Berlin: „Manon Lescaut“

Premiere am 4.12.2016

Trinkwassernotstand in Hollywood

Wer ist schuld an Manons (Lescaut) Tod? Na klar, die Wallstreet, wieder einmal, wie die endlosen Filmaufnahmen davon, dazu die vieler Arbeits- und Obdachloser zur Reise nach Le Havre vor dem vierten (!) Akt von Puccinis Oper beweisen. Denn ihretwegen musste auch das Filmstudio schließen, in dem Manon als Geliebte des Produzenten Geronte einst arbeitete, das Wasserwerk stellte den Zahlungsunfähigen das rettende Nass ab, und nicht nur Manon starb, sondern mit ihr auch Des Grieux, was die lange vom Zuschauer gehegte Meinung, der in den Kulissen umhertapernde Greis mit Fluchtkoffer sei der Abbé, der noch einmal an die Stätten des Liebens und Leidens zurückgekehrt sei, als irrig erwies. Vielleicht war es auch la morte stessa, wer weiß?!

Was würde man wohl von einem Librettisten halten, der ein Liebespaar in einer Kutsche von Hollywood nach Paris fahren, eine Dame in der Erinnerung von leidenschaftlichen Küssen schwärmen lässt, die nie stattgefunden haben, weil Manon bereits am Schluss des ersten Akts in die Arme von Geronte sinkt, der in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts junge Mädchen deportieren, sie aber nur von A nach A bringen lässt, denn der Schauplatz bleibt mit dem Filmstudio (Bühne George Tsypin) stets derselbe. Eine neue Dreistigkeit ist es, die Inhaltsangabe – und das gleich doppelt- nicht libretto-, sondern regiegetreu im Programmheft wiederzugeben, was einige Verwirrung auslösen dürfte, da die deutsche Übersetzung buchstäblich als Übertitel läuft. Und was muss man von einem Regisseur halten, der immer noch nicht auf Trenchcoats und Fluchtgepäck, auf ins Publikum gerichtete Scheinwerfer, auf völlig unmotivierte papieraufwirbelnde Stürme und Regengüsse, außerdem noch unendlich viele Kussszenen aus alten Filmen über Videowände huschen, Des Grieux jedoch mit Fluppe und Kaffeebecher zum Wiedersehen mit Manon kommen lässt. So viel Jürgen Flimm sich auch an Überflüssigem und zum Werk Kontrastierenden einfallen lässt, so wenig kam ihm für die Personenregie in den Sinn, und wenn doch etwas, dann das Falsche. Welcher Regisseur lässt schon zu „Guardate“ eine rührende und damit ablenkende Szene mit verängstigten Kindern spielen, wer Schattenrisse unbestimmter Art zu „Oh tentatrice“ über die Leinwand (Robert Pflanz) wabern, verschenkt die Auftritte der Protagonisten, die dann auf einmal einfach „da“ sind?

Da hätte der Intendant Flimm ein Machtwort gegenüber dem Regisseur Flimm sprechen müssen, statt sich zur Begründung seiner Einfälle auf Beckett zu berufen, wie in einem Interview zu lesen, und dem staunenden Leser die Erkenntnis mitzuteilen: „Betrachtet man die Oper vom Ende her, wird die enorme Bedeutung des Werkes sichtbar!“

Unter einer solchen „Regie“ leiden nicht nur die Zuschauer, sondern noch mehr die Sänger. Wann erlebt man es schon, dass es keinerlei Szenenbeifall gibt, weder für „Donna non vidi mai“, noch für „In queste trine morbide“. Zwar schien der Tenor Riccardo Massi auch durch sein fast durchweg unvorteilhaftes Kostüm (Ursula Kudrna) gehandicapt zu sein, mehr wohl aber durch die Gesamtkonzeption, denn die Stimme klang belegt, streckenweise weinerlich und erst im letzten Akt konnte man ansatzweise hören, welche Qualitäten in ihr stecken. Vokalverfärbungen störten nicht nicht nur bei ihm, sondern auch bei seiner Partnerin Anna Nechaeva, die nicht über eine solide Leistung, bei der einige Schärfen in der Höhe störten, hinauskam, die zwar hübsch aussah, aber nichts von einer „donna non vidi mai“ vermitteln konnte. Zu besonders agogikreichem Singen feiner Finessen animierte allerdings auch nicht das grobe, zu laute, zu wenig differenzierende Dirigieren von Mikhail Tatarnikov.

So fehlte es bereits dem Beginn an Duftigkeit, an Charme, an Eleganz, die die Musik hier auszeichnen, und das zusätzliche Orchesterspiel vor dem zweiten Akt war auch kein Gewinn für den Abend. Eine krasse Fehlbesetzung stellte der Lescaut von Roman Trekel, sonst ein hoch geschätzter Sänger dar, dem einfach Italianità und Farbe in der Stimme abging, dar. Auch der Geronte von Franz Hawlata war zu grau von Stimme und Gehabe her. Nie enttäuscht Stephan Rügamer, der einen wendigen Edmondo gab und etwas von der Atmosphäre des ersten Akt vermitteln konnte, für die auch der Chor hätte sorgen müssen, was jedoch zunächst nicht gelingen mochte. Einen warmen, runden Mezzo hatte Natalia Skrycka für den Musico, hier Anführerin einer albernen Girl-Truppe, die im Glitzerlook die Beine warf.

Jürgen Flimm rühmt sich des Erfolgs, den seine Inszenierung in Petersburg hatte. Lag das allein an der Wallstreet-Verunglimpfung oder etwa daran, dass man das Werk dort nicht so gut kennt?

Fotos (c) StOp / Matthias Baus

5.12.2016 Ingrid Wanja