Gesellschaft, in der nur noch die Werte des Konsums und des billigen Vergnügens (Alkohol fliesst in Strömen) zählen, bar jeglicher humanistischer Gefühle oder Empathie. Dies alles hat Konwitschny innerhalb der doch recht begrenzten Spielfläche der Küche mit einer Kraft inszeniert, welche oft momentane Atemlosigkeit evoziert; die pausenlos gespielten drei Akte dieses Psychothrillers (die Oper verläuft – ähnlich wie ELEKTRA – praktisch in Echtzeit) reissen den Zuschauer wie eine gewaltige, beinahe orgiastische Woge in einen Strudel widersprechender Gefühle von Abscheu, Mitleid, Hass und eben auch Verständnis für Medea. Denn weder der Textdichter und schon gar nicht der Komponist Cherubini haben in der MEDEA Stellung bezogen, wer nun Opfer sei und wer Täter.

In Stuttgart hat man sich auf die kritische Neuausgabe der Originalfassung von Cherubinis MÉDÉE von Heiko Cullmann berufen, welche diese opéra comique in ihrer ursprünglich gedachten Fassung, das heisst mit gesprochenen Dialogen, wieder herstellte. Also nicht die romantisierende Fassung mit den von Franz Lachner komponierten Rezitativen, welche z.B. Maria Callas mehrfach interpretiert und eingespielt hatte. Dazu haben Bettina Bartz und Werner Hintze eine neue deutsche Textfassung erstellt und Peter Konwitschny hat die Dialogeinrichtung besorgt. Gut so, denn da die Vorgeschichte in der Oper im Stück kaum erzählt wird (nicht wie z.B. in Wagners RING DES NIBELUNGEN, wo alles vorher Passierte tausendfach wiederholt wird), ist es enorm wichtig, dass das Publikum das Gesagte und Gesungene versteht. Und das Ergebnis ist restlos überzeugend, die Dialoge wirken natürlich, kommen direkt an, werden von den Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet artikuliert. Dazu kommt natürlich die gestalterische Kraft der Personenführung des Regiemeisters Konwitschny – er fordert von den DarstellerInnen alles ab, und diese schonen sich keinen Augenblick. Die Aktion vollzieht sich mit einer plastischen Kraft und Authentizität der Situationen sondergleichen. Das beginnt bereits mit der Führung des Chors (mit herausragender Präsenz gesungen und gespielt vom Staatsopernchor Stuttgart, Einstudierung: Christoph Heil), vom Beginn mit den betrunkenen Freundinnen und Braujungfern Kreusas an, über den Auftritt der Asyl suchenden Argonauten Iasons, bis zum mit Schlagstöcken bewaffneten Mob, der die „Fremden“ (Medea, Neris) vertreiben will und am Ende alle Asylanten (also auch Iason) lyncht, da diese Fremden nur Unglück in das ach so feucht-fröhliche, äusserst ordinäre Treiben der Konsumgesellschaft auf dem Floss gebracht haben. Cherubini selbst hat ja das Ende der Oper zweimal abgeändert: Einmal versinkt Medea mit den Eumeniden in den Flammen, das Volk zieht Iason aus dem einstürzenden Tempel, das Meer türmt sich auf und füllt den ganzen Bühnenraum, sein zweites Ende war, dass sich Medea in einem von Drachen gezogenen Wagen in die Lüfte erhebt, während unten alle im Feuerschlund umkommen. Bei Konwitschny nun also der wütende Mob, der die Asylanten erdolcht am Strand entsorgt. Da kommen ganz gegenwärtige Bilder hoch … .

Relativ lange dauert es, bis die Titelfigur in der Oper auftritt (erst in Nr.5), doch was für ein effektvoller Auftritt ist das! Die Hochzeitsvorbereitungen zwischen Iason und Kreusa sind in vollem Gange, sinnlose Geschenke (Babysitz, Schwimmflossen, Senseo-Kaffeemaschine) werden ausgepackt, die Verpackungen achtlos an den Strand und ins Meer geworfen. Mehrfach klingelt es an der Tür, immer neue, grössere Geschenke werden hereingebracht, der Chorgesang immer wieder unterbrochen. Man ahnt es, beim letzten Klingeln steht Medea an der Tür. Die beiden Kinder Iasons und Medeas springen auf, rennen mit dem Ruf „Mama“ zur Tür. Und da steht sie, fremd in dieser Schicki-Micki Gesellschaft, die Aussenseiterin, die Fremde – Medea. In schäbigem Mantel, darunter ein langer, altmodischer Samt-Rock, das rötliche Haar zerzaust. Später wird sie ihr Kleid ausziehen, vergiften und es Kreusa als Hochzeitsgeschenk überbringen lassen. Von da an sieht sie mit dem weiss geschminkten Gesicht, den zerrissenen Strümpfen und den Springerstiefeln aus wie ein Gothic-Punk. Welch ein Gegensatz zu den in sexy bonbonfarbene Kleidchen gehüllten Damen Korinths. Iason und die Argonauten haben sich eben noch über die neuen Pässe gefreut, welche sie im Tauschhandel gegen das Goldene Vlies erhalten haben (der Koffer wird aber nie geöffnet, man weiss nur, dass er Macht enthält – Pässe gegen Geld kriegt man ja auf vielen Inseln, von Malta über Zypern bis in die Karibik). Nun herrscht Schockstarre, gezeigt werden in der Folge die Auseinandersetzungen (Szenen einer zerbrochenen Ehe) zwischen Medea und Iason am Küchentisch, das Betteln Medeas bei Kreon um Asyl (sie erhält einen Tag Aufschub bevor sie abgeschoben wird), was sie mit einem Blowjob verdankt. Ist sie nun ein Opfer sexuellen Missbrauchs oder setzt sie diese Mittel gezielt ein, um ihre Rache vollziehen zu können? Jedenfalls begnügt sie sich nicht mit #metoo oder einem schwarzen Abendkleid, nein, sie schreitet zur Tat, vergiftet Kreusa, stürzt den dämlichen, jähzornigen Popstar-Potentaten mit Sonnenbrille und Rüschenhemd (Kreon) ins Unglück und ermordet ihre beiden Knaben. Immerhin veranstaltet sie mit den beiden Kindern eine Art Indianerspiel, um sie abzulenken, fesselt sie und schneidet ihnen dann die Halsschlagader durch.

Cornelia Ptassek stattet diese vermeintlich kaltblütig und durchtrieben handelnde Frau, die aber sehr wohl zu Selbstzweifeln und echten Gefühlen fähig ist, mit einer unglaublichen Palette an darstellerischen Nuancen aus. Ein echtes Bühnentier, da stimmt jede stumme Regung, jede Geste, die Mimik immer abgestimmt auf den jeweiligen Partner, sie IST Medea mit jeder Faser ihres Körpers und ihres Gesichts. Selbst als die von den beiden Knaben errichtete Barrikade aus Tischen, Kühlschrank, Herd und Stühlen unvorhergesehen zusammenkracht und ihr während des Singens bestimmt schmerzhaft auf den Fuss fällt, verzieht sie keine Miene, bleibt in der Rolle. Eine Meisterleistung, zwei pausenlose Stunden lang durchgehalten. Auch stimmlich ist die Frau eine Wucht, interpretiert die Arien, das Melodram im dritten Akt und insbesondere die Duette mit Iason mit einfühlsamer gestalterischer Durchdringung der Rolle und dem Wühlen in den tief im Herzen sitzenden Gefühlen der Liebe, der Rache und des Hasses. Als Iason stellt Sebastian Kohlhepp eine ideale Figur für diesen Womanizer dar: Gross, schlank, blond, korrekt getrimmter Bart, schicke Kapitänsuniform. Sein sehr schön timbrierter, viriler Tenor passt ausgezeichnet für den nimmersatten, auf seinen eigenen Vorteil bedachten und doch schwächlichen Frauenheld. Einmal noch lassen die beiden im zweiten Akt ihr gegenseitiges Begehren aufleben, er nimmt sie auf dem Küchenboden – doch es ist kein Versöhnungssex, nur ein momentanes, rohes Aufflammen der gegenseitigen Gier. Kreusa wird mit tragfähiger, robuster Stimme von Josefin Feiler gesungen, einer Stimme, in welcher die Angst vor Medea, die Angst vor dem eigenen Versagen, die Angst vor einer Bindung an diesen Flegel Iason mitschwingt. Die weissen Damenpumps am Strand übrigens gehören zu ihrem Hochzeitskleid. Shigeo Ishino gibt den eingebildeten Potentaten Kreon mit sauber geführtem Bariton und vortrefflichem Spiel. Ein machtgeiler Unsympath durch und durch. Ergreifend gestaltet Maria Theresa Ullrich die Neris, die Freundin Medeas, die fast bis zum Ende zu ihr hält, sich gar vergewaltigen lässt (natürlich vom Priester), sich erniedrigt – um am Ende doch mit der Herrin zusammen unterzugehen. An die Nieren geht die kurze Szene nach der Vergewaltigung Neris‘ und dem Oralsex Medeas mit Kreon: Beide Frauen übergeben sich ins Spülbecken. Ein musikalischer Höhepunkt ist Neris‘ Arie (Nr.10 Ach, die Trauer bleibt uns gemeinsam) mit dem obligaten, klagenden Fagott. Donizetti muss diese Arie gekannt haben, als er Una furtiva lagrima komponierte … . Herrlich komödiantisch die beiden dauerbetrunkenen Brautjungfern Kreusas, dargestellt von Aoife Gibney und Fiorella Hincapié. Ein weiteres Beispiel dafür, welche Gedanken sich ein begnadeter Regisseur eben auch zu kleinsten Rollen machen kann und MUSS! Erwähnenswert auch die beiden Söhne von Iason und Medea, deren Rollen vom Regisseur enorm aufgewertet wurden, die quasi bis zu ihrem gewaltsamen Tod dauerpräsent sind: Ariles Slimani und Jasper Meyer-Eggen. Sie zeigen die typischen Merkmale von Scheidungskindern, mal aufmüpfig überbordend, dann wieder sich verängstigt unter dem Tisch oder in der Speisekammer versteckend. Sie kommen gar zu einer kurzen (von Cherubini nicht vorgesehenen Gesangseinlage).

Den hochklassigen, packenden Abend rundet das Staatsorchester Stuttgart unter der zupackenden, alle in die Zukunft weisenden Aspekte von Cherubinis exzeptioneller Partitur auskostenden und auslotenden Leitung von Alejo Pérez ab. Gerade die Ouvertüre und das Vorspiel zum dritten Akt mit dem Sturm (als Psychogramm der Seelenqualen) vermögen vom Sitz zu reissen.

Fazit: Nicht verpassen, ein durch und durch packendes und aufwühlendes Ereignis!

Kaspar Sannemann 10.1.2018

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