Berlin: „Idomeneo“, Wolfgang Amadeus Mozart

Eine der dümmsten Fragen überhaupt an ein Kunstwerk dürfte das „Hat uns das heute noch etwas zu sagen?“ sein, das Bekenntnis dazu, nur im eigenen Saft schmoren, nicht über den eigenen Tellerrand gucken zu wollen und alles, was war und nicht mehr ist, als wertlos anzusehen. An diesem Maßstab gemessen ist natürlich Mozarts opera seria Idomeneo nur noch für die Kulturmülltonne tauglich, es sei denn, man bürstet das Stück mitleidlos auf modern, und dann kann daraus durchaus noch ein heutiger Politkrimi werden wie einst die Inszenierung von Hans Neuenfels an der Deutschen Oper, in der neben anderen Religionsstiftern auch Mohamed geköpft, sein Haupt aufgespießt wurde. Das rief vor der Wiederaufnahme die Politik, die Racheakte von Islamisten befürchtete, auf den Plan, und Idomeneo wurde abgesetzt, provozierte eine endlose Diskussion um Vorsicht oder Feigheit und überschattete für einige Zeit die Intendanz der an Inszenierung wie Verbot völlig unschuldigen Kirsten Harms.

© Bernd Uhlig

Zurück zur Eingangsfrage und speziell zu Idomeneo. Der hat uns wie alle Stoffe aus der griechischen Antike sehr wohl etwas zu sagen, so wie damals wie heute eine Antigonae vor die Entscheidung gestellt werden kann, ob Staatsräson oder Geschwisterliebe siegen soll, wie Orest vor die Frage, ob man die Mutter töten darf, ja muss, um den Vater zu rächen, Ödipus, ob man unschuldig schuldig werden, seinem Schicksal entrinnen kann.

Zum Glück ist die Staatsoper Unter den Linden ein Opernhaus, das seinem Publikum die Fähigkeit zuspricht, die Überzeitlichkeit von Menschheitsfragen zu erkennen und das auch im historischen Gewand, so wie von Librettist und Komponist erdacht und den Horizont des willigen Zuschauers erweiternd, ihn um die Dimensionen einer vergangenen Zeit und eines entfernten Orts bereichernd, statt ihn im Hier und Heute schmoren zu lassen. So gibt es neben „modernen“ Inszenierungen auch immer wieder sogenannte „klassische“, zu welchen auch der von David McVicar inszenierte Idomeneo gehört. Kann denn eine Inszenierung heute noch ohne Videosequenzen, ohne zusätzliches Personal, ohne die Verlegung in die Jetztzeit, ohne Sex und Klassenkampf auskommen? Sie kann, wie der unwidersprochen gebliebene herzliche Beifall für die Produktion bewies, die am 19. März ihre Premiere feierte. 

Die Produktion kommt mit einem einzigen Bühnenbild, dem von Vicki Mortimer, aus, das im wesentlichen aus einem riesigen Totenkopf besteht, der sich heben und senken, um die eigene Achse drehen lässt und dann den Dreizack, Neptuns Waffe zeigt. Ockerfarben ist der Bodenbelag und beides trägt dazu bei, dass nicht ein klassisches Griechenland à la edle Einfalt und stille Größe gezeigt wird, sondern ein archaisches mit fast unerbittlichen Gottheiten. Zeitlos sind die Kostüme von Gabrielle Dalton, fast ausschließlich in Schwarz und Weiß gehalten, merkwürdig muten die wie japanische Geishas trippelnden Dienerinnen an. In strengem Zeremoniell bewegen sich Chor und Tänzer, geleitet von der Choreographie von Cohn Seery. Manchmal wartet man angstvoll darauf, dass eine grelle Lache höhnisch ertönt, so wenn es Rosenblätter auf Ilia regnet, aber nichts dergleichen, das Publikum verharrt mucksmäuschenstill, wenn nicht sogar andächtig.

Die Titelpartie wird von Andrew Staples mit einem Koloraturgeläufigkeit abliefernden, aber nicht mit besonders schönem Timbre gesegneten Tenor gesungen. Darstellerisch kann er die verzweifelte Lage des Königs von Kreta eindrucksvoll vermitteln. Eine schöne Jugendlichkeit ausstrahlende Farbe hat die Stimme von Linard Vrielink, der die in höchste Höhen aufsteigende Tenorpartie des Arbace mit einem eindringlichen Falsetton ausstatten kann. Jan Martiniks Bass verleiht der göttlichen Stimme die notwendige dunkle Autorität. Florian Hoffmann ist der Oberpriester des Neptun.    

© Bernd Uhlig

Eine Starbesetzung hat man für die drei Frauenrollen aufbieten können. Mit zartem, meistens innig, auch ab und zu etwas säuerlich klingendem Sopran ist Anna Prohaska die trojanische Königstochter Ilia, der sie eine auch optisch überzeugende Anmut verleiht. Olga Peretyatko ist die herrische Elettra, die ihren ganz großen Auftritt erst am Schluss mit ihrer fulminanten Arie hat, in der sie alle Facetten ihrer wunderbar timbrierten, so kraftvollen wie geschmeidigen Sopranstimme entfalten kann. Was für ein Zufall, dass am gleichen Abend die Strauss’sche Elektra an der Deutschen Oper ihren Rachegedanken nachhing. Wärme und Glanz bietet der Mezzosopran von Magdalena Kožená für den Idamante an, kann funkeln und strömen, dass dem Hörer auch eine fast vier Stunden dauernde Vorstellung nicht zu lang wird. 

Das liegt natürlich auch und ganz besonders am Wirken von Simon Rattle im Orchestergraben, der den Instrumentalisten einen festlich klingenden, nie abgemagert erscheinenden Mozartklang entlockt, straff und geschmeidig zugleich und die Sänger auf Händen tragend. Am Ende war der Beifall für alle Mitwirkenden riesengroß. Eigentlich sollte diese Premiere bereits vor drei Jahren stattfinden. Das coronabedingte Warten darauf hat sich gelohnt.   

Ingrid Wanja, 20. März 2023


Wolfgang Amadeus Mozart: „Idomeneo“

Staatsoper Berlin

Premiere am 19. März 2023

Inszenierung: David McVicar

Bühnenbild: Vicki Mortimer

Kostüme: Gabrielle Dalton

Musikalische Leitung: Simon Rattle

Orchester der Staatsoper