Berlin: „La damnation de Faust“

27.5.2017

Dämliche Idee perfekt umgesetzt

Mit einem lauten Knall und einem Feuerleuchten im abgedunkelten Saal fängt es an: sehr passend in Zeiten allgemeiner Terrorangst. Dann tritt Méphistophélés auf und verkündet in mäßigem Französisch (das gesungene ist besser) sein Vorhaben, das an diesem Abend ein vom durch Goethe, aber auch Gounod oder Boito bestens bekannten Abenteuer mit Faust erheblich abweichen wird, denn nichts weniger als der Niedergang des deutschen Geistes seit der Zeit der Romantik soll sich in gut zwei Stunden vollziehen und führt zu einer ungenießbaren Verknüpfung von jüngerer deutscher Geschichte mit dem hochkatholischen Gedanken von Erlösung, die Berlioz nicht durch das „wer immer strebend sich bemüht“ oder das „ewig Weibliche“ garantiert sieht, sondern durch die göttliche Gnade, die aber Faust nicht zuteil wird.

Seit kurzem ist es in der Staatsoper üblich geworden, die Interpretation durch die Regie als „Inhalt“ mitzuteilen, ja, man greift sogar in das Libretto ein, wenn man als Übertitel liest: „Sie wurde wegen ihres Glaubens“ verhaftet.

Längst abgehakt glaubte man in deutschen Theatern das Erscheinen von SS und SA in Massen, von Hakenkreuzen und Judensternen sei es in Fidelio oder Aida, nun tischt uns Terry Gilliam, amerikanisches Mitglied von „Monty Python’s Flying Circus“, das alles wieder in unschöner Vollständigkeit auf und bekam dafür an der English National Opera viel Beifall, wird ihn vielleicht auch noch in Palermo und Antwerpen genießen können, wurde aber beim Schlussapplaus im Schillertheater von einem für das Staatsoper-Premierenpublikum ungewöhnlich starken Buh-Geschrei empfangen. Da werden alle Klischees, die jemals moderne Regie zu welchem Stück auch immer auf die Bühne gebracht hat, wieder aus der Mottenkiste geholt: der beim Pogrom ebenso wie die Schupos wegguckende Priester, der SA-Mann, der das jüdische Kind verhöhnt, indem er ihm einen Vogel als Spielzeug faltet, der blutbefleckte Arzt, die Lederhose, die Verbindung von „Amen“ und Hakenkreuz, die Kommunisten, die erschossen werden, nachdem sie Rosa Luxemburg (aber die war längst tot) zugehört haben, und am Schluss greift Faust dann noch, wenn auch aus anderen Gründen als einst die Nazis, zur Bücherverbrennung.

Und, wenn auch nur von hinten zu sehen, erscheint der „Führer“ persönlich und schaut von dem Felsen, den einst Faust als Refugium aufsuchte, sinnend ins Tal hinunter, selbst Bomber mit aus ihnen fallendem Sprenggut fehlen nicht und Videos aus dem Ersten Weltkrieg ebenso wenig wie zuvor schon die Herrscher Europas, die unter sich eine Torte, die Landkarte Europas, aufteilen wollen. Schließlich werden wir dankenswerterweise endlich darüber aufgeklärt, dass die Olympischen Spiele 1936 nur eine Vorbereitung zum Krieg waren. Was das alles mit Berlioz‘ dramatischer Legende zu tun hat? Zumindest sorgt es dafür, dass die Musik in den Hintergrund gedrängt oder zumindest in ihrer Wirkung verfälscht wird. Mehr noch als bei Berlioz selbst wirkt nun die Apotheose Marguerites wie „angeklebt“ an das Stück.

Hildegard Bechtler ist für eine so aufwändige wie teilweise ästhetisch reizvolle Bühne verantwortlich, die zunächst an Caspar David Friedrich erinnert, die Enge, aber auch Geborgenheit der Studierstube verdeutlicht und das Grauen des Schlachtfeldes mit viel gütigem Trockeneiseinsatz.

Zwischen vielen phantasievollen Kostümen wechselt dank Katrina Lindsay der Teufel im Verlauf des Abends, in schlichtes Blau gekleidet ist Marguerite, wie aus einem Spitzweg-Gemälde entsprungen zeigt sich Faust mit roter Tolle und dazu bebrillt und in Knickerbockern und so ungeschickt in der Liebesnacht, dass man kaum versteht, warum Marguerite ihm nachtrauert. Oder meinte sie gar den forschen SA-Mann auf dem Plakat vor ihrem Fenster?

Simon Rattle, der das Stück bereits 2015 in der Philharmonie aufführte, damals ebenfalls mit Charles Castronovo in der Titelpartie, aber mit Joyce Di Donato als Marguerite und mit Florian Boesch als Brandner, ließ es im Orchestergraben irrlichtern, flirren, zaubern, aber auch machtvoll die Höllenfahrt vollziehen und die Ungarn straff marschieren, ohne je in Gefahr zu geraten, die Bühne zuzudecken.

Der amerikanische Tenor ertrug tapfer seine Verunstaltung, sang schlank und sensibel mit dunkel grundiertem Tenor, der die Extremhöhen im Falsettone erklomm. Die Karriereleiter seit 2015 emporgestiegen ist Florian Boesch, der nun den Méphistophélés bravourös spielte und charaktervoll sang. Ungewohnt silbenverschluckend und wie unter Atemnot gab Jan Martiník den Brandner. Magdalena Kožená war eine zutiefst berührende Marguerite trotz des albernen Spiels mit der blonden Zopfperücke durch ihren beseelten, geschmeidigen und in warmen Farben aufblühenden Gesang. Zu Recht ganz besonders herzlichen und anhaltenden Beifall erhielt der Chor unter Martin Wright. Schade, dass sich so viel akustischer Glanz an eine unmögliche Optik vergeudet.

Fotos Matthias Baus

28.5.2017 Ingrid Wanja